Online, Präsenz oder Mischform?

Online, Präsenz oder Mischform?

Organisationen
Ausgabe
2023/46
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.1215589353
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(46):38-40

Affiliations
a Prof. Dr. med., Universität Fribourg
b Dr. med., Universität Basel
c Prof. Dr., Universität St. Gallen
d Prof. Dr. med., ETH Zürich
e Università Svizzera Italiana
f Dr., Universität Fribourg
g Dr. med., Universität Luzern
h Dr. med., Universität Basel
i Prof. em. Dr. med., Universität Zürich
j M. A., ETH Zürich
Diese Publikation ist die Zusammenfassung der Diskussionen an einem Workshop des Bildungsnetzwerks Medizin.

Publiziert am 17.11.2023

Vorlesungen
Seit dem Ende der Pandemie stellt sich an den Universitäten – nicht nur in der Medizin – die Frage, ob Vorlesungen in Zukunft im Hörsaal in Anwesenheit der Studierenden, online oder in hybrider Form stattfinden sollen. Es gilt, die Vor- und Nachteile der verschiedenen Unterrichtsarten gegeneinander abzuwägen.
Seit der COVID-19-Pandemie und der daraus resultierenden notwendigen Umstellung auf Online-Unterricht wird betreffend der Präsenzlehre eine Veränderung der Ansprüche und des Verhaltens der Studierenden beobachtet. Insbesondere das Format Vorlesung ist davon betroffen. Mehrheitlich ist man an den Medizinischen Fakultäten wieder in den Hörsaal zurückgekehrt. An einzelnen Fakultäten werden die Veranstaltungen ergänzend noch live «gestreamt». Unabhängig davon, ob die Vorlesungen in Präsenz der Studierenden oder online («streaming») gehalten werden, werden sie vielerorts aufgezeichnet und den Studierenden zur Verfügung gestellt («live on tape»). Die Aufzeichnungen sind für die Studierenden ein oder zwei Tage nach der Vorlesung verfügbar. An manchen Universitäten werden sie den Studierenden erst für die Prüfungsvorbereitung zur Verfügung gestellt.

Aufzeichnungen sind sehr geschätzt

Die Wünsche der Studierenden sind bezüglich der Vorlesungen unterschiedlich. Ein Teil bevorzugt den Präsenzunterricht im Hörsaal, während ein anderer den Live-Stream favorisiert. Aufzeichnungen oder Videos zu den Veranstaltungen werden von der Mehrheit geschätzt und genutzt. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Einerseits ermöglichen Aufzeichnungen das orts- und zeitunabhängige Lernen und tragen damit möglicherweise zur Optimierung des Tagesablaufes der Studierenden bei. Andererseits ermöglichen sie das Überspringen respektive Wiederholen von Sequenzen sowie das schnellere Abspielen. Eine Folge ist, dass die Anzahl Studierender, die die Vorlesung im Hörsaal besuchen, markant zurückgegangen ist. Während dieser Zeit haben sich die Prüfungsergebnisse passager teilweise deutlich verschlechtert. Ein kausaler Zusammenhang zur Online-Vorlesung ist aber nicht nachgewiesen.
Vermutlich an allen Medizinischen Fakultäten sind die für den Unterricht verantwortlichen Personen mit der Frage konfrontiert, wie Vorlesungen in Zukunft angeboten werden sollen. Nur in Präsenz, nur online, in hybrider Form, sollen Aufzeichnungen erstellt werden oder nicht, wann sollen die Aufzeichnungen für die Studierenden verfügbar sein. Dabei stellt sich die Frage, was die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Methoden sind. Damit assoziiert sind weitere Fragen: Welche Lernziele verfolgt eine Vorlesung? Wozu sollen Vorlesungen eingesetzt werden? Was ist der Benefit für die Studierenden gegenüber der Empfehlung, sich das Wissen mit dem Lesen eines Lehrbuchs oder anderer Quellen wie Onlineressourcen anzueignen?
Traditionell dienen Vorlesungen der Vermittlung von Wissen. In geringerem Mass kann auch die Anwendung von Wissen bei der Lösung klinischer Fragestellungen und Probleme – vor allem der diagnostische Prozess und Therapieempfehlungen – in Vorlesungen vermittelt werden.
Abbildung 1: Darstellung der verschiedenen Vorlesungsformen.

