Gesprächszeit Ob ambulant oder stationär: Viele Ärztinnen und Ärzte wünschen sich mehr Zeit für ihre Patientinnen und Patienten. Stattdessen steigt der administrative Aufwand stetig. Das zeigt die Ärztestatistik der FMH. Sprechzimmerplus und das Café Med der Akademie Menschenmedizin bieten Lösungsansätze.
Der Raum füllt sich, Gesprächsfetzen schwirren durch die Luft, an der Café-Bar giesst die medizinische Praxisassistentin Getränke aus – das Sprechzimmerplus in Bern feiert Eröffnung. In Betrieb ist die Hausarztpraxis zwar bereits seit Juli 2021, doch die grosse Feier musste wegen der Pandemie aufs Jahr 2022 verschoben werden.
Warum eine Arztpraxis eine grosse Feier zur Eröffnung braucht? Nun ja, das Sprechzimmerplus ist nicht nur Arztpraxis. Sondern auch Bibliothek, Co-Working-Space, Café und Eventlokal in einem. Die Idee dahinter: Durch die vielfältige Nutzung der Räumlichkeiten und die zeitweise Vermietung der beiden voll eingerichteten Praxisräume soll die Hausarztpraxis querfinanziert werden. Langfristig ermöglicht das dem fest angestellten Hausarzt Ueli Scheuber, sich mehr Zeit für seine Patientinnen und Patienten zu nehmen. So viel nämlich, wie die Menschen mit ihm als Arzt brauchen, unabhängig von der vorgesehenen Vergütung, die er abrechnen kann.
Doch sollen der Hausarzt und die Patientinnen und Patienten nicht nur von der grosszügigen Zeitspanne profitieren, die für die Konsultation ermöglicht wird. Auch das Café und die Bibliothek laden die Patientinnen und Patienten zum Verweilen ein. Cornelius Warncke, Spitalarzt und Mitgründer des Sprechzimmerplus, erklärt: «Bei uns erhalten die Patienten Gehör und Autonomie. Anstatt eines Arztbesuchs im Korsett des Gesundheitssystems kommen sie in einem Raum, in dem sie sich wohlfühlen können und wo ihnen in allen gesundheitlichen, aber auch nicht-medizinischen Belangen weitergeholfen wird.»
Zu wenig Zeit für das Patientengespräch
Wie das Team vom Sprechzimmerplus wünschen sich auch viele andere Ärztinnen und Ärzten mehr Zeit für ihre Patientinnen und Patienten. Die Ärztestatistik 2021 der FMH zeigt, dass die Zeit für patientennahe Tätigkeiten immer weiter zurückgeht. Im stationären Bereich beträgt sie inzwischen nur noch ein Drittel der Arbeitszeit [1]. Stark zugenommen hat hingegen der administrative Aufwand, der über einen Fünftel der Arbeitszeit ausmacht. Ein unbefriedigender Zustand.
Als Gründe für die fehlende Zeit mit Patientinnen und Patienten werden neben den administrativen Tätigkeiten auch die hohe Arbeitsbelastung, der Zeitdruck und die Ökonomisierung des Gesundheitswesens angeführt. Zusammengenommen beeinträchtigen diese Faktoren die Qualität der Patientenversorgung. Das zumindest befürchtet ein wachsender Teil der Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz. Auch das zeigt die Statistik. Ob ambulant oder stationär, die Forderung nach mehr Zeit für das Gespräch mit Betroffenen wird deshalb lauter. Kreative Lösungen sind gefragt.
Alles in Ruhe besprechen
Gänzlich ausserhalb von tariflichen Beschränkungen und administrativen Aufgaben bewegen sich die Ärztinnen und Ärzte des von der Akademie Menschenmedizin (amm) durchgeführten amm Café Med. In mehreren Schweizer Städten nehmen sich pensionierte medizinische Fachkräfte einmal pro Monat Zeit und stellen ihre Erfahrung und ihr Fachwissen unentgeltlich Ratsuchenden zur Verfügung. Sie treffen sich dafür in einem Restaurant oder Café.
Die ungezwungene Atmosphäre offeriert einen niederschwelligen Zugang zur medizinischen Entscheidungsfindung. An einem der vielen sonnigen Tage in diesem Jahr sitzen im Restaurant Schnabel in Basel eine Runde von Ärztinnen und Ärzten sowie eine Psychologin und eine Pflegefachfrau gemütlich am Tisch zusammen und erklären, wie sie bei den Beratungsgesprächen vorgehen.
Die ehemalige Pflegefachfrau Suzanne Tanner übernimmt die Triage und übergibt die Ratsuchenden den passenden Fachpersonen. Dokumentiert wird die Fachrichtung, das Thema sowie eine allfällige Weiterweisung zur Zweitmeinung. Danach kann sich die medizinische Fachperson so viel Zeit für das Gespräch nehmen, wie es braucht zur Klärung des weiteren Vorgehens. Jürg Weber, ein pensionierter Hausarzt, beschreibt: «Manchmal sind wir gefordert. länger aktiv zuzuhören, wenn eine Person die medizinischen Probleme im Verlaufe ihres Lebens schildern möchte, bevor sie ihr gegenwärtiges Anliegen formulieren kann.» In seiner eigenen Praxis konnte er sich das in diesem Umfang nicht leisten. Alle am Tisch nicken.
