Welches sind die wichtigsten Herausforderungen für die FMH?

FMH
Ausgabe
2020/40
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19251
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(40):1254-1258

Affiliations
a Dr. phil., persönliche wissenschaftliche Mitarbeiterin des Präsidenten; b Dr. med., Präsident der FMH

Publiziert am 29.09.2020

Eine gute Strategie der FMH setzt eine gründliche Analyse voraus, welche Themen für die Ärzteschaft und das Gesundheitswesen bedeutsam sind. Ende 2019 – noch vor der Corona-Pandemie – befragten wir darum FMH-Mitglieder, Ärztekammer (ÄK)-­Delegierte sowie Expertinnen und Experten, welchen Herausforderungen sich die FMH in den nächsten vier Jahren stellen muss.
Die Arbeit des FMH-Zentralvorstands orientiert sich an einer Strategie, die in jeder Wahlperiode neu entwickelt und verabschiedet wird. Damit die Strategie den Ansprüchen der FMH-Mitglieder und dem gesundheitspolitischen Umfeld möglichst gut gerecht wird, hat es sich bewährt, für ihre Entwicklung verschiedene Anspruchsgruppen zu befragen. Deren Einschätzungen, was die wichtigsten Herausforderungen für die FMH sind, werden dem Zentralvorstand für die Strategieentwicklung zur Verfügung gestellt [1, 2].
Eine solche Befragung wurde im letzten Quartal 2019 durchgeführt. Ihre Ergebnisse sollten dem Zentralvorstand vorgelegt werden, der ursprünglich im Mai 2020 gewählt werden sollte. Corona-bedingt wurden die Wahlen jedoch auf Oktober 2020 verschoben. Auch wenn die erhobenen Daten damit etwas an Aktualität einbüssen, erlauben sie interessante Einblicke in Prioritäten der Ärzteschaft und ihres Umfelds.

Wer wurde wie befragt?

Vier Gruppen wurden gefragt, zu welchen Themen sich die FMH besonders engagieren sollte: Neben 200 ÄK-Delegierten (130 Teilnahmen) und 3000 zufällig ausgewählten FMH-Mitgliedern (651 Teil­nahmen) wurden 24 Expertinnen und Experten (17 Teilnahmen) und 15 Kaderangestellte des Generalsekretariats (14 Teilnahmen) um ihre Einschätzungen gebeten. Kernstück der Befragung bildete ein Online-Rating der Wichtigkeit von 38 Themen auf einer Skala von 0 (unwichtig) bis 10 (sehr wichtig). In einer offenen Abschlussfrage konnten die Befragten weitere zentrale Herausforderungen rund um den Arztberuf nennen. Etwas abweichend von diesem Vorgehen wurden die Expertinnen und Experten in erster Linie um frei formulierte Einschätzungen zu den wichtigsten Herausforderungen des Gesundheitswesens gebeten – und konnten optional zusätzlich auch die Online-Befragung ausfüllen.

