Forschung
In der Onkologie hat sich die personalisierte Medizin längst durchgesetzt. Nun erobert sie auch andere Bereiche, insbesondere die Pharmakologie. Hoffnungen und Herausforderungen der Forschung in der Schweiz.
Personalisierte Medizin ist keine Zukunftsmusik mehr – sie ist schon Gegenwart. Zwischen 25% und 40% der von der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) seit 2015 zugelassenen therapeutischen Produkte haben laut der Personalized Medicine Coalition [1] mit Biomarkern zu tun. Dominant ist nach wie vor der Vorreiter Onkologie, doch andere Fachbereiche ziehen nach: Neun der siebzehn im Jahr 2021 zugelassenen personalisierten Therapien richten sich gegen Krebs, die anderen acht gegen AIDS, Anämie, Dermatitis und fünf seltene Krankheiten.
In der Onkologie ergänzen die neuen Medikamente ein breites Angebot, von der chirurgischen Ablation bis zur Strahlen-, Chemo- oder Immuntherapie. Welche Therapie wann und bei wem angezeigt ist, bildet eine der Herausforderungen in der klinischen Forschung. Die entsprechenden Leitlinien [2] enthalten komplexe Flowcharts, welche biomolekulare Diagnostik (die Expression bestimmter Antigene) mit einer Heuristik aus der klinischen Epidemiologie (etwa dem Patientenalter) verbinden.
«Die meisten ‘low hanging fruit’ – also die am einfachsten zu findenden Zielstrukturen – haben wir bereits ausgeschöpft.»
Prof. Dr. med. Solange Peters, Onkologin
Fast zwei Drittel der Krebspatientinnen und -patienten sind fünf Jahre nach der Diagnose noch am Leben. Das letzte Drittel dagegen muss auf die wissenschaftlichen Fortschritte setzen. «Wir brauchen neue therapeutische Zielstrukturen», erklärt Prof. Dr. med. Solange Peters, Chefärztin der Abteilung für medizinische Onkologie am Universitätsspital Lausanne (CHUV). «Die meisten ‘low hanging fruit’ ‒ also die am einfachsten zu findenden Zielstrukturen ‒ haben wir bereits ausgeschöpft. Dank kontraintuitiver Fälle, wie etwa Nichtraucher mit Lungenkrebs, konnten Zusammenhänge mit bestimmten Genen aufgedeckt und wichtige Biomarker gefunden werden. Nun gilt es, seltenere genetische Abweichungen zu identifizieren.»
Aus Fehlschlägen lernen
Die personalisierte Medizin ist Opfer ihres eigenen Erfolgs: Die neuen Zielstrukturen werden immer präziser und betreffen immer kleinere Populationen. Oft arbeitet die Forschung mit kleinen Kohorten von etwa 50 Personen, bei denen es schwierig ist, Zusammenhänge und Kausalitätseffekte nachzuweisen.
Für die Onkologin aus dem CHUV stellen Fälle, die nicht gut auf Behandlungen ansprechen und von der evidenzbasierten Medizin oft vernachlässigt wurden, ein Forschungspotenzial dar. Das gelte auch in der Immuntherapie; dort «hat man bislang die beiden Extremfälle der Ansprechskala – Patienten, die nicht auf die Behandlung ansprechen, und solche, die sehr gut darauf ansprechen – etwas links liegen lassen. Diese unter die Lupe zu nehmen, kann neue Wege zu einem besseres Verständnis der beteiligten Mechanismen eröffnen. Dazu gehört etwa eine genauere Charakterisierung der Patienten anhand der genetischen und der Immunprofile oder des Mikrobioms. Möglicherweise lassen sich damit Reaktionen auf therapeutische Optionen besser vorhersagen und teure, aber aussichtslose Therapien vermeiden. Eine weitere wichtige Frage ist, warum viele Therapien nach etlichen Monaten oder Jahren nicht mehr funktionieren.»
Therapiebeurteilung in vitro
Neue Therapieansätze werden sich zum einen aus der Analyse epidemiologischer und klinischer Daten ergeben und zum anderen aus der Grundlagenforschung. Diese profitiert seit einigen Jahren von speziellen Programmen wie dem strategischen Schwerpunkt «Personalisierte Gesundheit und zugehörige Technologien» des ETH-Rats. Die Initiative hat seit 2017 rund 100 Millionen Franken für mehr als 130 Projekte bereitgestellt, erklärt der Ärztlicher Direktor Prof. Dr. med. François Curtin, der den Begriff «Präzisionsmedizin» bevorzugt. «Wir ergänzen das Swiss Personalized Health Network. Dieses baut die Infrastrukturen für den Austausch von forschungsrelevanten biomedizinischen Daten aus und ermöglicht Innovationen, die solche Daten generieren können.»
