Integrierte Versorgung: Die Umsetzung möglich machen

Organisationen
Ausgabe
2023/47
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.1244255598
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(47):32-35

Affiliations
a fmc Geschäftsführer
b fmc Präsidentin

Publiziert am 22.11.2023

Pionierarbeit 2.0
Die integrierte Versorgung ist in der Schweiz bereits etabliert – könnte man meinen. Schliesslich wird sie schon seit Jahrzehnten gepflegt. Tatsächlich braucht es aber noch einmal einen Schub Pionierarbeit, um die Kooperation und Koordination voranzutreiben. Wie das gelingt.
Die Fach- und die Publikumspresse überbietet sich derzeit mit alarmierenden Nachrichten über den Zustand unseres Gesundheitssystems. Eines ist sicher: Das Gesundheitssystem steht vor grossen Herausforderungen. Derzeit noch stark auf die medizinische Akutversorgung ausgerichtet, sieht sich das Gesundheitssystem zunehmend mit chronischen und komplexen Krankheitsbildern konfrontiert. Diese Komplexität hängt mit der globalen demografischen und epidemiologischen Entwicklung, dem Zusammenspiel der bio-psycho-sozialen Merkmale der Betroffenen, aber auch mit den Eigenschaften des Gesundheitssystems zusammen. Es geht also nicht mehr nur darum, das Krankheitsmanagement zu koordinieren, sondern vor allem darum, die Gesamtheit der bio-psycho-sozialen und umweltbedingten Bedürfnisse zu managen, und zwar in enger Zusammenarbeit mit den betroffenen Akteuren: den Patientinnen und Patienten, den Angehörigen und den Fachkräften des Gesundheits- und Sozialwesens. Dies stellt sowohl für die bereits überlasteten Fachkräfte als auch für die Patientinnen und Patienten eine zusätzliche Herausforderung dar.
Wie die integrierte Versorgung weiter vorangetrieben werden kann, hat eine Arbeitsgruppe besprochen.
© Josh Calabrese / Unsplash

Wie ist der Entwicklungsstand der integrierten Versorgung in der Schweiz und wie wird diese weiter gefördert?

Nicht nur das Bundesamt für Gesundheit sieht die «Verstärkung der Koordinierten Versorgung» (Ziel 5.1 der Gesundheitsstrategie 2030) als zentral an [1]. Mittlerweile plädieren viele Gesundheitsexpertinnen und -experten für die Förderung der koordinierten und integrierten Versorgung. Die Fachliteratur produziert hierzu Seite um Seite. Es scheint mehrheitlich bekannt zu sein, was integrierte Versorgung ist und welche Struktur- und Versorgungselemente sie enthalten soll. Trotzdem ist die Frage berechtigt: Wie ist der Entwicklungsstand der integrierten Versorgung in der Schweiz und wie wird diese weiter gefördert? Schliesslich besteht, wie oben erwähnt, eine grosse Einigkeit, dass Veränderungen notwendig beziehungsweise alternativlos sind.
Das Schweizer Forum für Integrierte Versorgung (fmc) hat in einer Arbeitsgruppe mit ausgewählten Mitgliedern die Fragen dieses Entwicklungsstandes und der Förderung diskutiert. Nachfolgend werden – ergänzt um weitere Aspekte – die Ergebnisse der Arbeitsgruppe dargestellt. Besonders vertieft werden diese Punkte:
  • Beschreibung der integrierten Versorgung,
  • Leistungen und Herausforderungen der integrierten Versorgung
  • Förderungsmöglichkeiten der integrierten Versorgung
  • Booster der integrierten Versorgung

Was ist integrierte Versorgung?

Eine abschliessende Definition der integrierten Versorgung ist nicht möglich. Sie lässt sich aber folgendermassen beschreiben:
Integrierte Versorgung …
  • … meint das vereinbarte und geplante Zusammenspiel der Versorgungspartner (Leistungserbringer, Kostenträger, Patienten, Dienstleister) über den ganzen Lebenszyklus eines Menschen sowie den Behandlungs- und Betreuungsweg innerhalb des Gesundheits- und Sozialsystems.
  • … versteht die Behandlung und Betreuung von betroffenen Menschen als interprofessionelle Teamleistung («Kultur des Gemeinsamen» & «Unser gemeinsamer Patient»).
  • … betrachtet die betroffenen Menschen (und ihre Vertrauenspersonen) ganzheitlich und als Partner, welche die Behandlung und Betreuung wesentlich unterstützen können.
  • … nutzt digitale Hilfsmittel für die Kooperation, Koordination und Kommunikation sowie die Versorgungsdaten für ein Populations-Management.
Diese Beschreibung zeigt auf, dass integrierte Versorgung einen umfassenden und ganzheitlichen Ansatz verfolgt, sowohl bei den involvierten Akteuren und Betroffenen als auch den Systemen, den Perspektiven und den Strukturen und Mitteln. Dieser Ansatz ist aber gleichzeitig auch der Grund, warum integrierte Versorgung ein «Umsetzungsproblem» besitzt. Wo fängt man an? Womit beschäftigt man sich? Wie setzt man es um? Matthias Mitterlechner beschreibt die Ausgangssituation der integrierten Versorgung positiv formuliert als «vielschichtigen, widersprüchlichen und dynamischen Handlungskontext» [2] und spricht gleichzeitig von der «unwahrscheinlichen Leistung» der integrierten Versorgung [3].