Im Fokus: Interessenvertretung für eine gute Berufsausübung

Betrachtet man die zehn je am höchsten gewichteten Themen der FMH-Mitglieder und der ÄK-Delegierten (Tab. 1), erweist sich die Interessen­vertretung für die Ärzteschaft in der Schweizer Gesundheitspolitik als wichtigste Aufgabe der FMH. Auch der Erhalt der Tarifautonomie, die seit Jahren politisch zunehmend in Frage gestellt wird, wird von beiden Gruppen hoch gewichtet. Unter den weiteren Top-Themen finden sich bei den FMH-Mitgliedern sowie bei den ÄK-Dele­gierten viele Aspekte der konkreten Berufsausübung: Hier werden nicht nur übergreifend die Arbeitsbedingungen der Ärzteschaft genannt, auch der Zeitdruck in der Arzt-Patienten-­Beziehung, der Kostendruck in der Patientenbehandlung, der hohe administrative Aufwand im Arztberuf sowie Ärztemangel bzw. Sicherung der Versorgung sind wichtige Themen.
Tabelle 1: Die von FMH-Mitgliedern und ÄK-Delegierten am höchsten gewichteten Herausforderungen.
 FMH-Mitglieder (n = 645)Ärztekammer-Delegierte (n = 130)
 1Gesundheitspolitik Schweiz: Interessenvertretung für die Ärzteschaft
(m = 8.9; SD = 1.7)
Gesundheitspolitik Schweiz: Interessenvertretung für die Ärzteschaft
(m = 9.2; SD = 1.3)
 2Erhalt Tarifautonomie (ambulante Tarife)
(m = 8.8; SD = 1.8)
Erhalt Tarifautonomie (ambulante Tarife)
(m = 9.0; SD = 1.6)
 3Arbeitsbedingungen und Attraktivität Arztberuf
(m = 8.4; SD = 2.2)
Zusammenhalt des Verbandes
(m = 8.7; SD = 1.7)
 4Zeitdruck in der Arzt-Patienten-Beziehung
(m = 8.2; SD = 2.1)
Image der Ärzteschaft
(m = 8.7; SD = 1.6)
 5Zusammenhalt des Verbandes
(m = 8.0; SD = 2.2)
Mediale Präsenz der Positionen der FMH
(m = 8.3; SD = 1.8)
 6Kostendruck in der Patientenbehandlung
(m = 8.0; SD = 2.0)
Zeitdruck in der Arzt-Patienten-Beziehung
(m = 8.3; SD = 1.8)
 7Administrativer Aufwand
(m = 8.0; SD = 2.0)
Zulassungsregelung / freie Arztwahl
(m = 8.2; SD = 2.1)
 8Aus-, Weiter- und Fortbildung
(m = 8.0; SD = 2.1)
Arbeitsbedingungen und Attraktivität Arztberuf
(m = 8.1; SD = 2.2)
 9Ärztemangel und Sicherung der Versorgung
(m = 7.8; SD = 2.4)
Administrativer Aufwand
(m = 8.1; SD = 1.8)
10Image der Ärzteschaft
(m = 7.7; SD = 2.5)
Ärztemangel und Sicherung der Versorgung
(m = 7.9; SD = 2.1)

Und die Voraussetzungen für Interessenvertretung?

Es zeigen sich aber auch Unterschiede zwischen FMH-Mitgliedern und ÄK-Delegierten: Letztere messen Themen wie Arbeitsbedingungen, Zeitdruck oder Bürokratie zwar eine vergleichbar hohe Bedeutung zu wie die FMH-Mitglieder, gewichten den Zusammenhalt des Verbandes jedoch noch höher. Es ist schlüssig, dass diese standespolitisch aktiven Personen dem geschlossenen Auftreten der Ärzteschaft als Voraussetzung für eine wirksame Interessenvertretung eine grosse Be­deu­tung zumessen. Das Gleiche gilt für die mediale Präsenz der FMH-Positionen und das Image der Ärzteschaft: Es ist schwierig, für politische Anliegen Gehör zu finden, wenn Ärzte «in der öffentlichen Wahrnehmung und in der Politik», wie es einer der befragten Experten ausdrückte, «vermehrt als Abzocker, Bestoche­ne, unnötige Operierer, Patientenschädiger, Streithähne, eine Herde schwarzer Schafe, Tariftrickser etc.» gelten. Dass «die eigentliche Leistung und die Verdienste untergehen» – wie derselbe Experte schrieb – nehmen auch die FMH-Mitglieder wahr, die das Image der Ärzteschaft auf Platz 10 der Herausforderungen sehen. In diesem Sinne empfiehlt auch eine andere Expertin, den ­positiven Beitrag der Ärzteschaft zu verdeutlichen: «Die Ärzteschaft geht mit der Zeit und setzt sich für einen einwandfreien Zugang zu einer qualitativ hochstehenden Versorgung unter Berücksichtigung von Kosten-Nutzen-Überlegungen ein: Dabei steht der Patient im Vordergrund.»

