Der wachsende Nutzen in der Medizin: Was erhält die Bevölkerung für die Gesundheitskosten?

Der Nutzen der Entwicklungsfördernden Pflege für Frühgeborene

FMH
Ausgabe
2017/50
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.06282
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(50):1672–1673

Affiliations
Hôpitaux Universitaires Genève

Publiziert am 12.12.2017

«Meine Tochter ist in der 24. Woche zur Welt gekommen, und ich war so von Ängsten erfüllt, dass ich sie kaum sehen wollte. Ich fühlte mich hilflos und machtlos. Tag für Tag half das Klinikpersonal ihr dabei, zu leben und sich zu entwickeln. Durch diese Betreuung konnten wir lernen, unsere Tochter zu beobachten, ihre Bedürfnisse zu erkennen und darauf zu reagieren. Dadurch habe ich Vertrauen gewonnen. So konnten wir unsere Rolle als Eltern annehmen. Danke.»

Das Frühgeborene – ein Kind
mit ­erhöhten Risiken und besonderen ­Bedürfnissen!

In den letzten Jahrzehnten konnte durch eine bessere perinatale Intensivbehandlung die Überlebensrate von Neugeborenen und Frühgeborenen erhöht werden [1]1. In der Schweiz kommen 7,5 Prozent der Lebend­ge­bo­re­nen zu früh zur Welt [2]. Weil bei Frühgeborenen frühe Prozesse der Gehirnentwicklung gestört werden können [3, 4], weisen diese Kinder ein erhöhtes ­Risiko für neurologische Fehlentwicklungen auf, die sich in motorischen Störungen, kognitiven und sprachlichen Schwierigkeiten oder Verhaltens- und Aufmerksamkeitsproblemen äussern können. Diese Schwierigkeiten können sich wiederum auf die Schul­laufbahn und die Ausbildung der frühgeborenen Kinder und ihre Zukunftsaussichten im Erwachsenenalter auswirken [5–7].
Im Vergleich zur Zeit in der Gebärmutter sind Frühgeborene über Wochen hinweg intensiven Sinnesreizen ausgesetzt: durch Geräte, Schmerzen, Mobilisierung, auditive und visuelle Reize. Diese Kinder, die häufig unter medizinischen Komplikationen leiden, sind oft empfindlicher und sensibler. Zudem sind ihre Verhaltenssignale unklar und von den Menschen, die sie betreuen, schwierig zu interpretieren. Die Geburt eines solch verletzlichen Kindes setzt auch die Familie häufig unter erheblichen Stress, was die Eltern-Kind-Bindung erschweren kann. Angesichts der wachsenden Bedeutung der Lebensqualität gegenüber dem reinen Überleben erarbeitete die Neonatologie pluridisziplinäre Massnahmen zur Prävention bzw. frühzeitigen Intervention, die als Entwicklungsfördernde Pflege (EFP) zusammengefasst werden.

Wie lässt sich das Klinikumfeld an die sensorischen und affektiven Bedürfnisse von Frühgeborenen anpassen?

Um eine hochwertige Versorgung zu gewährleisten, muss die EFP in die perinatale Intensivbehandlung eingebunden werden. 2007 zeigte ein Literaturreview die Massnahmen auf, die angewendet werden sollten, um die Entwicklung von stationär in neonatologischen Abteilungen behandelten Frühgeborenen zu unterstützen [8]. Parallel dazu bieten sich mehrere Ansätze an, um die Entwicklung frühgeborener Kinder zu fördern. Modellhaft sind dabei das Programm NIDCAP [9] und die Arbeit nach dem Konzept der sensorisch-tonischen Regulierung [10, 11].
Die Entwicklungsfördernde Pflege (EFP) beschreibt die Gesamtheit an verhaltens- und umfeldbezogenen Strategien, durch welche die Stressbelastung des Frühgeborenen gemindert und die Entwicklung seiner Fähigkeiten gefördert werden sollen. Ziel ist dabei, die Wachzeiten und den Rhythmus des Kindes zu respektieren, die sensorischen Reize anzupassen und das Umfeld in der neonatologischen Intensivpflege durch die Kontrolle von Lärm und Licht sowie von taktilen, vestibulären, gustativen und olfaktorischen Reizen weniger belastend zu gestalten. Dies schliesst ein, Schmerzen zu verhindern und zu behandeln, den Schlaf zu schützen und auch durch weitere Massnahmen das Wohlbefinden zu begünstigen: Dazu gehören nahrungsunabhängiges Saugen, Haltungsstützen, welche die spontane Beweglichkeit fördern, und das Fördern von Hautkontakt [12, 13].
Bei einer Frühgeburt leidet die Eltern-Kind-Beziehung häufig aufgrund der Trennung von dem Neugeborenen, der lebensbedrohlichen Risiken, möglicher Komplikationen und der Tatsache, dass das Kind nicht so ist, wie man es sich vorgestellt hat [14–16]. Um das menschliche Umfeld des Babys entwicklungsförderlich zu gestalten, ist es wichtig, dass die Eltern rund um die Uhr Zugang zu ihrem Kind haben, dass sie an der Pflege teilhaben, dass das Stillen gefördert wird und dass ein direkter Körperkontakt möglich ist. Unter­suchungen zeigen, dass die Präsenz der Eltern und die Entwicklungsfördernde Pflege (EFP) kurz-, mittel- und langfristig positive Auswirkungen haben. Dank der Neuroplastizität, die ein besonderes Privileg des sich entwickelnden Gehirns und dabei wiederum insbesondere des Frühgeborenen darstellt, können solche frühen Interventionen Entwicklung und Funktion des unreifen Gehirns beeinflussen und das Auftreten von Störungen in den Bereichen Motorik, Kognition und Verhalten minimieren.

