Ein Blick in die Zukunft der Chirurgie

Ein Blick in die Zukunft der Chirurgie

Coverstory
Ausgabe
2023/48
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.1249087137
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(48):

Affiliations
Oberarzt Viszeralchirurgie am Universitären Bauchzentrum Basel Clarunis und Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Chirurgie (SGC-SSC). Er forscht zum Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Chirurgie und leitet zusammen mit Prof. Dr. Beat Müller das Digital Surgery Lab der Universität Basel.

Publiziert am 07.12.2023

Übungs-Operationssaal
Neue Technologien wie künstliche Intelligenz und Augmented Reality halten Einzug in den Operationssaal. Was da gerade passiert, verrät ein Besuch im neuen OR-X der Universitätsklinik Balgrist.
Drei türkisgrüne Buchstaben − OR-X − signalisieren schon von Weitem den Eingang zum frisch eröffneten Forschungs- und Lehrzentrum für chirurgische Translation der Universitätsklinik Balgrist in Zürich. Hinter der Tür windet sich eine weisse Treppe wie eine Schnecke zwei Stockwerke in die Tiefe. Früher befand sich dort unten ein Bunker, wo im Kriegsfall Notoperationen durchgeführt werden sollten. Jetzt sieht es ganz anders aus: Die Räume sind frisch renoviert und perfekt durchgestylt in klinischem Weiss mit türkisgrünen Akzenten auf Polstern, Wänden und Beschriftungen.
Das hochmoderne Zentrum entstand in einer Rekordzeit von knapp zwei Jahren. «Wir wollen damit eine Lücke schliessen, die ich seit vielen Jahren gespürt habe», erklärt Prof. Dr. med. Mazda Farshad, Medizinischer Direktor der Universitätsklinik Balgrist, Initiator und Gründer des OR-X, per Videocall. In einer realistischen Umgebung sollen hier unter einem Dach chirurgische Forschung, Entwicklung und Ausbildung stattfinden – unter Einbezug neuester Technologien. Mit dieser Kombination sei der OR-X einzigartig in der Schweiz, so Farshad.
OR-X-Mitgründer Philipp Fürnstahl ist Leiter des Balgrist Research in Orthopedic Computer Science. Bei OR-X ist er für die technische Infrastruktur verantwortlich.
© Nicolas Zonvi

«Wir wollen mit dem OR-X eine Lücke schliessen, die ich seit vielen Jahren gespürt habe.»

Mazda Farshad Medizinischer Direktor der Universitätsklinik Balgrist
An diesem Abend führt Prof. Dr. sc. Philipp Fürnstahl, Leiter des Balgrist Research in Orthopedic Computer Science, durch die Räume. Er ist Mitgründer des OR-X und vor allem für die technische Forschungsinfrastruktur verantwortlich. Sichtbar stolz steht er nun im Herzstück der Einrichtung, dem Operationssaal des OR-X, und zeigt auf den Tisch, die starken Lampen an der Decke, die vielen Monitore, den mobilen CT-Scanner für den intraoperativen Einsatz: «Der Raum ist eine 1:1-Kopie eines echten Operationssaals mit zertifizierten Geräten und Instrumenten.»
Philipp Fürnstahl im Operationssaal des OR-X: Eine Lüftungsanlage brauche es dort nicht.
© Nicolas Zonvi

