Der wachsende Nutzen in der Medizin: Was erhält die Bevölkerung für die Gesundheitskosten?

Fortschritte bei der Diagnose und Therapie von Demenzerkrankungen

FMH
Ausgabe
2020/1920
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18882
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(1920):615-617

Affiliations
a Neurologische Klinik, Spitalzentrum Biel; b Neurologie und Stroke Center, Klinik Hirslanden, Zürich und Neurologie/Neurorehabilitation, Universitäre Alters­medizin Felix Platter, Universität Basel; c Neurologie, Kantonsspital und Universität Fribourg; d Klinik für Neurologie, Kantonsspital St. Gallen;
e Leenaards Memory Centre, CHUV Lausanne

Publiziert am 06.05.2020

Bessere Lebensumstände und eine wirksamere medizinische Versorgung führen dazu, dass immer mehr Menschen ein hohes Alter erreichen. Parallel dazu nimmt die Zahl neurodegenerativer Erkrankungen zu. Neue Erkenntnisse zur Prävention, die Frühdiagnose über Biomarker sowie krankheitsmodifizierende Therapien am Horizont bieten Perspektiven, dieser gesellschaftlichen Herausforderung mit hohen Qualitätsstandards und mit der bestmöglichen Kosteneffizienz zu begegnen.
Seit 1950 hat sich der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung in der Schweiz verdoppelt. Bessere Lebensumstände und eine wirksamere medizinische Versorgung führten dazu, dass die Zahl neuro­degenerativer und neurovaskulärer Erkrankungen des Gehirns altersbedingt sehr stark zunahm. Neurodegenerative ­Erkrankungen zeigen zu Beginn, im sogenannten Prodromalstadium, unterschiedliche und zum Teil auch unspezifische Symptome und stellen damit besondere diagnostische Herausforderungen dar. Häufig treten Veränderungen der Motivation und Stimmungslage, Konzentrationsstörungen oder eine verschlechterte Schlafqualität auf, welche dann als psychoreaktiv fehlinterpretiert werden.
Die Alzheimer-Erkrankung ist die mit Abstand häufigste neurodegenerative Erkrankung. Sie entwickelt sich präklinisch, d.h. ohne Symptome, über einen Zeitraum von 10 bis 15 Jahren. Dann führt sie zu leichten kognitiven Einschränkungen, meist in Form einer nachlassenden Merkfähigkeit, und nachfolgend, innert 3–5 Jahren, zu einem Verlust der kognitiven Unabhängigkeit. Das Demenzstadium der Alzheimer-Krankheit dauert ca. 8–10 Jahre. Während dieser Zeit sind Angehörige oder Betreuende massiv gefordert. Dies gilt genauso für andere neurodegenerative Demenzen wie z.B. die frontotemporale Demenz oder die Lewy-Körper-Erkrankung. Das frühzeitige Erkennen der zugrundeliegenden Pathologie ist wichtig für die Beratung und die Steuerung von Therapien. Es erfordert zugleich viel Erfahrung in der Deutung spezi­fischer, oft subtiler neurologischer Symptome. Eine fachärztlich-neurologische Untersuchung ist zentraler Bestandteil der Abklärungen, gerade bei präsenilen Demenzerkrankungen oder bei weiteren neurologischen Begleitsymptomen, z.B. motorischen Störungen.

Präventive Massnahmen sind wirksam

Neurovaskuläre Erkrankungen sind die zweithäufigste Ursache für eine Demenz. Neben Blutungen und Verschlüssen von Blutgefässen (ischämischen Infarkten) kann insbesondere die cerebrale Mikroangiopathie ­kognitive Funktionen beeinträchtigen und eine neurodegenerative Entwicklung aggravieren. Viele Demenz­erkrankungen haben eine gemischte, vaskuläre und neurodegenerative Ursache. Epidemiologisch wird davon ausgegangen, dass bis zu ein Drittel der Fälle durch präventive Massnahmen verhindert werden kann [1]. Im Vordergrund stehen hierbei die gezielte Behandlung cerebrovaskulärer Risikofaktoren wie v.a. Bluthochdruck und Diabetes, die Psychoedukation für ein verbessertes Gesundheitsbewusstsein und die Förderung sportlicher, kognitiver und sozialer Aktivitäten. Der möglichst frühen Diagnostik und Behandlung neurovaskulärer Erkrankungen und individueller Risikofaktoren kommt dabei eine bedeutende Rolle zu.

