Für die Empfehlung von «smarter medicine» vom 28.4.2021, die lautet «kein Testen und Neubehandeln von Dyslipidämien bei Personen über 75 Jahre in der Primärprävention», geben die Autoren als einzige Quelle das Paper der Cholesterol Treatment Trialists’ Collaboration, CTT: «Efficacy and safety of statin therapy in older people: a meta-analysis of individual participant data from 28 randomised controlled trials», Lancet 2019;393:407, an.
Die Bedeutung der Studienresultate scheint hier allerdings im Rahmen der Formulierung dieser Empfehlung nicht richtig erkannt worden zu sein. Zumindest kann die Schlussfolgerung, die zur Empfehlung geführt hat, bei korrekter Anwendung allgemeingültiger statistischer Prinzipien aufgrund der zitierten Studie nicht nachvollzogen werden. Die Autoren des CTT schreiben nämlich: «... 14 483 (8%) of 186 854 participants ... were older than 75 years at randomisation. We observed a significant reduction in major vascular events in all age groups. Although proportional reductions in major vascular events diminished slightly with age, this trend was not statistically significant.» ... «We observed a 25% ... proportional reduction in the risk of coronary revascularisation procedures with statin therapy ... which did not differ significantly across age groups. Similarly, the proportional reductions in stroke of any type ... did not differ significantly across age groups ...»
Leider hat sich in der Medizin die Unsitte eingebürgert, statistisch nicht signifikante Trends als Wahrheiten darzustellen, möglicherweise weil sie nur so in ein bestimmtes Konzept passen. Eine Schlussfolgerung auf der Basis nicht-signifikanter Ergebnisse ist, zumindest in den auf naturwissenschaftlichen Grundlagen beruhenden Teilen der Medizin, unzulässig. Der Satz «... wegen ihres wahrscheinlich geringen Nutzens ...» entspricht somit der Meinung der «smarter medicine»-Autoren, lässt sich aber wissenschaftlich nicht belegen. Aufgrund der Definition des Signifikanzniveaus (p <0,05) sind nicht-signifikante Unterschiede allenfalls durch grössere Studien zu überprüfen, dürfen aber per se nicht wissenschaftlich weiterverwendet werden, als «geringen Nutzens», d.h. als «wahrscheinlich signifikant unterschiedlich zu anderen Gruppen» interpretiert werden oder gar als Grundlage von Empfehlungen dienen.
Die Autoren der Empfehlung schreiben weiter, dass «... es bei Personen über 75 Jahre ohne kardiovaskuläre Vorerkrankung [unklar] ist, ob eine neu begonnene lipid-senkende Behandlung mit Statinen kardiovaskuläre Ereignisse oder den Tod verhindert.» Sicher verhindert auch eine Behandlung mit Statinen den Tod bei über 75-Jährigen nicht; der Durchschnitt der Bevölkerung stirbt 10–15 Jahre später, statistisch rund 50% an ASCVD. Bei tieferem Verständnis der Zusammenhänge zwischen dem kardiovaskulären Risikofaktor LDLC und dem Auftreten atherosklerotischer Ereignisse wird man hingegen erkennen müssen, dass ein LDLC oberhalb eines bestimmten Grenzwerts (approx. 1 mmol/l) eine Bedingung für die Entstehung einer Atherosklerose ist. Bei lebenslang tieferen Werten (wie z.B. im Tierreich) würde keine Atherosklerose entstehen. Jede Senkung, wie auch die CTT nachgewiesen hat (–21% von «major ASCVD» pro 1 mmol/l LDLC), verlängert das Leben, auch bei über 75-Jährigen, da ja kein Unterschied dieses Effekts im Vergleich mit Jüngeren gefunden wurde. Wissenschaftlich jedenfalls, wie dies hier versucht wird, ist deshalb der Verzicht auf eine Behandlung über 75-Jähriger nicht zu begründen.