Reale Bedingungen

Ein paar Besonderheiten gibt es dennoch. So fehlt die in die Decke eingelassene Lüftungsanlage, die bei Operationen das Eindringen von Keimen verhindert. «Das brauchen wir hier nicht», erklärt Fürnstahl. Denn: Auf diesem Operationstisch wird nie jemand liegen, der Schutz vor einer Infektion benötigt. Der OR-X ist für Plastikmodelle aus dem 3-D Drucker und verstorbene Menschen reserviert, die ihren Körper für diesen Zweck gespendet haben. Gleich nebenan gibt es einen Raum mit grossen Edelstahlbehältern, wo die Leichen konserviert sind.
Aber wieso dann die Mühe, alles wie in einem echten OP-Saal einzurichten? «Für die Forschung und Entwicklung ist eine realistische Umgebung sehr wichtig», erklärt Fürnstahl. Also gleiches Lichtspektrum, gleiche akustische Verhältnisse, gleiche Geräte. Er deutet mit dem Finger nach oben. Ist der Operationsraum das Herz des OR-X, so befindet sich dort das Gehirn: Statt der Lüftungsanlage sind in der begehbaren Decke Computerserver untergebracht. Über Kabel werden sämtliche Daten eingespeist, die Kameras und Sensoren während der simulierten Operationen abgreifen.
Arbeiten im Skills Lab des OR-X.
© Nicolas Zonvi
Mithilfe von künstlicher Intelligenz lassen sich diese Datenströme dann auswerten, etwa um die Sicherheit während chirurgischen Eingriffen zu erhöhen. In einem laufenden Projekt arbeitet Fürnstahl in einem internationalen Team daran, die Fähigkeiten von Operationsrobotern zu erweitern. «Heute dienen sie in der Orthopädie hauptsächlich als Positionierungshilfe», sagt Fürnstahl. Dank künstlicher Intelligenz könne der Roboter aber viel mehr lernen – beispielsweise anhand von Geräuschen zu erkennen, wann der Bohrer bald vom Knochen in Weichteile durchbricht, und die Chirurgin oder den Chirurgen vorher warnen.

Mithilfe von künstlicher Intelligenz lassen sich Datenströme auswerten, um die Sicherheit während chirurgischen Eingriffen zu erhöhen.

Eine realistische Umgebung ist ausserdem hilfreich beim Entwickeln und Validieren von neuen chirurgischen Medizinprodukten. Bereits jetzt mieten sich hierfür Firmen und Forschungsteams tageweise in den OR-X ein. So könnten die Innovationen schneller vom Labor in die Praxis gelangen.
Dasselbe gilt auch für die Entwicklung von neuen Operationsmethoden, wie Mazda Farshad berichtet. Bisher sei es immer sehr aufwendig gewesen, neue Ideen zu testen. Mit dem OR-X stehe innovativen Chirurginnen und Chirurgen nun «die perfekte Infrastruktur» zur Verfügung. Farshad arbeitet beispielsweise am Einsatz von Augmented Reality (AR) bei Eingriffen an der Wirbelsäule – dabei projiziert eine AR-Brille zusätzliche anatomische Informationen in das Sichtfeld des Chirurgen und hilft so, Schrauben im richtigen Winkel anzusetzen. Vor einigen Jahren setzte Farshad diese Technik weltweit erstmals bei einer Operation am lebenden Patienten ein. «Ein spannender Moment, aber es hat alles sehr gut geklappt», so Farshad. «Ich habe natürlich geübt. Aber wenn ich das damals schon in einer realen Umgebung wie dem OR-X hätte durchspielen können, wäre es viel einfacher gewesen.»

Steilere Lernkurve

Inzwischen muss Fürnstahl bei seinen Erklärungen im Operationssaal immer öfter die Stimme heben, denn aus dem Nebenraum dringt Lärm herein. Nach dem Öffnen der grossen Schiebetüren ist offensichtlich, was die Geräusche verursacht: Um drei Tische sind zahlreiche Gestalten in bodenlangen grünen Kitteln versammelt und hantieren konzentriert mit Knochensägen und Bohrern.
Dieser Raum ist das Schulungszentrum des OR-X, wo junge Chirurgen und Chirurginnen erste Erfahrungen sammeln können. Aber auch gestandene Operateure können im sogenannten Skills Lab noch etwas dazulernen. In der Testphase des OR-X während eines Symposiums nahmen über siebzig Chirurginnen und Chirurgen an einer Hybridveranstaltung teil: Zunächst wurde eine Endoskopie der Wirbelsäule im Operationssaal des OR-X demonstriert, danach trainierten die Teilnehmenden den gleichen Eingriff im Skills Lab an Modellen.

Der «Patient» besteht aus zwei Metallstäben, die durch ein Plastik-Kniegelenk aus dem 3D-Drucker verbunden sind.