Zusätzliche Top-Themen der ­jüngeren ­Ärzteschaft: Work-Life-Balance und Burnout

Als weitere wichtige Herausforderungen nennen die FMH-Mitglieder und ÄK-Delegierten in den Top 10 oder auf dem elften Platz die Aus-, Weiter- und Fortbildung sowie die Zulassung zur ambulanten Tätigkeit. Letztere dürfte durch die Verabschiedung der Zulassungsvorlage 18.047 im Juni 2020 nach der Befragung und dem damit verbundenen Erhalt der freien Arztwahl mittlerweile ein weniger prioritäres Thema sein [3]. Die Aus-, Weiter- und Fortbildung wird vor allem von der jüngeren Ärzteschaft (unter 45 Jahren) hoch gewichtet. Betrachtet man diese Altersgruppe der FMH-Mitglieder separat, finden sich in den Top 10 der wichtigsten Themen ausserdem die «Vereinbarkeit von Familie und Beruf» (m = 8.1; SD = 2.3) und das Thema «Ärzte­gesundheit und Burnout» (m = 8.0; SD = 2.2).

Herausforderungen aus Sicht der ­Expertinnen und Experten: Neue Versorgungsmodelle und Digitalisierung

Auch für die externen Expertinnen und Experten aus Politik, Krankenkassen, Verbänden und Wissenschaft stellten die Interessenvertretung und die Tarifauto­nomie zentrale Themen dar. Ihre Antworten auf die offene Frage «Was sind in Ihren Augen die wichtigsten Herausforderungen im Gesundheitswesen, denen sich die FMH bis 2024 stellen muss?» hatten aber auch vielfach die Entwicklung neuer Versorgungsmodelle, Interprofessionalität und die Digitalisierung zum Gegenstand – Themen, die auch die Kaderangestellten des General­sekretariats als wichtig einstuften. Diese Voten bilden damit eine wichtige Ergänzung zu den Ratings der FMH-Mitglieder und ÄK-Delegierten: Die Ärzteschaft bewertete Themen wie «eHealth, neue Technologien und EPD», die «Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitsberufen» und die «Entwicklung neuer Versorgungsmodelle» zwar als relevant – wählte sie jedoch nicht in die Top 10.
Eine interessante Übereinstimmung zeigte sich zwischen den freien Antworten der externen Expertinnen und Experten und den Antworten, die FMH-Mitglieder und ÄK-Delegierte auf die offene Abschlussfrage der Online-Befragung gaben: Mehrfach wurde angeregt, die Ärzteschaft solle proaktiv Beiträge zur Kostensenkung entwickeln, z.B. durch verstärkte Aufklärung gegen Überbehandlung.

Fazit: Welche Herausforderungen muss die FMH angehen?

