«Schönheit wird die Welt retten» (Dostojewski, Der Idiot). Wenn es nur wahr wäre. Der vor kurzem verstorbene französische Schriftsteller, Landwirt und Umweltschützer Pierre Rabhi drückte es folgendermassen aus: «Die Schönheit, welche die Welt retten wird, besteht aus Grosszügigkeit, Teilhabe und Mitgefühl.»
Kürzlich las ich einen Dialog [1], der mich berührt hat, zwischen Frédéric Lenoir, Philosoph und Kenner asiatischer Spiritualität, und Nicolas Hulot, dem durch die Fernsehsendung Ushuaïa bekannten Journalisten, der 15 Monate lang Umweltminister unter Präsident Macron war (der Umweltschützer Hulot hat im Herbst 2021 nach Vorwürfen sexueller Übergriffe seinen Rückzug aus der Öffentlichkeit angekündigt.)
Zum Jahreswechsel möchte ich meine Gedanken zu einigen Auszügen aus diesem Buch darlegen.
«Die Schönheit war einer meiner ersten Wegweiser. Sie lehrte mich Demut angesichts des Mysteriums der Welt. Ich bin davon überzeugt, dass Schönheit die Menschen miteinander verbindet. Die Schönheit der Natur lässt das Unermessliche greifbar werden [...] Die Begegnung mit der Schönheit hat mich zum Wahren und Unerlässlichen geführt», schreibt Hulot. «Wenn die Schönheit auch nicht die Welt rettet, so wird sie uns zumindest wieder zum Wesentlichen zurückführen», schreibt Lenoir und zitiert Rachel Carson, die amerikanische Biologin, die bereits 1962 mit ihrem Buch Silent Spring auf die Schäden durch den Einsatz von Pestiziden aufmerksam gemacht hatte: «In den immer wiederkehrenden Kreisläufen der Natur liegt etwas Heilsames, eine ebenso symbolische wie reale Schönheit.»
Das daraus erwachsende Staunen lässt sich umso mehr nachvollziehen, wenn die Natur des eigenen Lebensraums noch relativ intakt ist: Dieses Glück haben wir in der Schweiz. Die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt mittlerweile in Städten – ein Grossteil davon in Slums, wo es nur noch Bäche aus Abwasser und Berge aus Müll gibt. Worin soll da die rettende Schönheit liegen? Der indische Weise Krishnamurti stellte fest: «Wer keine Beziehung zur Natur hat, wird auch keine Beziehung zum Menschen aufbauen.» Doch auch in Slums ohne Bäume und Gärten gibt es ein Miteinander.
Vor kurzem habe ich die World Press Photo Exhibition gesehen, die jedes Jahr die schönsten Fotos präsentiert. Nach Kriterien der künstlerischen Fotografie sind diese Bilder schön, auch wenn sie häufig sehr harte, skandalöse Situationen für Mensch und Umwelt zeigen, die geprägt sind von Krieg oder Terrorismus, Unterdrückung, materiellem und psychosozialem Elend. Können solche Fotos zu der notwendigen «Rettung» beitragen? Ja, wenn wir über unsere unmittelbare Empörung hinaus etwas tun, um Unakzeptablem ein Ende zu setzen. Das ist leichter gesagt als getan. Ein erster Schritt kann darin bestehen, diejenigen, die sich praktisch engagieren, finanziell zu unterstützen.
Der inzwischen hundert Jahre alte Philosoph und scharfsinnige Beobachter Edgar Morin beschwor im Jahr 2002 die Bedeutung der Dichtung: «Eine Zivilisationspolitik muss sich des menschlichen Bedürfnisses nach Dichtung voll bewusst sein. Wo Prosa vorherrscht, fehlt das wahre Leben» [2]. Morin zufolge müssten «die entfesselten Prozesse, die uns in die Katastrophen führen, aus soziologischer, ökologischer wie psychischer Notwendigkeit massiv entschleunigt werden».
Zurück zu Hulot und Lenoir, die in der Schönheit ein Mittel gegen Masslosigkeit und Hochmut sehen. Aus Sicht des Umweltschützers Hulot «lehrt die Schönheit der Natur uns Harmonie, Gleichgewicht und das richtige Mass – Aspekte, die im menschlichen Verhalten häufig fehlen [...] Umweltschutz ist für mich gesellschaftliches Handeln.» Der Philosoph Lenoir plädiert für eine Erziehung zur Schönheit: «Das einzige Opfer, das in den Weisheiten des Ostens zählt, ist das des eigenen Egos – durch dieses Opfer kann der Mensch verstehen, dass er Teil der Natur, eines Ganzen ist [...] Schönheit sollte in unserer Bildung einen hohen Stellenwert besitzen.»
Ich schliesse mit einem Satz von Charles-Ferdinand Ramuz: «Die Schönheit aller Dinge ergibt sich aus ihrer Vergänglichkeit.» Würde Ramuz der Schönheit die Fähigkeit absprechen, uns beim Erhalt einer dauerhaft lebenswerten Welt zu helfen? Ich denke, es ging ihm eher um unsere individuellen Lebenswege und unsere Endlichkeit als die der Biosphäre.
Literatur
1 Hulot N, Lenoir F. D’un monde à l’autre – Le temps des consciences. Paris: Fayard; 2020.
2 Morin E. Pour une politique de civilisation. Paris: Arléa; 2002, Seiten 52 und 75.
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