Die alternativen Versicherungsmodelle sollten zu Versorgungsmodellen weiterentwickelt werden.

Leistung und Herausforderungen

Integrierte Versorgung ist eine organisations-übergreifende Zusammenarbeit zwischen den Institutionen, Fachpersonen und Betroffenen. Aber wie soll sie möglich werden, wenn
  • besonders die Gesundheitsfachpersonen durch die anspruchsvolle Arbeit für die Betroffenen so absorbiert sind, dass die Fragen der Zusammenarbeit im operativen Alltag gar nicht berücksichtigt werden können?
  • die Partner der integrierten Versorgung sich durch die Differenzierung der hochspezifischen Praktiken nur noch mit hohem Kommunikationsaufwand verständigen können?
  • mit integrierter Versorgung immer eine (wahrgenommene) Einschränkung der individuellen Wahlfreiheiten einher geht? [3]
Und dies in einem System
  • das durch die gesetzlichen Rahmenbedingungen höchst fragmentiert ist, verbunden mit unklaren und unterschiedlichen Aufgaben- und Kompetenzverteilungen zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden,
  • eine starre Definition der Leistungen und der Leistungsakteure vorsieht und dadurch Entwicklungen und Möglichkeiten neuer Berufsrollen nicht integrieren kann sowie
  • Fehlanreize aufweist bei der Finanzierung (Prämien vs. Steuern) und der Vergütung (traditionelle, individuelle Leistung vs. Versorgungsorientierte Teamleistung).
Integrierte Versorgung ist somit mit personen- und systembezogenen Herausforderungen konfrontiert, die es bei einer erfolgreichen Umsetzung zu lösen gilt.

Möglichkeiten zur Förderung

Grundsätzlich darf man die Frage stellen, ob etwas, was 2005 noch bewundernswert und anerkennend als «Schweizer Pionierarbeit» [4] bezeichnet wurde, überhaupt noch gefördert werden muss. In der Tat bietet das heutige System einen umfassenden Rahmen zur Förderung und Umsetzung der integrierten Versorgung.
Dies belegen die zahlreichen Umsetzungsprojekte wie zum Beispiel die 1. Erhebung Integrierte Versorgung Schweiz (2015–2016) [5], die Plattform Verzeichnis Modelle guter Praxis – Interprofessionalität [6], die Good-Practise Beispiele der fmc Denkstoff-Hefte [7] sowie der fmc Symposien [8], oder der in der Schweizerischen Ärztezeitung erschienene Artikel zu den Qualitäts- und Kosteneffekten von Ärztenetzen [9].
Damit sich die integrierte Versorgung weiterverbreitet, sollten die Akteure folgende Perspektiven einnehmen und Massnahmen ergreifen:
  1. Nutzung der bereits bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten (zum Beispiel Pauschalvergütungen, Versorgungsmanagement basierend auf Risikoausgleichs-Mechanismen, Anreize, etc.) und Weiterentwicklung und Verbreitung der bereits umgesetzten Massnahmen.
  2. Anpassung der gesetzlichen und tarifarischen Rahmenbedingungen an die veränderte Ausgangslage (Demographie, Epidemiologie, Fachkräfte und Digitalisierung) und die zukünftige Entwicklung.
  3. Entwicklung von (inter)professionellen, regionalen Austauschplattformen und Kooperationsformaten, welche die Koordination und Integration auf einer übergeordneten Ebene weiterentwickeln (zum Beispiel Delegation der organisationsübergreifenden Zusammenarbeit an Regionalvertreter).
  4. Offen sein für Neues in Bezug auf neue Kooperationen und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten und Verbindlichkeiten.
Die Frage bleibt, wie weit integrierte Versorgung etwa durch gesundheitspolitische Vorlagen initiiert werden kann. Sicherlich müssen zur Förderung bestehende rechtliche und strukturelle Hindernisse abgebaut werden. Massgeblich für den Erfolg ist aber die individuelle Kooperationsbereitschaft der Akteure. Drei Ziele – «money, fun and glory» - beschreiben gut, wie diese Zusammenarbeit gefördert werden kann [10]. Money steht für die Bezahlung der zusätzlichen kollaborativen Arbeit. Fun steht für den immateriellen Mehrwert (zum Beispiel Qualität des Arbeitslebens der Fachpersonen und Erfahrung der Patientinnen und Patienten), der durch die Zusammenarbeit entsteht [11, 12]. Und Glory für die Anerkennung und das Ansehen, die durch die vernetzte Arbeit erlangt werden.