Die personalisierte Medizin ist Opfer ihres eigenen Erfolgs: Die neuen Zielstrukturen werden immer präziser und betreffen immer kleinere Populationen.
Einige Projekte richten Plattformen für genomische, proteomische und metabolomische Analysen ein. Andere entwickeln maschinelle Lernansätze zur Analyse grosser Datenmengen, um etwa Infektionsfälle auf der Intensivstation frühzeitig erkennen oder Vorhersagen über den Verlauf der Multiplen Sklerose treffen zu können. Eine Zusammenarbeit zwischen dem Paul Scherrer Institut, der ETH Zürich und dem Universitätsspital Basel wird ein neues Molekül für die gezielte Strahlentherapie prüfen [3], das stark lokal begrenzte Strahlung emittiert, um so ausschliesslich Tumorzellen zu schädigen und umliegendes gesundes Gewebe zu schonen. Ein Projekt der ETH Zürich und des Universitätsspitals Zürich will in vitro die beste Behandlung für die akute myeloische Leukämie, eine Blutkrebserkrankung, ermitteln. Dabei kommt ein als Pharmakoskopie bezeichneter kombinierter Ansatz [4] aus Zellvisualisierung und maschinellem Lernen zum Einsatz, der in einer klinischen Phase-II-Studie evaluiert werden soll.
«Eine Herausforderung besteht in der Auswahl der Projekte», sagt François Curtin. «Unter den vielen interessanten Ansätzen wollten wir Projekten mit absehbarer klinischer Relevanz Priorität einräumen. Gut die Hälfte unserer Projekte ist oder soll Gegenstand klinischer Studien werden – bis zu 20% ihres Budgets können für die Zusammenarbeit mit einem Spitalzentrum eingesetzt werden.»
Die Initiative läuft noch bis 2024, doch François Curtin ist zuversichtlich: «Ich bin überzeugt, dass weitere Finanzierungen folgen werden. Die Präzisionsmedizin spielt eine so grundlegende Rolle bei der Überwindung der Behandlungsschemata aus dem letzten Jahrhundert, dass man heutzutage nicht einfach den Stecker ziehen und diese Entwicklung stoppen kann.»
Medikamente vor der Verschreibung testen
Die Genetik hat nicht nur die Diversität der Krebserkrankungen ans Licht gebracht, sondern gibt auch Einblick in die unterschiedlichen Reaktionen des Körpers auf Krankheiten oder Therapien.
Die Pharmakogenomik hat aufgezeigt, wie unterschiedlich der Körper Arzneimittel absorbiert, metabolisiert und eliminiert. Dieser Ansatz – nicht mehr die Krankheiten, sondern vielmehr die Personen zu genotypisieren – konnte die zentrale Rolle der Enzymfamilie der P450-Cytochrome belegen, die zur Verstoffwechselung von mehr als 80% der bekannten Arzneimittel beiträgt, weiss Prof. Dr. med. Caroline Samer, Chefärztin der Abteilung für Klinische Pharmakologie und Toxikologie am Universitätsspital Genf (HUG): «Wenn eliminierende Enzyme nicht gut funktionieren, reichert sich das Medikament an und kann auch toxisch werden. Gleichzeitig kann eine zu hohe Elimination die Wirkung des Medikaments herabsetzen oder aufheben.»
Ein bekanntes Beispiel ist Codein, ein Opiat, das gegen Schmerzen und als Hustenstiller eingesetzt wird. Seine Wirkung hängt stark vom CYP2D6-Gen ab, das für die Bildung eines P450-Enzyms zuständig ist. Im normalen Stoffwechsel wird Codein zu Morphin umgewandelt, das dann seine Wirkung entfaltet. Doch etwa jeder Zehnte exprimiert das Enzym nicht und spricht daher gar nicht auf Codein an. Im Gegensatz dazu wandeln Personen mit schnellem Metabolismus zu viel Codein in Morphin um, sodass schwere Nebenwirkungen auftreten können (so gibt es etwa dokumentierte Todesfälle bei Kindern). Die Prävalenz dieser Population schwankt stark, von etwa 2% in den Bevölkerungen der skandinavischen Länder bis hin zu 30% in denen am Horn von Afrika. «Vor der Verschreibung von Codein kann man etwa am HUG einen Routine-Test durchführen, doch das ist in der Schweiz nicht obligatorisch und noch kaum bekannt. Dieses Wissen sollte in Schulungen und Dokumentationen stärker vermittelt und insbesondere in das Arzneimittelkompendium aufgenommen werden», sagt Caroline Samer.