Demenzerkrankungen – eine gesellschaftliche Herausforderung

Im Zuge der steigenden Lebenserwartung und der Verschiebung der Alterspyramide wird sich die Zahl der Demenzkranken in der Schweiz gemäss einer Schätzung der Alzheimervereinigung von ca. 100 000 im Jahr 2007 auf über 300 000 im Jahr 2050 verdrei­fachen. Neue epidemiologische Studien zeigen eine Abschwächung dieses Trends: Vor allem bei Hochbetagten wird eine Stagnation oder sogar Abnahme der Demenzprävalenz und -inzidenz beobachtet [2]. Vermutet wird, dass verbesserte Lebensbedingungen und Fortschritte in der medizinischen Behandlung sowie die erfolg­reiche Umsetzung präventiver Massnahmen das Demenzrisiko senken.

Engagement und breit abgestützte ­Zusammenarbeit für die nationale ­Strategie

Demenzerkrankungen finden in den Medien mittlerweile ein grosses Echo, werden gesellschaftlich breit diskutiert und damit auch enttabuisiert. Im Jahr 2014 wurde von Bund und Kantonen die Nationale Demenzstrategie lanciert [4]. Deren Ziel ist es, Betroffene und Angehörige zu unterstützen und ihre Lebensqualität zu erhalten. Das Wissen um die Krankheit soll gefördert, das Versorgungsangebot untersucht und die Finanzierung ambulanter Angebote überprüft werden. Da nur etwa die Hälfte der Menschen mit Demenz­erkrankung über eine ärztliche Diagnose verfügten, schlug man vor, ein Netzwerk von Kompetenzzentren aufzubauen, welches die Qualität der Diagnostik bei allen Leistungserbringern verbessern soll. Memory Clinics nehmen in diesem Prozess eine zentrale Rolle ein, indem sie ihre Expertise weiterentwickeln und mit Fachpersonen im Gesundheitswesen auf verschiedenen Ebenen zusammenarbeiten. Unter Federführung des Vereins Swiss Memory Clinics [5] wurden Qualitätsstandards für Demenzabklärungen in interdisziplinären Arbeitsgruppen entwickelt. Diese sind seit 2018 auf der Homepage des Vereins aufgeschaltet und und in einem Konsensuspapier veröffentlicht [6]. Hervorzuheben ist, dass die gesamte Umsetzung der Natio­nalen Demenzstrategie ohne Budget erfolgte und nur dank eines freiwilligen Engagements einer grossen Zahl von Fachpersonen möglich war.

Kostengünstige Prävention, Frühdia­gnose und leitliniengerechte Behandlung verringern teure Folgekosten

Volkswirtschaftliche Kosten entstehen vor allem durch die Betreuung der Demenzkranken, sei es im Pflegeheim oder zu Hause. Eine Studie der Alzheimervereinigung Schweiz im Jahr 2010 berechnete den Gesamtbetrag auf 9,3 Milliarden [3]. Dies entspricht etwa 96% der Gesamtkosten. Demgegenüber erscheinen die von den Krankenkassen übernommenen Kosten für hausärztliche Behandlung (0,4%), Abklärungen in ­Memory Clinics (0,2%) und Medikamente (0,4%) verschwindend gering.
Die Diagnostik und die medizinische Behandlung von Demenzerkrankungen tragen nur unwesentlich zu den volkswirtschaftlichen Kosten dieser Erkrankung bei. Eine frühzeitige fachärztliche Abklärung an spe­zialisierten Zentren kann sogar Kosten reduzieren, indem die verfügbaren Angebote zielgerichtet eingesetzt und unnötige Massnahmen verhindert werden. Die Erkennung und Behandlung von cerebrovaskulären Risikofaktoren mit Medikamenten und Life-Style-Massnahmen spielen in der Prävention eine entscheidende Rolle und vermindern die Zahl teurer kardio- und cerebrovaskulärer Komplikationen, senken das Demenz­risiko und fördern bei den bereits Betroffenen einen günstigen Krankheitsverlauf.