Der neue Risikoausgleich

Mit den «Netzwerken zur koordinierten Versorgung (NKV)» [13] hat die Politik im Herbst 2022 einen «Booster» für die integrierte Versorgung vorgeschlagen. Eine breite Allianz der zentralen Systemakteure hat jedoch darauf hingewiesen, dass der relevante Booster mit dem neuen Risikoausgleich seit 2020 und den alternativen Versicherungsmodellen (AVM) bereits zur Verfügung stehe [14].
Integrierte Versorgung wird ein grosser Gewinner des morbiditätsorientierten Risikoausgleichs werden, wenn es gelingt, die AVM von Versicherungsmodellen zu Versorgungsmodellen weiterzuentwickeln. Wie die aktuelle fmc-Versichertenumfrage zeigt, haben sich mittlerweile 75% der Schweizer Bevölkerung für ein alternatives Versicherungsprodukt entschieden [15].
Aber ein AVM ist nicht automatisch ein Versorgungsmodell. Viele AVM werden von den Krankenversicherern aus reiner Prämien-(Spar-)Optik beziehungsweise aus Marktüberlegungen angeboten. Das zentrale Produkt-Systemelement ist dabei die Koordination des Zugangs zum Gesundheitswesen und nicht die Leistungskoordination. Solche Produkte weisen kaum eine koordinierte und integrierte Versorgung auf. Als Bedingung, damit ein AVM als ein Versorgungsmodell («echtes koordiniertes AVM») angesehen und entsprechend wirken kann, sollte es ein
  • definiertes und allen Akteuren bekanntes Versichertenkollektiv aufweisen.
  • Vereinbarungen zum Versorgungsmanagement mit klaren Regelungen zur Zugangsbeschränkung sowie zum Behandlungs-, Qualitäts- und Datenmanagement aufweisen.
Durch diese beiden Praxis-Prinzipien werden Voraussetzungen geschaffen, um gesamtverantwortliche Versorgungsstrukturen zu entwickeln. Als Wiederholung und in Anlehnung an die Managed Care Erfahrungen Anfang der 1990er Jahre lohnt sich durchaus wieder ein vertiefter Blick auf die Erfahrungen mit «Accountable Care Organizations» in den USA [16]. Neben dem «keep an open mind» werden zwei Systemelemente für die erfolgreiche Entwicklung von gesamtverantwortlichen Versorgungsstrukturen genannt [17] (Tabelle 1).

Wie gelingt die Förderung?

Zusammenfassend lässt sich die Frage so beantworten:
  • Integrierte Versorgung ist ein Zusammenwirken einzelner Personen. Die Kultur der Zusammenarbeit ist entscheidend für die Entwicklung und Wirkung von integrierter Versorgung. Der offene, transparente Dialog, eine partizipative Entscheidungsfindung und die Berücksichtigung der jeweiligen Systembedingungen fördern die Kultur des Gemeinsamen.
  • Die Organisationskultur der integrierten Versorgung bietet den Akteuren «Fun – Gemeinsamkeit und Unterstützung», «Glory – Anerkennung» und «Money – Wertschätzung und Vergütung».
  • In den gesamtverantwortlichen Versorgungs- und Organisationsstrukturen werden umsetzbare Konzepte und Massnahmen zur Kostenreduktion und Qualitätssteigerung definiert.
  • Es werden «analoge und digitale Hilfsmittel» genutzt, um die Massnahmen und Strukturen kontinuierlich zu beurteilen und weiterzuentwickeln.
Die Voraussetzungen in der Schweiz sind vorhanden, eine «Pionierarbeit 2.0» zu starten. Es liegt an engagierten Systemakteuren, die notwendigen Entwicklungen anzugehen. Sie können die erforderlichen Veränderungen bewirken und zur Förderung der Integrierten Versorgung beitragen.

