Für viele Hausarztpraxen werden händeringend Nachfolger gesucht. Oft müssen Praxen einfach aufgegeben werden – wie die Gemeinschaftspraxis von Beatrice Würmli. Manchmal gelingt auch die Übergabe, so wie bei Jörg Rohrer. Beide haben in Bern gearbeitet, jetzt trafen sie sich zum Gespräch in Zollikofen: über einen Beruf im Wandel.
Alle Hausärzte in Bern kannten dich», sagt Beatrice Würmli zu Jörg Rohrer. «Du bist der, der seine Praxis übergeben konnte.» Jahrelang hatten beide Nachfolger für ihre Praxen gesucht: über Mund-zu-Mund-Propaganda, über Inserate, über Praxisassistenten, über einschlägige Veranstaltungen. «Man hat das Gefühl, viele wollen mit den Praxisvermittlungen Geld verdienen», sagt Beatrice Würmli. Für Jörg Rohrer aber, der schon dabei war, die Liquidation seiner Praxis vorzubereiten, brachte eine solche Veranstaltung die erhoffte Wende: Ein Treuhändler stellte den Kontakt zu zwei jungen Ärzten her, an die er im Herbst 2021 seine Praxis übergeben konnte. 15% dessen, was er 26 Jahre zuvor an seinen Vorgänger bezahlt hatte, hat er 2021 noch bekommen. Beatrice Würmli und ihre Kollegen hätten ihre Gemeinschaftspraxis ohne eine Ablösesumme übergeben. So stand es auch im Inserat. Trotzdem fanden sie keine Interessenten. Als in ihrer Dreier-Praxis zwei Ärzte in den Ruhestand gingen und keine Nachfolger gefunden werden konnten, lösten sie im Sommer 2022 gemeinsam ihre Praxis auf.
Während die Patienten und Patientinnen von Jörg Rohrer weiterhin in ihre alte Praxis gehen können, half Beatrice Würmli ihren Patienten bei der Suche nach einem neuen Hausarzt. «Es gibt da furchtbare Szenen», sagt sie. «Gerade bei älteren Patienten löst das Ängste aus.» Immerhin konnte sie alle ihre Patientinnen und Patienten in Praxen in der Umgebung unterbringen, auch bei den Nachfolgern von Jörg Rohrer.
Beide wollten immer Hausärzte sein
Sie wollten ganz nah dran sein an den Menschen. In ihre Praxen kamen Erwachsene im Alter von 18 bis über 100 Jahre und in Ferienzeiten kamen auch manchmal noch Kinder dazu. Jörg Rohrer hat schon im Studium in einer der ersten Gruppenpraxen in Basel geschnuppert, später dann in der Hausarztpraxis seines Onkels gearbeitet. Beatrice Würmli hat länger als eigentlich geplant in einem Spital gearbeitet, weil es bis 2004 einen Ärztestopp gab und keine neuen Praxen eröffnet werden konnten.
«Wir haben nicht vor uns hingeschmollt, sondern sind politisch aktiv geworden», sagt Jörg Rohrer.
Sie erzählen von den vielen Hausbesuchen, die sie gemacht haben, weil das für sie zum Beruf dazugehörte. Sie hätten die medizinischen Probleme mancher Patienten viel besser verstanden, wenn sie sie in ihrer häuslichen Umgebung gesehen haben. Sie sahen Hilflosigkeit, manchmal Verwahrlosung, manchmal auch einfach, dass eine steile Treppe zwischen dem verordneten Sauerstoffgerät in der ersten Etage und dem Schlafzimmer in der zweiten lag. Das alles erfahre man von den Patienten und Patientinnen in der Praxis oft nicht. Wenn Hygiene das Problem sei, dann könne man das ja thematisieren. Vielleicht braucht die Patientin oder der Patient dann eine Putzhilfe oder vielleicht die Spitex, vielleicht auch ein zweites Sauerstoffgerät. Auch das alles zu organisieren, gehörte für Beatrice Würmli und Jörg Rohrer zum Beruf.