An diesem Abend ist der Raum von sechs hauseigenen Assistenzärzten und Assistenzärztinnen belegt, die hier das Einsetzen einer Knieprothese üben. Der «Patient» besteht aus zwei Metallstäben, die in einem Winkel aufgestellt und durch ein Plastik-Kniegelenk aus dem 3D-Drucker verbunden sind. Auf einem Beistelltisch steht ein Koffer mit glänzenden chirurgischen Instrumenten parat, daneben liegt die Prothese aus Edelstahl – genau das gleiche Modell, das ein paar Stockwerke weiter oben den Patientinnen und Patienten der Universitätsklinik eingesetzt wird.
«Patient» aus zwei Metallstäben: PD Dr. med. Dr. sc. Lazaros Vlachopoulos, Leitender Arzt Kniechirurgie, (weisser Kittel) behandelt mit seinem Team ein Kniegelenk aus dem 3D-Drucker.
© Nicolas Zonvi
An einem der Tische arbeitet Dr. med. Niklas Bergheim gemeinsam mit einem Kollegen. Sie haben den Knochen schon unter Anleitung des Leitenden Arztes für Kniechirurgie durchtrennt und zugesägt – und dabei neben Lärm auch grosse Mengen an Plastikstaub erzeugt. Nun gilt es, den Knochen mithilfe von Schablonen für das Implantat vorzubereiten.
Für diese Hands-on-Erfahrung opfert Bergheim gerne seinen freien Abend. «Das ist es für mich auf jeden Fall wert. Das zusätzliche Üben unter Simulationsbedingungen gibt mir viel mehr Sicherheit im OP.» Denn sonst haben angehende Chirurginnen und Chirurgen im frühen Ausbildungsstadium nur selten Gelegenheit, in vollem Masse selbst Hand anzulegen. «Normalerweise macht man die ersten Erfahrungen am echten Patienten, natürlich supervisiert von erfahrenen Chirurgen», so Bergheim. Aber dort könne man initial nur kleine Teilschritte übernehmen, etwa das Zunähen, schliesslich stehe die Sicherheit des Patienten im Vordergrund. Hier im Skills Lab kann Bergheim die Implantation einer Knieprothese einmal von Anfang bis Ende durchspielen – ohne Zeitdruck und Angst vor Fehlern. Wenn etwas grob falsch läuft, muss kein Mensch darunter leiden.
Am Tisch nebenan ist die Assistenzärztin Isabel Gloor an der Arbeit. Zum ersten Mal darf sie die chirurgischen Instrumente in Ruhe ausprobieren. Gerade hat sie gemerkt, was dabei falsch laufen kann: «Man muss an den Rändern gut aufpassen, sonst verhaut es die Säge.» Solche praktischen Details lassen sich im Theorieunterricht nicht erlernen. In den nächsten Wochen werden Bergheim, Gloor und ihre Kolleginnen und Kollegen noch weitere Abende hier verbringen und orthopädische Routineeingriffe an anderen Körperteilen wie Schulter, Hüfte und Wirbelsäule üben – zuerst am Modell, dann an Körperspenden.

Der Raum ist eine 1:1-Kopie eines echten Operationssaals: gleiches Lichtspektrum, gleiche akustische Verhältnisse, gleiche Geräte.

In Zukunft wollen die Gründer des OR-X auch in der Ausbildung auf noch mehr auf neue Technologien setzen – zum Beispiel die Simulation von Operationen mit Augmented Reality. Angehende Chirurginnen und Chirurgen könnten dann die einzelnen Schritte im virtuellen Raum üben, jeder in seinem eigenen Tempo. Dies würde die Lernkurve weiter steigern und vielleicht eines Tages sogar die Ausbildung verkürzen.

Technik im Dienst des Menschen

Die jungen Assistenzärztinnen und -ärzte haben vor solchen Innovationen – in der Ausbildung und beim Einsatz im Operationssaal – keinerlei Berührungsängste: «Ich finde es toll, dass wir das von Anfang an gleich mitlernen», sagt Gloor. «Vieles wird dadurch bei einer Operation sicher einfacher, etwa wenn man zusätzliche Informationen mit Augmented Reality einblenden kann.»
Der gleichen Ansicht ist auch Bergheim, der jetzt gerade innerhalb von zwei Stunden erfolgreich die Implantation der Knieprothese absolviert hat: «Warum soll man keine Roboter einsetzen, wenn man merkt, dass er einzelne Schritte wesentlich genauer oder besser macht?» Er hat auch keine Bedenken, dass durch die neuen Technologien irgendwann der direkte Kontakt zu seinen Patienten verloren geht: «Wir sind ja nicht immer nur im Operationssaal. An zwei von fünf Tagen treffen wir die Patientinnen und Patienten in der Sprechstunde. Das ist ja gerade das Reizvolle an der Chirurgie: Man hat das Menschliche und zusätzlich noch die Technik.»