Schweizer Forum für Integrierte Versorgung (fmc)

Seit mehr als 25 Jahren ist das Schweizer Forum für Integrierte Versorgung (fmc) der unabhängige Schweizer Thinktank für die Förderung der integrierten Versorgung. Durch unsere Vernetzung, den Wissens- und Erfahrungsaustausch und unsere Aktivitäten tragen wir zur Verbesserung der Qualität und Effizienz der Behandlung und Betreuung von Personen mit vielfältigen und vielschichtigen Gesundheitsproblemen, die eine Vielzahl an Gesundheits- und sozialen Unterstützungsleistungen benötigen, bei. Informationen unter: www.fmc.ch
oliver.strehle[at]fmc.ch
1 BAG. Gesundheitspolitische Strategie des Bundesrats 2020–2030. Bern (Schweiz): 2019. www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/gesundheit-2030/gesundheitspolitische-strategie-2030.html
2 Mitterlechner, M. (2023): Integrierte Versorgung als gemeinsames Unterfangen: Umsetzungs- oder Erkundungsherausforderung?; Präsentation von Matthias Mitterlechner an eine Sitzung des strategischen Beirates des fmc. Die Präsentation kann über den Autor bezogen werden
3 Mitterlechner M, Rüegg-Strüm J., Tuckermann, H (2013): Integrierte Gesundheitsversorgung: eine unwahrscheinliche Leistung, Schweizer Ärzteztg, 2013; 94: 26
4 Baur. R. (2005): Schweizer Pionierarbeit, Gesundheit und Gesellschaft, 2005, 8, 11, 36-41, und Strehle O., Weber A. (2008): Die Weiterentwicklung von Managed Care in der Schweiz, in: Gesundheitswesen Schweiz im Umbruch, In: Willy Oggier (Hrsg.): Handbuch Gesundheitswesen Schweiz im Umbruch: das interdisziplinäre Handbuch mit der prozess- und praxisorientierten Sichtweise (S. 1–14). Sursee: Trend Care
5 www.obsan.admin.ch/de/publikationen/2017-soins-integres-en-suisse
6 www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/nationale-gesundheitspolitik/foerderprogramme-der-fachkraefteinitiative-plus/foerderprogramme-interprofessionalitaet/projektverzeichnis-modelle-guter-praxis.html#:~:text=Das%20BAG%20f%C3%BChrt%20ein%20%C3%B6ffentlich,oder%20via%20Volltextsuche%20zu%20finden
7 www.fmc.ch/de/fmc-publikation/Denkstoff/Besseres-Zusammenwirken-des-Gesundheits-und-Sozialsystems-so-kann-es-gelingen
8 www.fmc.ch/de/symposium
9 Strehle O., Helg A. Qualität steigern und Kosten senken dank Ärztenetzen. Schweiz Ärzteztg. 2023;104(2728):36-38. saez.swisshealthweb.ch/de/article/doi/saez.2023.21796
10 Wirthner, A. (2007): Das macht Ärztenetze erfolgreich!, PrimaryCare 2007;7: Nr. 20-2
11 Amelung V, Stein V, Suter E, Goodwin N, Nolte E, Balicer R, editors. Handbook Integrated Care (2nd ed). Cham (Switzerland): Springer International Publishing; 2021. https://doi.org/10.1007/978-3-030-69262-9
12 fmc (2022): Value-based Healthcare – von der Theorie in die Praxis. Ein Leitfaden für die Umsetzung, https://www.fmc.ch/de/fmc-publikation/Impulse/value-based-healthcare-leitfaden, abgerufen am 04.08.2023
13 BAG (2022): Faktenblatt: Netzwerke zur koordinierten Versorgung, https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/72996.pdf, abgerufen am 04.08.2023
14 Bütikofer, A-G., Gilli, Y., Götschi, A.S., Kraft, E., Luchsinger, P., Mesnil, M., Ruggli, M., Truttmann, M., Wille, N. (2023): Koordination stärken statt Koordination überregulieren, Schweiz Ärzteztg. 2023;104(1415):26-30
15 fmc (2023): fmc AMV Versichertenumfrage 2022, fmc Impuls 01-23, https://www.fmc.ch/_Resources/Persistent/e75ab96f684867956601775b26777e6bf30ec9b2/AVM%20Versicherte%202022_fmc%20Impuls%2001.2023.pdf , abgerufen am 04.08.2023
16 Simon, B., Amelung, V. (2022): 10 Jahre Accountable Care Organizations in den USA: Impulse für Reformen in Deutschland?, Gesundheitswesen 2022; 84(03): e25-e25
17 fmc (2022): fmc Event zur Förderung von Gesundheitsregionen, fmc Impuls 2022, https://www.fmc.ch/de/fmc-publikation/Impulse/foerderung-von-gesundheitsregionen, abgerufen am 04.08.2023

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