Vorteile der Präsenzvorlesungen

Die Dozierenden vermitteln Wissen und das bedeutet nicht nur die Weitergabe von Informationen. Die Dozierenden helfen den Studierenden, die teilweise komplizierten Inhalte zu verstehen und sich anzueignen. Sie gewichten auch in Relevantes und weniger Relevantes und weisen auf die Herausforderungen hin, die mit diesem Wissen, seiner Entwicklung und seiner Anwendung verbunden sind. Mit ihrer Erfahrung und Expertise verdeutlichen die Dozierenden auch ihre professionelle Einstellung – Werte und Verhaltensweisen – und sind damit Vorbild oder Rollenmodell. So tragen sie zur beruflichen Sozialisation der Studierenden bei, im Rahmen der Identitätsbildung.
Die Dozierenden sind auch Lernbegleiterinnen und Lernbegleiter. Während, vor und nach der Vorlesung erhalten sie von den Studierenden – verbal und averbal – Feedback. Erfahrene Dozierende bemerken während ihres Vortrags, dass die Studierenden etwas nicht verstehen und können es nochmals erklären und mit Beispielen erläutern. Sie realisieren auch, wenn es den Studierenden langweilig wird, und können Massnahmen dagegen ergreifen. Im Gegensatz zur Online-Vorlesung sind Interaktionen unmittelbar und vielfältiger. Während Präsenzvorlesungen besteht auch die Möglichkeit, Patientinnen und Patienten vorzustellen. Prinzipiell wäre das auch bei Online-Vorlesungen möglich. Aufgrund von Datenschutzvorschriften und der Wahrung der Persönlichkeitsrechte ist dies aber aufwendiger als bei Präsenzvorlesungen. Daher werden Patienten nur sehr selten vorgestellt.
Wichtig sind auch die Interaktionen der Studierenden untereinander. Mit den Interaktionen können Fragen und Unklarheiten aufkommen, Wissen wird mobilisiert und bei Diskussionen mit Mitstudierenden kann gelernt werden. Es ist auch ein Raum für soziale Unterstützung und Zugehörigkeit. Während der Pandemie beklagten die Studierenden die fehlenden Kontakte mit anderen Studierenden.

Nachteile der Präsenzvorlesungen

Für die Durchführung von Präsenzvorlesungen sind ausreichend grosse Hörsäle erforderlich, was bei steigenden Studierendenzahlen eine Herausforderung für die Fakultäten sein kann. Zudem sind die Präsenzvorlesungen ortsgebunden. Dies erfordert von Studierenden, die ihren Wohnort nicht nahe der jeweiligen Universität haben, die Anreise zu den Veranstaltungen.

Die Besucherzahl im Hörsaal war wesentlich geringer als vor der Pandemie. Dies kann für die Dozierenden demotivierend sein.

Vorteile der Online-Vorlesungen

Als grosse Vorteile der Online-Vorlesungen werden die zeitliche und örtliche Unabhängigkeit genannt. Studierende können den Vorlesungen – wenn sie auch als Aufzeichnung zur Verfügung stehen – jederzeit und überall folgen. Das ist vor allem für jene von Vorteil, die neben dem Studium einer Arbeit oder anderen Tätigkeiten (zum Beispiel Ehrenamt, Familienpflichten) nachgehen.
Ein weiterer Vorteil ist die Skalierbarkeit, das heisst, es spielt keine Rolle, ob die Vorlesung für 100 oder 1000 Studierende gehalten wird. Aufgezeichnete Vorlesungen können auch Studierenden späterer Jahrgänge zur Verfügung gestellt werden, und die Dozierenden müssen die Vorlesung nicht regelmässig halten. Das ist für die Dozierenden aufgrund der Zeitersparnis ein Vorteil, Interaktionen während der Vorlesungen sind aber mit den Studierenden nicht möglich, ausser wenn Möglichkeiten für den asynchronen Austausch (Forum, Diskussion) speziell dafür vorgesehen werden.

Aufgrund der Erfahrungen und technischen Möglichkeiten ist eine Rückkehr zu alleinigen Präsenzvorlesungen unwahrscheinlich.

Mehrere Dozierenden berichteten, dass während den Online-Vorlesungen über den «Chat» deutlich mehr Fragen gestellt werden als im Präsenzunterricht. Die Hemmschwelle, Fragen zu stellen scheint niedriger zu sein als in den Präsenzvorlesungen. Nach Angaben mehrerer Teilnehmenden am Workshop hat die Häufigkeit, Fragen im Chat zu stellen aber wieder deutlich abgenommen.

