Corona, die Impf-Frage und die Freiheit

FMH
Ausgabe
2021/39
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.20188
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(39):1255

Affiliations
Dr. med., Mitglied des Zentralvorstands der FMH und Departementsverantwortliche Stationäre Versorgung und Tarife

Publiziert am 28.09.2021

An diesen Themen erhitzen sich derzeit die Gemüter. Befestigte Lager entstehen quer durch Familien, Freundschaften, Spitäler, Fabriken und Büros sowie durch Stadt und Land. In einem Lager werden Rufe laut nach Restriktionen, Massnahmen und Zertifikaten. Im anderen Lager werden Verteidigungswälle errichtet, wird demonstriert und appelliert. Die Wirtschaft macht die Wellen mit.
Wenn Sie Juli Zehs Roman «Corpus Delicti» aus dem Jahr 2009 lesen, dann finden Sie in einer nahen Zukunft das Zerrbild einer ­Gesellschaft vor, in der Freiheit einer vermeintlichen Perfektion untergeordnet wird. Die Autorin greift in ihrem Werk die Fragestellung zum Grad der Steuerung eines kollektiven Systems auf, welches in seinem Unfehlbarkeitsanspruch jedes Individuum betrifft.
Wenn ich mich in der aktuellen Lage auf mich selbst besinne, sehe ich mich in einem kleinen Boot – der Wellengang ist hoch, Sturm zieht auf. Ich segle in einer Meerenge zwischen Skylla und Charybdis und frage mich, was ich benötige, um das Boot zu manövrieren. Was lässt mich sicher steuern zwischen kalter Ausgrenzung und überhitztem Widerstand? Wenn meine Gefühle schwanken und die Gedanken kreisen, komme ich immer wieder zurück auf einen Punkt: auf das Potenzial menschlichen Denkens. Erst dann, wenn diese Fähigkeit in uns verbunden wird mit warmem Interesse für die Welt, kann sich Achtung vor dem anderen entfalten. Aus diesem bewusst gepflegten Denken entsteht schliesslich Erkenntnis, die zu freiem Handeln führt.
«Frei sein» bedeutet nicht, einfach das zu tun, was man gerade will. «Frei sein» heisst, bewusst und aus Erkenntnis heraus zu handeln.
Wir Ärztinnen und Ärzte verfolgen diesen Ansatz beispielsweise dann, wenn wir unsere Patientinnen und Patienten aufklären und sie dadurch zur eigenstän­digen Entscheidung befähigen wollen. So verhelfen wir ihnen zu einem wichtigen Schritt auf dem Weg zu ihrer eigenen Erkenntnis. Letztere kann nur indivi­duell sein und bleiben. Sowohl für uns selbst, als auch für die anderen. In diesem Sinne glaube ich, dass wir alle Fragen – und seien sie noch so brisant wie die ak­tuelle Impf-Frage – auf der Basis von Verständnis ­gegenüber dem fremden Wollen behandeln sollten. Damit tragen wir zur Freiheit und Befriedung unserer Gesellschaft bei.

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