Was sich die pensionierten Ärztinnen und Ärzte für ihre aktiven Berufskolleginnen und -kollegen wünschen würden? «Dass der TARDOC durchkommt», sagt Jürg Weber mit Nachdruck. Die Gynäkologin Noémi Deslex-Zaïontz fügt an: «Dass der finanzielle Druck wegfallen würde. Das ist vielleicht nicht realistisch, aber die jetzigen Zustände sind unwürdig.» Und eine pensionierte Internistin aus der Runde wünscht sich, dass für das ärztliche Gespräch im Berufsleben mehr Zeit zur Verfügung stehen würde, die auch vergütet wird. Im Café Med geniesst sie es, ohne Zeitdruck über vielfältige Gesundheitsprobleme mit den Ratsuchenden zu sprechen. Eine Arbeitsweise, die im Tarifsystem zurzeit so nicht vorgesehen ist.
Vermehrte Kooperation als Lösung
Ist also die Ökonomisierung Schuld daran, dass Ärztinnen und Ärzte zu wenig Zeit für das Patientengespräch haben? Matthias Mitterlechner, Professor für Service Performance Management und Leiter des Healthcare Management Labs an der Universität St. Gallen, wägt ab. Er möchte ökonomische Aspekte nicht unter Generalverdacht stellen: «Die ökonomische Perspektive, verstanden als Ausrichtung von Strukturen und Abläufen nach dem Effizienzprinzip, war immer schon Teil des Gesundheitswesens, und sie ist per se weder gut noch schlecht.» Sie könne auch dazu beitragen, unnötige Schritte, Redundanzen und Wartezeiten in klinischen und administrativen Prozessen zu optimieren und genau dadurch mehr Zeit für das Patientengespräch zu gewinnen. Doch er räumt ein: «Die Ökonomisierung gewinnt im Gesundheitswesen an Bedeutung. Das Gesundheitswesen als Sektor nimmt einen immer grösseren Raum in der Gesamtwirtschaft ein.» Und Auswirkungen in der medizinischen Praxis, die in die Richtung einer rein profitorientierten Kommerzialisierung von Gesundheitsleistungen gehen, seien kritisch zu betrachten.
Es gebe im derzeitigen System problematische Fehlanreize und Entwicklungen, die einen negativen Einfluss auf die Arzt-Patienten-Beziehung haben können. Der Managementforscher begrüsst deshalb kreative Initiativen wie das Sprechzimmerplus oder das Café Med: «Es ist gut, Neues auszuprobieren.» Letztlich brauche es aber Lösungen im Kern des Gesundheitssystems.
Matthias Mitterlechner forscht deshalb zu integrierten Versorgungssystemen, bei denen Ressourcen institutionenübergreifend genutzt werden (siehe auch Interview rechts). «Die Bedürfnisse der Patienten werden immer komplexer», sagt er und fügt hinzu: «Multimorbide Patienten brauchen in der Regel nicht nur einen Leistungserbringer, sondern ein koordiniertes Zusammenspiel mehrerer Leistungserbringer.» Doch gerade darauf seien die heutigen Einzelleistungstarife nicht ausgelegt. «Sie belohnen Menge und schaffen zu wenig Anreize, Prozesse im Sinne der Patientinnen und Patienten zu koordinieren.» Der Managementforscher würde sich deshalb wünschen, künftig vermehrt mit alternativen Vergütungsmodellen zu experimentieren. «Doch da waren wir in der Schweiz bislang eher zurückhaltend.»
Ressourcen gemeinsam nutzen
Im Sprechzimmerplus wird bereits jetzt darauf gesetzt, Ressourcen gemeinsam zu nutzen. «Nicht jede Praxis braucht ein eigenes Labor sowie eine eigene Infrastruktur. Wir ermöglichen es Ärzten und Partnern, unsere Infrastruktur effektiv mit zu nutzen», erklärt Cornelius Warncke. Das sei ähnlich wie bei Start-ups, die sich Ressourcen teilen, statt die ganze Infrastruktur selbst aufzubauen. Und tatsächlich: Ein bisschen Start-up-Atmosphäre liegt bei der Eröffnungsfeier des Sprechzimmerplus in der Luft – mit aller Vorfreude, Begeisterung, aber auch Unsicherheit, die zu solch einer Unternehmung gehört. Obwohl sich das Konzept noch nicht etablieren konnte und noch eine gewisse Unsicherheit mitschwingt, ist Cornelius Warncke optimistisch: «Unser Konzept kommt bereits jetzt bei den Patienten sehr gut an. Sicher muss es sich weiter etablieren, doch wir haben ein gutes Gefühl.»
Es scheint also Pioniergeist zu brauchen, um im jetzigen Gesundheitssystem mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten zu gewinnen – und das, obwohl sie und ihr Wohlbefinden eigentlich im Zentrum der medizinischen Wertschöpfung stehen.
Literatur
Trezzini B et al. Hohe Impfbereitschaft bei Ärztinnen und Ärzten. Schweiz Ärzteztg. 2021;102(44):1432-35.
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