Zu wenig Zeit für zu viele Aufgaben
«Heute habe ich 15 bis 20 Minuten für einen Patienten. Da ist ein alter Mensch ja kaum ausgezogen», meint Beatrice Würmli. Jörg Rohrer sieht eine Benachteiligung der Hausarztmedizin, weil gesprächsorientierte Medizin so schlecht abgegolten wird. Er hatte sich unter anderen auf psychosomatische und Männermedizin spezialisiert: «Männer brauchen noch mehr Zeit, ehe sie zu reden anfangen.» Manchmal sei er am Ende mehr Heiltechniker als Mediziner gewesen, sagt er.
Es geht immer wieder auch um Politik
Auf dem Tisch liegt ein Bildband: «Mut zur Wut», über die grosse Kundgebung mit 12 000 Schweizer Hausärzten und -ärztinnen am 1. April 2006 in Bern. Sie waren beide damals auf dem Bundesplatz dabei. «Wir haben nicht vor uns hingeschmollt, sondern sind politisch aktiv geworden», sagt Jörg Rohrer. Dass die medizinische Grundversorgung heute in der Bundesverfassung verankert ist, hatte auch dort seinen Anfang. Seitdem habe sich einiges verändert. «Akademisch waren wir vorher gar nicht vorhanden», sagt Jörg Rohrer. Heute gibt es an etlichen Schweizer Universitäten Institute für Hausarztmedizin. Rohrer hat selbst am Berner Institut für Hausarztmedizin BIHAM seine Erfahrungen in Gesprächsführung an Medizinstudenten und -studentinnen weitergegeben. Ausserdem erleben diese heute schon im Studium das reale Leben in einer Hausarztpraxis. «Von meinen sechs Praxisassistenten arbeiten heute vier in einer Hausarztpraxis», sagt Rohrer. Aber nur einer von ihnen ist selbstständig. Die Jungen wollten lieber angestellt sein und hin und wieder ein arbeitsfreies Wochenende.
Dr. med. Jörg Rohrer und Dr. med. Beatrice Würmli haben Nachfolger für ihre Praxen gesucht. Jörg Rohrer ist fündig geworden, Beatrice Würmli nicht.
Die Kehrseite eines schönen Berufes
Beatrice Würmli und Jörg Rohrer verstehen die jungen Ärzte und Ärztinnen nur zu gut. Sie erzählen von den vielen Stunden, die sie nicht am Patienten gearbeitet, sondern mit immer mehr Administration beschäftigt waren. Sie erzählen von schlaflosen Nächten wegen des permanenten Spardrucks auf Kosten der Patienten und Patientinnen und von der ausufernden Spezialisierung und Subspezialisierung in der Medizin.
Dabei sei aus internationalen Studien bekannt, dass ein Gesundheitssystem billiger ist, je mehr Hausärzte es gibt, weiss Jörg Rohrer. Es macht ihnen Sorgen, dass heute oft nicht mehr Ärzte und Ärztinnen die medizinische Versorgung in der Hand haben, sondern Unternehmen. So seien die grösste Hausarztpraxis und die grösste Versandapotheke der Schweiz heute in der Hand der Migros.
Sie vermissen ihre Arbeit eigentlich nicht. Vor allem nicht die langen Samstage mit administrativen Arbeiten. Da können sie jetzt zum Beispiel endlich auf den Märit gehen. Oder in ein Konzert. Aber die Arbeit mit den Menschen vermissen sie. «Ich vermisse diese Geschichten, diesen farbigen Baum vom Leben. Das vermisse ich ganz fest», sagt Beatrice Würmli. So geht es auch Jörg Rohrer. Er würde auch heute wieder Hausarzt werden. Und Beatrice Würmli? Sie auch. Aber vielleicht nicht gerade jetzt.