Empfehlungen in der Alterspsychiatrie

Schwerpunkt
Ausgabe
2023/46
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.1289084493
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(46):72-73

Publiziert am 17.11.2023

Evidenzbasierte Standards
Für die Diagnostik und Therapie alterspsychiatrischer Erkrankungen sind parallel zur Nationalen Demenzstrategie die interdisziplinären und interprofessionellen Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Alterspsychiatrie und -psychotherapie (SGAP) entstanden. Sie sollen die evidenzbasierten Standards in diesem Bereich festlegen.
©Katarzyna Bialasiewicz; Dreamstime
Für die SGAP war die im Jahr 2014 bis 2019 bestehende Nationale Demenzstrategie der Schweiz Anlass dafür, die Entwicklung von Qualitätsstandards für die Diagnostik und Therapie in der Alterspsychiatrie voranzutreiben. Die Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie der Verhaltensstörungen bei Demenz (Behavioural and Psychological Symptoms of Dementia (BPSD)) [1, 2] war die erste Veröffentlichung einer Reihe von Publikationen, die stets in Kurzform und als Manual veröffentlicht wurden und die wichtigsten alterspsychiatrischen Diagnosen zum Thema beinhalteten. Die Besonderheit dieser Empfehlungen ist es, dass sie interprofessionell und interdisziplinär erarbeitet worden sind, was der alterspsychiatrischen Arbeitsweise entspricht. Neben der SGAP waren geriatrische, gerontologische, neurologische Experten und Expertinnen, (Neuro-)Psychologen und (Neuro-)Psychologinnen, Pflegefachverbände und Organisationen wie die Alzheimer Schweiz an der Entstehung beteiligt. Ein Ziel der Arbeitsgruppe war stets, neben der aktuellen Evidenz für einzelne Interventionsmöglichkeiten auch die klinische Erfahrung abzubilden. In der Altersmedizin fehlen oft kontrollierte Studien für einzelne Verfahren. Die klinische Erfahrung der Experten und Expertinnen soll helfen, diese Verfahren trotzdem als wirksame Instrumente der Therapie zu etablieren.

Interprofessionelle und interdisziplinäre Empfehlungen

Zur BPSD gehören Symptome wie Depression, Apathie, Agitation, Aggressivität, Wahn, Halluzinationen und Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen, die im Verlauf einer Demenz-Erkrankung bei fast allen Betroffenen auftreten. Der Einsatz von Psychopharmaka ist in dieser vulnerablen Patientengruppe mit Multimorbidität problematisch und mit Nebenwirkungen verbunden. Ein wichtiges Anliegen der Empfehlungen für die Diagnostik und Therapie der BPSD war es, die Grundsätze des klinischen Einsatzes dieser Substanzen kritisch zu diskutieren und die nicht-medikamentösen Verfahren zu fördern. Diese Verfahren (z. B. Psychotherapie, kognitionsfördernde und aktivierende Verfahren, Musiktherapie, Bewegungsförderung, psychosoziale Massnahmen, usw.) sollen als Therapie der ersten Wahl eingesetzt werden und auch dann angeboten werden, wenn Psychopharmaka zum Einsatz kommen müssen. In den Empfehlungen werden diese Therapiemöglichkeiten ausführlich diskutiert. Als Basis der Therapie ist eine ausführliche interprofessionelle Diagnostik notwendig. Diese umfasst neben einer klinischen Untersuchung mit Labor den Einsatz von Assessmentinstrumenten. Die BPSD-Empfehlungen werden momentan revidiert und werden im Jahr 2024 in einem aktualisierten Umfang für die Praxis vorgelegt. Die revidierte Fassung wird vermehrt interprofessionell ausgelegt sein und die Entwicklungen bei den Therapien berücksichtigen. Die Grundsätze der Psychopharmakotherapie sowie das Thema des «off-label»-Einsatzes vieler Medikamente werden ausführlicher diskutiert.