Replik zu «‘smarter medicine’: Fehlende wissenschaftliche Grundlage einer Empfehlung»
Sehr geehrter Herr Kollege Miserez
Vielen Dank für Ihren Leserbrief, in dem Sie kritisieren, dass unsere Empfehlung bezüglich Statin-Neubehandlung bei über 75-Jährigen in der Primärprävention der wissenschaftlichen Grundlage entbehre, und die korrekte Wiedergabe wissenschaftlicher Erkenntnisse fordern.
Gerne gehen wir auf Ihre Kritik wie folgt ein:
1. Die in der Empfehlung zitierte, im Lancet publizierte Metaanalyse der Cholesterol Treatment Trialist’ (CTT) Collaboration [1] ist die bisher grösste Metaanalyse von randomisiert-kontrollierten Studien (RCTs) zum Thema, darum beziehen wir uns auf sie. Natürlich haben wir auch Kenntnis von weiteren grossen Kohortenstudien zum Zusammenhang zwischen Lipiden und Herz-Kreislauf-Ereignissen [2, 3]. Naturgemäss geben solche Kohortenstudien aber keine Auskunft über kausale Zusammenhänge, sondern nur über Assoziationen, und werden im Vergleich zu RCTs mit tieferem Evidenzgrad bewertet.
Weil somit die wissenschaftliche Grundlage aus prospektiven RCTs stammt, verwenden wir in der Empfehlung die korrekte Bezeichnung «Neu-Behandlung mit Statinen».
2. Ihre Argumentation ist schlüssig für die Sekundärprävention, bzw. für die gemischte Studienpopulation der CTT aus Primär- und Sekundärprävention, das heisst Menschen mit und ohne kardiovaskuläre Ereignisse in ihrer Vergangenheit. Entsprechend ist die Konklusion der CTT für die gesamte Studienpopulation formuliert, inklusive der älteren Probanden.
In Bezug auf unsere Empfehlung dürfen wir jedoch darauf hinweisen, dass sie sich explizit auf die Primärprävention bezieht, das heisst auf Menschen ohne kardiovaskuläre Ereignisse. Dies ist klar so benannt in der Empfehlung. Und in dieser Population gilt gemäss der Lancet-Metaanalyse [1]: Es sind unter Statintherapie keine signifikanten Unterschiede in der Rate kardiovaskulärer Ereignisse bei Menschen über 75 feststellbar (RR 0,92, 95% CI 0,73–1,16). Genau genommen gilt schon ab dem Alter von 70 (bis ≤75) in der Primärprävention, dass die Wirkung des Statinbeginns zweifelhaft ist: Dort beträgt das 95%-Konfidenzintervall 0,70 bis 1,01. Selbst die CTT Collaborists räumen in ihrer Konklusion ein:
«In the primary prevention setting, among people older than 75 years, there is less evidence of the effects of statin therapy. Ongoing trials are investigating this group directly.»
Eigentlich müsste es sogar heissen «no evidence» für einen Benefit. Mit unserer Begründung in der Empfehlung «… wahrscheinlich geringer Nutzen» haben wir diesen Zusammenhang zurückhaltend formuliert und Raum für die folgende Tatsache gelassen: Das Fehlen eines statistisch signifikanten Effekts in einer Subgruppenanalyse ist noch kein Beweis, dass es sicher keinen Nutzen gäbe. Dieser muss aber in den von den Autoren des Artikels erwähnten Studien zur Primärprävention bei älteren Patienten zuerst nachgewiesen werden.
3. Ihre Betrachtung des pathophysiologischen Wirkeffekts allein greift zu kurz – vor allem wenn ein Benefit zweifelhaft ist, werden die potenziellen Nebenwirkungen einer (Statin-) Behandlung umso relevanter. Muskelschmerzen und andere Nebenwirkungen sind nicht selten bei Statinbehandelten, gerade im höheren Alter. «Weniger kann mehr sein», eine Maxime der smarter medicine, gilt somit beim Neubeginn von Statinen in der Primärprävention bei über 75-Jährigen sehr wohl, und das auf wissenschaftlicher Basis.
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