Das Ergebnis: bessere zerebrale Aktivität, bessere Fähigkeiten

Mehrere Studien haben gezeigt, dass die auf das Kind und seine Familie fokussierenden EFP-Strategien beim Frühgeborenen die Dauer von Beatmung und Spitalaufenthalt verkürzen und die Prognose bezüglich neurologisch bedingter Verhaltensstörungen verbessern [17–19]. Der direkte Hautkontakt, der die physische Beziehung zwischen Eltern und Kind gewährleistet, fördert das Gefühl der Geborgenheit und geht mit einer besseren zerebralen Aktivität und Reifung bei den Baby­s einher [20]. Kinder, die in der Neonatalperiode Entwicklungsfördernde Pflege (EFP) erhielten, zeigten im Alter von acht Jahren eine bessere Planungs- und Merkfähigkeit sowie bessere Leistungen beim Verarbeiten gleichzeitig eintreffender Informationen [21].
Angesichts ihres entscheidenden Einflusses auf die Entwicklung und die affektiven, emotionalen, sozialen und kognitiven Kompetenzen gewinnt die EFP im Bereich der präventiven Pflege stark an Bedeutung. Ihre Anwendung ab der Geburt trägt dazu bei, Krankheiten zu verhindern, die kurz- wie längerfristig teure Behandlungen nach sich ziehen könnten. Dass die Eltern dabei begleitet werden, ihr Kind unterstützen zu lernen und Verantwortung zu übernehmen, ermöglicht zudem kürzere Spitalaufenthalte.
Die Anwendung Entwicklungsfördernder Pflege (EFP) erfordert den Erwerb spezifischer Fachkenntnisse und Kompetenzen. Aufwendungen für spezielle technische Einrichtungen, Behandlungen oder Medikamente fallen jedoch nicht an. Die einzigen Kosten entstehen durch die Schulung des Personals.
Die EFP endet nicht beim Verlassen der neonatologischen Station, sondern sollte deutlich darüber hinaus fortgeführt werden, wenn die pädiatrischen Vorsorgeuntersuchungen entsprechende Schwierigkeiten und Bedürfnisse feststellen. Diese medizinische Betreuung leistet einen wichtigen Beitrag zu einer optimalen präventiven Behandlung und zur Kostendämpfung in unserem Gesundheitssystem.

Zusammenfassung

Durch eine verbesserte perinatale Versorgung ist die Überlebensrate von Frühgeborenen deutlich gestiegen. Gleichzeitig weisen diese Kinder ein erhöhtes ­Risiko für neurologische Fehlentwicklungen auf. Es hat sich gezeigt, dass das Umfeld erhebliche Auswirkungen auf die sensomotorische Entwicklung und das Verhalten des Kindes hat, insbesondere in der Neonatal­periode, wenn das in Entwicklung befindliche Gehirn sehr rezeptiv aber auch sehr verletzlich ist. Das Konzept der Entwicklungsfördernden Pflege (EFP) ist ein multidisziplinärer, individuell angepasster Ansatz, bei dem versucht wird, die intensiven Sinnesreize durch das Klinikumfeld zu mini­mieren und das Wohlbefinden des Neugeborenen zu fördern. Dieser Ansatz erlaubt auch den Eltern, die wichtigsten Partner bei der Betreuung ihres Kindes zu werden. Sie lernen, ihr Kind besser zu verstehen, und können ihre elterlichen Kompetenzen weiter ausbauen. Die EFP verbessert die Entwicklung der Kinder und trägt dazu bei, Gesundheits- und Entwicklungsschwierigkeitenzu verhindern, die kurz- wie längerfristig teure Behandlungen nach sich ziehen könnten. Die Entwicklungsfördernde Pflege ist Bestandteil einer präventiven Behandlung, dank der sich die Mehrzahl dieser vulnerablen Kinder harmonisch entwickeln kann.
Myrtha Martinet-Sutter
Chemin du Pressoir 6B
CH-1294 Genthod
myrtha.martinet[at]bluewin.ch
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