Switzerland first?

FMH
Ausgabe
2020/47
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19390
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(47):1558

Affiliations
Dr. med., Präsident der FMH

Publiziert am 17.11.2020

Mein Abschied aus der Standespolitik fällt inmitten der Corona-Krise in eine herausfordernde Zeit. Unser Gesundheitswesen, das in diversen internationalen Rankings immer wieder Spitzenplätze belegt, hat die erste Welle gut bewältigt. Ob wir die zweite Welle genauso glimpflich überstehen werden, ist aktuell jedoch offen. «Switzerland first» gilt nämlich nicht mehr nur im positiven Sinne für die Qualität unseres Gesundheitswesens – mit hohen Corona-Fallzahlen gehören wir nun auch im negativen Sinne zu den internationalen Spitzenreitern. War die Politik nicht in der Lage, frühzeitig wirksam gegenzusteuern? Oder wollte sie es nach einer Abwägung verschiedener Interessen nicht? Wir wissen es nicht. Wir sehen aber, dass die Verfügbarkeit und Qualität unserer Gesundheitsversorgung stark von politischen Entscheiden abhängen kann.
Dies stimmt nachdenklich, insbesondere wenn ich auf die wichtigsten Themen meiner Amtszeit zurückblicke. Denn viele davon weisen eine Gemeinsamkeit auf: die Verstärkung der politischen Einflussnahme auf das Gesundheitswesen.
– Beispielsweise gelten für die Zulassung praxis­ambulanter Ärztinnen und Ärzte politisch vorge­gebene Ärztezahlen als probates Mittel. Wie wenig ­politische Entscheide dem echten Versorgungsbedarf gerecht werden, zeigen unsere Medizinstudienplätze. 2011 berechnete der Bund, man benötige jährlich bis 1300 Arztdiplome, um den Bedarf zu decken [1]. Dieses Ziel war 2019 fast erreicht – zusätzlich wurden im selben Jahr jedoch 2940, also mehr als doppelt so viele ausländische Arztdiplome anerkannt [2]. Ohne unsere mittlerweile 36% Ärztinnen und Ärzte mit ausländischem Arztdiplom hätten wir eine politisch verursachte Unterversorgung.
– Ein anderes Beispiel ist der ambulante Arzttarif. Hier setzte die subsidiäre Kompetenz des Bundesrats konsequent Anreize für Blockaden in der Tarifpartnerschaft. Zwei Tarifeingriffe schwächten die ambulante Versorgung. Während sich der Bundesrat mit der Genehmigung des tarifpartnerschaftlich erarbeiteten TARDOC äusserst schwertut, prescht er gleichzeitig mit einem Vorschlag staatlich festgelegter Erstberatungspauschalen vor.
– Auch was unter medizinischer Qualität zu verstehen ist, wird zukünftig stärker durch politische Entscheide geprägt sein. In der neuen, vom Bundesrat eingesetzten eidgenössischen Qualitätskommission wird voraussichtlich nur eine kleine Minderheit der künftigen Mitglieder schon einmal einen Patienten behandelt haben.
– Die schlimmsten Auswirkungen auf die Patientenversorgung lassen jedoch die politischen Kosten­deckel für Leistungen der Grundversicherung ­befürchten, die beide bundesrätlichen Kostendämpfungspakete vorsehen. Der Bundesrat, der sich aktuell nicht einmal auf die Auslastung der ­Intensivstationen in den nächsten fünf Tagen festlegen möchte, traut sich zu, die medizinisch notwendigen Gesundheitskosten des übernächsten Jahres – im Detail je Versorgungssektor und Kanton – korrekt festzulegen.
Wo sich die Politik verkalkuliert, sind Gesundheitsfachpersonen doppelt gefordert. Die Ärzteschaft, die Pflege und viele andere Fachpersonen werden immer ihr Bestes geben, damit die Patienten bestmöglich versorgt werden. Ihre Möglichkeiten sind jedoch nicht unbegrenzt und werden durch die wachsende Regulierung mehr und mehr eingeengt. Die Verdoppelung der gesundheitspolitischen Gesetzestexte in den letzten 20 Jahren bringt nicht nur mehr Administration und höhere Kosten [3] – sie bereitet den Weg unser Gesundheitswesen «krank zu regulieren» [4].
Unser Gesundheitswesen ist ein internationales Erfolgsmodell. Um seine Leistungsfähigkeit zu erhalten, müssen wir es weiterentwickeln – ohne es durch poli­tische Fehlentscheide und Regulierung zu gefährden. «Switzerland first» darf zukünftig nicht für Ansteckungsrekorde und Regulierungsdichte stehen – sondern soll weiterhin für die Qualität unserer Patientenversorgung gelten!