Empfehlungen für alterspsychiatrische Erkrankungen

Ein Delir tritt im Alter multifaktoriell bedingt sehr häufig auf – oft mit schwerwiegenden Folgen. Das Delir kann überlappend mit einer Demenz auftreten, was die Diagnostik erschwert. Die Empfehlungen für die Diagnostik und Therapie des Delirs legen die Standards für die Prävention, das Assessment und die Therapie fest, die interprofessionell und interdisziplinär erfolgen sollen [3, 4]. Vor allem die Frühdiagnostik und präventive Massnahmen spielen dabei eine wichtige Rolle. Die Risikopatienten und Risikopatientinnen sollen vor dem Auftreten des Delirs identifiziert werden. Ein auf die Differentialdiagnose der Delir-Ursache basierendes Assessment soll etabliert und die Teams entsprechend geschult werden. Die Therapie ist grundsätzlich ursachenbezogen. Die symptomatische Delirbehandlung mit Psychopharmaka ist in der Akutphase indiziert, bis die Ursache gefunden wird und etwaige lebensbedrohliche Situationen aufgehoben werden.
Der klinische Verlauf einer Altersdepression unterscheidet sich deutlich von dem von jüngeren Betroffenen: Es kommt vermehrt zu untypischen Depressionssymptomen wie beispielsweise Müdigkeit, Schmerzen, Schwindel, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen. Auch die Suizidalität nimmt im Alter stetig zu. Die Empfehlungen für die Altersdepression gehen ausführlich auf die psychotherapeutische und medikamentöse Therapie ein [5, 6]. Ein Schwerpunktthema ist das Suizidmanagement mit Prävention, sowie die Akut- und Nachbehandlung. Eine Depression bei älteren Personen kann therapieresistent sein und zur Entstehung kognitiver Störungen beitragen.
Eine Alkohol- und Sedativa-Abhängigkeit sowie zunehmend auch der schädliche Gebrauch von Opioiden nehmen im Alter zu. Die Empfehlungen für die Abhängigkeitserkrankungen im Alter stellen die Prävention in den Vordergrund und stellen gängige Diagnostik- und Therapieverfahren vor [7, 8]. Da sich die Spätfolgen des Suchtverhaltens im Alter manifestieren und ein chronischer Konsum kognitive Störungen verursachen kann, ist eine frühe Prävention essentiell.
Auch Psychosen können im Alter als Fortsetzung einer primären Psychose wie einer Schizophrenie oder einer affektiven Erkrankung, oder aber im Rahmen von einer sekundären Psychose bei Demenz oder Delir auftreten. Da sich die Therapien je nach Grunderkrankung unterscheiden können, ist auch hier die Diagnostik umso wichtiger. Die Empfehlungen für die Psychosen im Alter stellen die Diagnostik- und Therapieverfahren vor [9-10]. Der Einsatz von Antipsychotika wird differenziert diskutiert und es werden neue Algorithmen für die Auswahl und für Absetzversuche nach zeitlich limitierter Anwendung vorgeschlagen.

Standardisierte Diagnostik

Neben diesen Empfehlungen setzte sich die SGAP gemeinsam mit den Swiss Memory Clinics (SMC) für die Entwicklung der Standards in der Diagnostik der Demenz-Erkrankungen ein [11]. Aktuell gibt es eine rasante Entwicklung in der Diagnostik, beispielsweise bei bildgebenden Verfahren oder bei den Biomarkern. Neben der klinischen Untersuchung und der Neuropsychologie tragen diese zu einer präziseren Diagnose bei. Für die SMC-Empfehlungen war es wichtig, die Qualitätsstandards in den Memory-Kliniken zu fördern und für die neuen Methoden den Weg zu ebnen.
Prof. Dr. med. Egemen Savaskan Chefarzt der Klinik für Alterspsychiatrie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und Co-Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Alterspsychiatrie und –Psychotherapie (SGAP).
Für Sie zusammengefasst vom:
PSY – Kongress | 07.09. – 08.09.2023 | Bern
egemen.savaskan[at]pukzh.ch
1 Savaskan E, Bopp-Kistler I, Buerge M, Fischlin R, Georgescu D, Giardini U, et al. Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie der behavioralen und psychologischen Symptome der Demenz (BPSD) 2014. [Internet] https://www.sgap-sppa.ch/fileadmin/user_upload/Empfehlungen_zur_Diagnostik_und_Therapie_der_BPSD_-_November_2014.pdf (abgerufen am 09.08.2023).
2 Savaskan E, Bopp-Kistler I, Buerge M, Fischlin R, Georgescu D, Giardini U, et al. Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie der behavioralen und psychologischen Symptome der Demenz (BPSD): Praxis. 2014;103(3),135–148.
3 Savaskan E, Hasemann W. Leitlinie Delir: Empfehlungen zur Prävention, Diagnostik und Therapie des Delirs im Alter. Hogrefe. 2017.
4 Savaskan E, Baumgartner M, Georgescu D, Hafner M, Hasemann W, Kressig RW, et al. Empfehlungen zur Prävention, Diagnostik und Therapie des Delirs im Alter: Praxis. 2016;105(16),941–952.
5 Hatzinger M, Savaskan E. Empfehlungen für die Diagnostik und Therapie der Depression im Alter. Hogrefe. 2019.
6 Hatzinger M, Hemmeter U, Hirsbrunner T, Holsboer-Trachsler E, Leyhe T, Mall JF, et al. Empfehlungen für Diagnostik und Therapie der Depression im Alter: Praxis. 2018;107(3):127-144.
7 Savaskan E, Laimbacher S. Abhängigkeitserkrankungen im Alter, Empfehlungen zur Prävention, Diagnostik und Therapie. Hogrefe. 2021.
8 Savaskan E, Fuchs A, Hemmeter U, Ibach B, Indermaur E, Klöppel S, et al. Empfehlungen für die Prävention, Diagnostik und Therapie der Abhängigkeitserkrankungen im Alter: Praxis. 2021;110(2):79-93.
9 Klöppel S, Savaskan E. Psychosen im Alter. Empfehlungen zur Prävention, Diagnostik und Therapie. Hogrefe. 2021.
10 Klöppel S, Savaskan E, Annoni JM, Berruex JL, Bohli L, Eder M, et al. Empfehlungen für die Diagnostik und Therapie psychotischer Erkrankungen im Alter: Praxis. 2021:110 (14): 816–825.
11 Bürge M, Bieri G, Brühlmeier M, Colombo F, Demonet JF, Felbecker A, et al. Die Empfehlungen der Swiss Memory Clinics für die Diagnostik der Demenzerkrankungen: Praxis. 2018:107(8):435-451.