Die personalisierte Medizin ermöglicht eine Segmentierung des Markts durch ein nach Untergruppen differenziertes Produktangebot.
Unser Stoffwechsel hängt nicht nur von der Genetik ab, sondern auch von der Umwelt, der Ernährung oder dem Tabakkonsum. Das HUG-Team hat eine Methode zur Messung der Stoffwechselaktivität entwickelt – den «Geneva Cocktail». Dieser gibt Aufschluss darüber, wie die meisten Medikamente im Körper umgewandelt werden. Die Methode kann ein erster Schritt bei der Profilerstellung sein, wobei ein abnormer Stoffwechsel ohne entsprechende Umweltfaktoren auf eine genauer abzuklärende genetische Ursache hindeutet. Derzeit laufen umfangreiche Arbeiten, um die Bedeutung eines solchen Profilings aufzuzeigen, etwa die PREPARE-Studie [5], die 2023 eine Reduktion der Häufigkeit von Nebenwirkungen von 28% auf 21% belegte.
Ein vertikaler Ansatz
Die personalisierte Medizin ermöglicht eine Segmentierung des Markts durch ein nach Untergruppen differenziertes Produktangebot – ein Geschäftsansatz, der zur Umsatzsteigerung beitragen kann. Dennoch seien wirtschaftlich gesehen grosse Zielgruppen attraktiver, kommentiert Dr. med. Jean-Marc Häusler, Medical Director von Roche Pharma (Schweiz): «Unsere Strategie bei der personalisierten Medizin ist es, unsere therapeutischen Lösungen vertikal weiterzuentwickeln, indem wir Diagnostika, Therapeutika und klinische Daten integrieren. Davon erhoffen wir uns Kosteneinsparungen, weil dann Medikamente nur bei Personen eingesetzt werden, die auch davon profitieren.»
Für Jean-Marc Häusler benötigt die Forschung insbesondere einen besseren Zugang zu klinischen Daten: «In der Schweiz sind nur 2% der Daten verfügbar. Im Gegensatz zu den Unternehmen des digitalen Marktes hat Roche kein Interesse an Informationen, die sich auf Einzelpersonen beziehen, sondern nur an aggregierten wissenschaftliche Daten.» Das Basler Unternehmen nimmt daher am DigiSanté-Programm des Bundesamts für Gesundheit teil, das die digitale Transformation im Schweizer Gesundheitswesen unterstützen soll.
Ein bislang kaum diskutiertes Problem bleibt der gerechte Zugang zu den aus der Forschung resultierenden experimentellen Therapien.
Gerechten Zugang sicherstellen
Ein bislang kaum diskutiertes Problem bleibt der gerechte Zugang zu den aus der Forschung resultierenden experimentellen Therapien. Wäre ein Patient an einem grossen Universitätsklinikum im Vorteil gegenüber einem anderen, der bei einer Onkologin oder einem Onkologen in einer Kleinstadt in Behandlung ist? «Das dürfte tatsächlich so sein», meint Solange Peters vom CHUV. «Daher sollte man sich beim Arzt erkundigen, ob er in ein Netzwerk für molekulare Onkologie eingebunden ist.»
Das Westschweizer Netzwerk für Onkologie [6] beispielsweise bespricht jeden Freitag im Rahmen eines molekularen Tumorboards Fälle, die nicht auf Standardbehandlungen angesprochen haben. Laut Solange Peters nehmen daran viele in der Stadt niedergelassene Onkologinnen und Onkologen teil. «Ziel ist es, neue Therapieansätze wie etwa die zulassungsüberschreitende Anwendung von Medikamenten anzubieten. Dieser ist gleichzeitig eine personalisierte Form der Forschung, die sehr aufwändig ist und leider nicht immer zum Erfolg führt. Zudem stellt sich die Frage nach der Kostenerstattung: Die Krankenversicherung des Patienten beurteilt, ob die empfohlene Behandlung wirksam ist, und entscheidet, ob und in welcher Höhe sie erstattet wird.»
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