Heutige und zukünftige Therapien

Mit Medikamenten können bisher nur Symptome der Demenz behandelt werden, wobei es durch den Einsatz von Generika zu einer bedeutenden Kostensenkung gekommen ist. Psychoedukative Massnahmen helfen den Betreuenden, besser mit den Auswirkungen der Erkrankung umzugehen und einer Überforderung des Betreuungsnetzwerkes vorzubeugen. Hierdurch wird die Zahl der Hospitalisationen bei sogenannten Pflegenotfällen reduziert. Der Miteinbezug des sozialen Umfeldes und die gelungene Zusammenarbeit von Spezialisten und Hausärzten bergen ein grosses Potential, die Kosten für Behandlung und Betreuung zu reduzieren. Neben der individuell zu definierenden symptomatischen medikamentösen Behandlung sind multimodale Therapie- bzw. Präventionsansätze zu empfehlen, bestehend aus Lebensstilmassnahmen, Aktivierung und Einstellung vaskulärer Grunderkrankungen [7].
In den letzten Jahren zeigten einige gegen das Alzheimer-Protein Amyloid gerichtete klinische Studien keine Wirksamkeit bezüglich des kognitiven Abbaus. Aktuelle Studienergebnisse geben vorsichtige Hinweise auf einen erstmalig nachweisbaren, die Kognition stabilisierenden Effekt [8].

Fazit

Der medizinische Fortschritt im Demenzbereich wurde in den letzten Jahren nahezu ohne zusätzliche finanzielle Belastung des Gesundheitssystems durch grosses Engagement von Fachpersonen erzielt. Die Neurologie in der Schweiz unterstützt auf allen Ebenen die Entwicklung einer präziseren Diagnostik und eines nachhaltigen, am Patienten und seinen Angehörigen orientierten therapeutischen Angebots. Universitäre Grundlagenforschung, Innovation und klinisch-­neurologische Praxis stehen im Austausch. Sie werden ­eines Tages, ähnlich der Multiplen Sklerose, zu einer krankheitsmodifizierenden Behandlung führen, welche den Erhalt der kognitiven Unabhängigkeit im Alter ermöglicht.
Die Neurologie in der Schweiz fördert den wissenschaftlichen Fortschritt auf dem Gebiet der neurodegenerativen und cerebrovaskulären Erkrankungen. Sie ist bereit, bei der Etablierung von Qualitätsstandards in der Diagnostik und Behandlung auf allen Ebenen, von der Praxis des niedergelassenen Kollegen, über Memory Clinics bis zu den universitären Zentren, eine Schlüsselrolle zu übernehmen.
Office Schweizerische Neurologische Gesellschaft SNG
c/o IMK Institut für Medizin
und Kommunikation AG
Münsterberg 1
CH-4001 Basel
Tel. 61 561 53 53
swissneuro[at]imk.ch
1 Norton S, Matthews FE, Barnes DE, Yaffe K, Brayne C. Potential for primary prevention of Alzheimer’s disease: an analysis of population-based data. Lancet Neurology. 2014;13:788–94.
2 Wu YT, Beiser AS, Breteler MMB, Fratiglioni L, Helmer C, Hendrie HC, et al. The changing prevalence and incidence of dementia over time – current evidence. Nature Reviews Neurology. 2017;13:327–39.
6 Die Empfehlungen der Swiss Memory Clinics für die Diagnostik der Demenzerkrankungen. Praxis. 2018;107(8):435–51.
7 Ngandu T, Lehtisalo J, Solomon A, Levälahti E, Ahtiluoto S, Antikainen R, et al. A 2 year multidomain intervention of diet, exercise, cognitive training, and vascular risk monitoring versus control to prevent cognitive decline in at-risk elderly people (FINGER): a randomised controlled trial. Lancet. 2015;385(9984):2255–63.
8 Biogen: Aducanumab-Pressemitteilung, 2019 Oct 22; https://www.ctad-alzheimer.com/aducanumab-phase-3-studies-results