Nachteile der Online-Vorlesungen

Wenn die Vorlesungen online in einem räumlichen Setting ausserhalb der Universität angesehen werden, fehlt die Interaktion zwischen den Studierenden und damit der Vergleich mit den Mitstudierenden. Wenn die Studierenden an den Vorlesungen nicht mehr regelmässig teilnehmen, sondern nur noch irgendwann vor der Prüfung die Aufzeichnungen ansehen, steigt die Eigenverantwortung, regelmässig zu lernen, und erfordert mehr persönliche Strukturierung. Die Prüfungsresultate waren teilweise deutlich schlechter als vor der Pandemie. Eine mögliche Erklärung ist, dass die Studierenden die Podcasts erst kurz vor der Prüfung ansahen und teilweise in doppelter Geschwindigkeit abspielten (wie einige Studierende berichteten). Eine weitere Ursache könnte die fehlende Vergleichsmöglichkeit mit Mitstudierenden sein.
Seit die Vorlesungen wieder im Hörsaal stattfinden und diese «gestreamt» und/oder als Podcast zur Verfügung gestellt werden, blieb die Besucherzahl im Hörsaal auf wesentlich tieferem Niveau als vor der Pandemie. Dies kann für die Dozierenden, je nach Engagement, Zeitaufwand und investierten Ressourcen, sehr demotivierend sein. Ein Dozent sagte: «Wenn die Studierenden nicht mehr kommen, komme ich auch nicht mehr und stelle ihnen einfach die Aufzeichnung vom vergangenen Jahr zur Verfügung.»
Eine besondere Form sind die hybriden Vorlesungen – Vorlesung im Hörsaal mit gleichzeitiger Übertragung. Der technische, personelle und zeitliche Aufwand dafür ist gross. Neben dem Dozenten oder der Dozentin ist in vielen Fällen eine weitere Person notwendig, welche die technischen Einrichtungen bedient und während der Vorlesung die Fragen im Chat den Dozierenden mitteilt. Es verlangt auch einiges an didaktischem Geschick, wenn man alle Studierenden – nicht nur die im Hörsaal – in den Unterricht integrieren will. Ein weiteres Problem für die Studierenden ist eine unzureichende Qualität der Internetverbindung, was die Teilnahme erschweren kann. Der Einsatz von hybriden Vorlesungen sollte aus Sicht der Teilnehmenden in Anbetracht des damit verbundenen Aufwands besonders sorgfältig bedacht werden.

Mögliches Szenarium für die Zukunft

Aufgrund der technischen Möglichkeiten und der Erfahrungen während und nach der Pandemie ist eine Rückkehr zu alleinigen Präsenzvorlesungen ohne Aufzeichnung unwahrscheinlich. Die Studierenden wünschen sich aufgrund nachvollziehbarer Gründe Aufzeichnungen der Vorlesungen und damit mehr Flexibilität. Anhand der aufgezeigten Vor- und Nachteile der verschiedenen Formate lassen sich Entwicklungsoptionen diskutieren. Wichtig ist auch die richtige Nutzung der didaktischen Möglichkeiten der verschiedenen Formate. Grundlegend stellt sich dabei die Frage, ob die traditionelle Vorlesung in einen Wissensvermittlungsteil und einen interaktiven Teil zur Wissensanwendung geteilt werden kann.

Es sollten didaktische Überlegungen im Vordergrund stehen, um die besten Lösungen für den Lernerfolg der Studierenden zu finden.

Für eine effiziente Wissensvermittlung bieten sich multimediale Podcasts mit verschiedenen Sequenzen (Vortrag, Video, Grafiken etc.) an. Diese können zwischen den verantwortlichen Dozierenden – auch verschiedener Universitäten – abgestimmt und mit zusätzlichen Quellen angereichert und didaktisch gestaltet werden. Nach einzelnen Abschnitten oder am Ende des Podcasts können Fragen eingebaut werden, die von den Studierenden zu beantworten sind. Diese Podcasts sind Basis und Voraussetzung für den darauf aufbauenden interaktiven Teil («Flipped Classroom»).
Die Erstellung wertvoller Podcasts ist aufwendig und mit Kosten verbunden. Allerdings könnten diese, wenn sie gemeinsam entwickelt werden, an verschiedenen Universitäten und zum Teil für mehrere Jahre verwendet werden, und die damit freiwerdenden zeitlichen Ressourcen könnten für die Wissensanwendung eingesetzt werden. Dieser Teil sollte aus didaktischen Gründen interaktiv in Präsenz der Studierenden stattfinden, wenn möglich in kleineren Gruppen.
Abschliessende und eindeutige Antworten auf die Frage, wie die Vorlesungen in Zukunft gestalten und gehalten werden, sind noch nicht möglich. Im Rahmen der Pandemie verlagerte sich der Unterricht auf Fernunterricht meistens ohne grosse didaktische Überlegungen. Es gilt, die Vor- und Nachteile verschiedener Unterrichtsarten gegeneinander abzuwägen. Vor allem aber sollten didaktische Überlegungen im Vordergrund stehen, um für den Lernerfolg der Studierenden die am besten geeigneten Lösungen zu finden.
johann.steurer[at]uzh.ch
Danksagung
Wir danken Frau Prof. C. Maake, Universität Zürich, für ihre wertvollen Kommentare.

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