Chirurgische Innovation in der Schweiz

Neben dem OR-X gibt es in der Schweiz noch weitere Einrichtungen und Projekte, die neue Technologien in der Chirurgie entwickeln oder für die Schulung nutzen. Hier eine Auswahl:
  • Die Firma SurgeonsLab in Bern hat einen 4D-Simulator für mikrochirurgische Eingriffe im Hirn entwickelt.
  • Das Projekt MIRACLE der Universität Basel will minimalinvasive Eingriffe am Knochen mithilfe von Robotern, Augmented Reality und massgeschneiderten Implantaten aus dem 3D-Drucker ermöglichen.
  • Am Departement für Bioengineering der Universität Basel wollen Forschende bald in einem Digital Surgery Lab bei Operationen Daten sammeln und mit KI auswerten.
  • Mit dem Projekt «Proficiency» führen Schweizer Spitäler schrittweise ein standardisiertes chirurgisches Ausbildungsprogramm ein, das auf Technologien wie Simulationen und Augmented Reality beruht.
  • Auf neueste Technologien setzen auch die chirurgischen Skills Labs SITEM (Swiss Institute for Translational and Entrepreneurial Medicine) in Bern und SFITS (Swiss Foundation for Innovation and Training in Surgery) in Genf.
Interview

«Wie Piloten im Flugsimulator»

Herr Dr. Lavanchy, Sie waren selbst nicht an der Planung des OR-X beteiligt, haben das Projekt jedoch mitverfolgt. Was ist Ihr Eindruck?
Ich halte solche Einrichtungen für sehr wichtig für die Zukunft der Chirurgie. Die technologischen Möglichkeiten sind vorhanden, aber es wird noch viel zu selten etwas damit gemacht. Jetzt gilt es diese so zu nutzen, dass die Patientinnen und Patienten davon profitieren.
Im OR-X sollen Kameras und Sensoren die Daten von Operationen sammeln. Was bringt das?
Diese Daten, sowie auch Aufzeichnungen von echten Operationen, kann man mithilfe von künstlicher Intelligenz strukturiert auswerten und damit wissenschaftliche Fragestellungen beantworten. Mithilfe von Augmented Reality kann man daraus auch virtuelle Simulationen erstellen.
Welche Chancen bietet eine virtuelle Darstellung?
Zum einen können junge Chirurginnen und Chirurgen damit das Operieren üben und Erfahrungen in schwierigen Situationen sammeln, ähnlich wie Piloten in einem Flugsimulator. Zum anderen können erfahrene Operateure spezifische Eingriffe an individuellen Patienten-Modellen vorher trainieren. Ich glaube auch, dass man die Patienten mit virtuellen Modellen anschaulicher über Ablauf und Risiken einer Operation aufklären könnte.
Welche weiteren technischen Entwicklungen in der Chirurgie halten Sie für wichtig?
In der Robotik gibt es ebenfalls grosse Fortschritte. Heutzutage sind Operationsroboter eigentlich nur vom Chirurgen ferngesteuerte Maschinen. In Zukunft könnte man auch Daten von Sensoren und Bildgebung integrieren. Beispielsweise lässt der Roboter einen Operationsschritt nur dann zu, wenn keine Gefahr für benachbarte anatomische Strukturen besteht.
Braucht es in Zukunft also bald keine menschlichen Chirurginnen und Chirurgen mehr?
Davon sind wir noch sehr weit entfernt. Die Vision dieser Entwicklungen ist es, den Chirurgen bei seiner Arbeit zu unterstützen, etwa zum Vermeiden von Fehlern. Wir wollen nicht Methoden entwickeln, nur weil sie technisch möglich sind, sondern weil sie einen echten Nutzen haben.
Dr. med. Joël L. Lavanchy Oberarzt Viszeralchirurgie am Universitären Bauchzentrum Basel Clarunis und Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Chirurgie (SGC-SSC). Er forscht zum Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Chirurgie und leitet zusammen mit Prof. Dr. Beat Müller das Digital Surgery Lab der Universität Basel.
Nicolas Zonvi

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