Die Gesamtschau der in unserer Befragung berücksichtigten Perspektiven (Tabelle 2) zeigt, dass Ärztinnen und Ärzte genauso wie Expertinnen und Experten die zentrale Aufgabe und Herausforderung der FMH darin sehen, der Ärzteschaft politisches Gehör zu verschaffen. Welche Botschaften die befragten Ärztinnen und Ärzte der Politik gerne übermitteln würden, lässt sich aus den weiteren priorisierten Herausforderungen ­ablesen. Wichtige Anliegen sind ihnen der Zeitdruck in der Arzt-Patienten-Beziehung, der Kostendruck in der Behandlung, die zunehmende Administration sowie die Folgen des Ärztemangels für die Versorgungs­sicherheit. Solche Rahmenbedingungen können nicht nur für Patienten den Zugang zur Versorgung und ­deren Qualität beeinträchtigen; sie reduzieren auch die Attraktivität des Arztberufs. Insbesondere die jüngeren Ärzte und Ärztinnen verweisen ausserdem auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie Ärztegesundheit und Burnout-Prävention als wichtige Herausforderungen. Dies erstaunt wenig angesichts der jüngsten Zahlen, nach denen ein Vollzeitpensum von Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzten im Mittel knapp 56 Wochenstunden umfasst und zwei Drittel Verletzungen des Arbeitsgesetzes erleben [4].
Tabelle 2: Die von FMH-Mitgliedern, ÄK-Delegierten, Expertinnen und Experten festgehaltenen Herausforderungen.
Mit einer starken (politischen) Vertretung der Ärzteschaft Gehör verschaffen
• Zusammenhalt des Verbandes / geschlossenes Auftreten
• Image der Ärzteschaft / Mediale Präsenz der Positionen der FMH
Erhalt Tarifautonomie (ambulante Tarife)
Arbeitsbedingungen und Attraktivität des Arztberufs
• Zeitdruck in der Arzt-Patienten-Beziehung
• Kostendruck in der Patientenbehandlung
• Administrativer Aufwand im Arztberuf
• Vereinbarkeit Familie und Beruf
• Ärztegesundheit und Burnout
Ärztemangel und Sicherung der Versorgung
Aus-, Weiter- und Fortbildung
Interprofessionalität und neue Versorgungsmodelle
Digitalisierung
Eigene Beiträge zur Kostenreduktion
Zulassungsregelung / freie Arztwahl
Dass der Erhalt der Tarifautonomie als wichtige Herausforderung eingestuft wird, liegt vermutlich nicht nur an den negativen Erfahrungen mit den bisherigen bundesrätlichen Tarifen, die die ambulante Versorgung insbesondere benachteiligter Patientengruppen schwächten. Befürchtungen wecken vor allem die aktuellen Pläne des Bundesrats im Rahmen seiner Kostendämpfungspakete.1 Demnach könnte der Bundesrat zukünftig nicht nur die Ausgestaltung einer nationalen Tariforganisation massgeblich bestimmen – überdies möchte er die Tarifpartner zur Kostensteuerung verpflichten, um eine von ihm angestrebte «Zielvorgabe» zu erreichen. Ein solches Globalbudget mit schmerzhaften Auswirkungen für die Patientenversorgung lässt sich nur durch eine erfolgreiche Tarifpartnerschaft verhindern. Zwar trägt die jahrelange Arbeit der FMH mit ihren Partnern nun Früchte: Spätestens seit Juni 2020 sollte der Genehmigung des tarifpartnerschaftlich erarbeiteten TARDOC nichts mehr im Wege stehen. Die Gesetzesvorlagen zur Aushöhlung der Tarifautonomie sind jedoch bereits aufgegleist – der Erhalt der Tarifautonomie wird also eine zentrale Herausforderung bleiben.
Die weiteren von Ärzteschaft und Expertinnen und Experten priorisierten Herausforderungen – Aus-, Weiter- und Fortbildung, Digitalisierung und Interpro­fessionalität, aber auch die Kommunikation für den Berufsstand – sind bereits heute in den Strukturen von FMH und SIWF fest verankert. Dies und die Motivation der Ärzteschaft, für Kostendämpfung [5] und gegen Überbehandlung [6] einzutreten, sind gute Voraussetzungen, die anstehenden Herausforderungen erfolgreich angehen zu können. Ob sich der nächste Zentralvorstand dabei auf einen guten Zusammenhalt des Verbandes und eine geschlossen auftretende Ärzteschaft stützen kann, hängt nicht zuletzt auch von unseren Mitgliedern ab.

Nachtrag: 
Werden die Erfahrungen mit der Corona-­Pandemie die Versorgungssicherheit mehr ins Zentrum rücken?

Die Tatsache, dass die hier präsentierten Ergebnisse die Erfahrungen aus der Corona-Pandemie in keiner Weise widerspiegeln, lässt sich als Vorteil und als Nachteil begreifen. Einerseits sind die Ergebnisse frei von Schwankungen, die sich im Lichte aktueller Ereignisse kurz­fristig ergeben. Andererseits könnten aufgrund der Pandemie Aspekte der Versorgungssicherheit auch langfristig höher gewichtet werden. Inwieweit die Erfahrungen der Corona-Pandemie langfristig nachwirken, wird die Zukunft zeigen.

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