Dynamisch multiprofessionell
In Diskussionen über die forensische Psychiatrie geht es in der Regel um sichernde Aufgaben dieses Fachgebietes. Es entsteht der Eindruck eines hermetisch abgeriegelten Arbeitsbereiches, was den Realitäten nicht gerecht wird. Ambulante Angebote werden immer wichtiger.

Ambulante Behandlungsmassnahmen gemäss Strafgesetzbuch (StGB)

Das ausdifferenzierte System von therapeutischen Massnahmen, die in der Schweiz gerichtlich angeordnet werden können, beinhaltet neben stationären Massnahmen (Art. 59 StGB) auch stationäre Massnahmen zur Suchtbehandlung (Art. 60 StGB), Massnahmen für junge Erwachsene in sozialpädagogisch und beruflich integrativ ausgerichteten Massnahmezentren und insbesondere auch ambulante Behandlungen (Art. 63 StGB). In den vergangenen Jahren wurden in der Schweiz etwa dreimal mehr ambulante Behandlungen (Art. 63 StGB) angeordnet als stationäre Massnahmen zur Behandlung psychischer Störungen (Art. 59 StGB) [1]. Die ambulanten Massnahmen können vollzugsbegleitend oder aber unter Aussetzung oder Aufschubs des Vollzugs vollzogen werden. Ausserdem können vormals stationär behandelte Patientinnen und Patienten ambulant nachbetreut werden. Die Klinik für Forensische Psychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) betreut deutlich mehr Patientinnen und Patienten ambulant als stationär (203 Personen gegenüber 130 Personen im Jahr 2022).

Übergangsmanagement

Eine solche ambulante Weiterbehandlung muss jedoch stationär vorbereitet werden, weil sich im forensischen Bereich ein ähnliches Problem wie in der Allgemeinpsychiatrie ergibt: Dort besteht neben Rückfällen in die Symptomatik nach einem stationären Austritt (50% bei Schizophrenien, 70% bei Alkoholabhängigkeit) zudem ein stark erhöhtes Suizidrisiko [2-3]; ferner ist im forensischen Kontext zusätzlich zu beachten, dass der Grossteil der kriminellen Rückfälle nach der Entlassung innerhalb der ersten 18 Monate stattfindet [4]. Deshalb ist das Übergangsmanagement im Bereich der forensischen Psychiatrie besonders bedeutsam. Es geht dabei um den Wechsel von einem stärker kontrollierenden, freiheitseinschränkenden Setting in zunehmend alltagsnähere Klinikbereiche.
Im Rahmen des Übergangsmanagements wird darauf geachtet, einen möglichst tragfähigen sozialen Empfangsraum zu entwickeln. Hier geht es darum, die Kooperationsbereitschaft, aber auch -fähigkeit Betroffener zu überprüfen, möglichst stabile Kontakte zu Weiterbetreuenden wie beispielsweise zum Wohnheim, zu anderen Institutionen oder Arbeitgebern zu etablieren und die Zusammenarbeit mit Angehörigen zu pflegen. Diese Arbeit ist wichtig, ihr Rationale wird jedoch in der öffentlichen Diskussion immer wieder in Frage gestellt, wenn es zu Lockerungsmissbräuchen kommt. Der Blick auf die Realität macht jedoch deutlich, dass diese Ereignisse ausgesprochen selten sind. So wurden im Jahr 2016 insgesamt 161 und im Jahr 2022 insgesamt 142 unerlaubte Abwesenheiten aus dem Straf- und Massnahmevollzug in der Schweiz verzeichnet. Von diesen 142 unerlaubten Abwesenden kehrten 71,8% innerhalb einer Woche zurück, Ende 2022 war niemand mehr «unerlaubt abwesend» [5]. Ein Rechenbeispiel aus der hiesigen Klinik zeigt einen nochmals geringeren Anteil von Lockerungsmissbräuchen: Wenn 50 Personen 2-mal pro Woche Lockerungen erhalten, ergeben sich im Jahr 5 200 Gelegenheiten dazu, diese Lockerungen für unerlaubte Abwesenheiten/Entweichungen zu missbrauchen. Im Jahr 2022 kam es zu vier solchen Ereignissen, was einem Anteil von 0,08% entspricht.

Ambulante Nachsorge

Die Entlassung bedeutet den Wiedergewinn eigener Autonomie – andererseits werden störungsbedingte Einschränkungen unter Alltagsbedingungen erneut oder erstmals sichtbar und unrealistische Erwartungen können zu Desillusionierung und Destabilisierung führen. Eine Möglichkeit, Betroffene in dieser vulnerablen Lebenssituation zu unterstützen, ist eine intensive sozialpsychiatrische Nachsorge, die durch multiprofessionelle Teams aus den Fachbereichen der Pflege, Sozialarbeit, Psychiatrie und Psychotherapie geleistet wird. Diese können auch bei schwierigen Patientinnen und Patienten im Tandem auftreten und aufsuchend tätig werden. Ambulante Nachsorgeeinrichtungen sollten in der Lage sein, flexible Termine für Betroffene in Krisen anzubieten und somit die Betreuungsintensität flexibel erhöhen zu können, wenn dies erforderlich ist [6]. Diese Anforderungen machen deutlich, dass es einer über die üblichen Kassenleistungen hinausreichenden Finanzierung durch die Justiz bedarf. Da eine intensive ambulante Nachsorge die stationäre Aufenthaltsdauer im Massregelvollzug reduzieren kann, dürfte sich dieses Vorgehen für die Justizbehörden aber rechnen. Schliesslich sind die Liegezeiten innerhalb des stationären Bereiches der PUK seit Gründung des hiesigen Ambulatoriums von knapp 900 Tagen auf durchschnittlich 650 Tage gesunken, wodurch sich die Behandlungskosten pro Fall deutlich reduziert haben. Dass dies nicht mit einem erhöhten Risiko von Rückfällen in kriminelle Verhaltensweisen verbunden ist, belegen Zahlen aus Deutschland [7-8]. Entsprechend wurden solche Angebote im Nachbarland flächendeckend eingerichtet. Demgegenüber existieren solch intensive und vor allem auch wohnortnahe Nachsorgemöglichkeiten in der Schweiz nur punktuell, womit nicht nur die Aussichten auf eine Verkürzung der Liegezeiten, sondern möglicherweise auch Chancen auf eine langfristige Senkung der Rückfallraten vergeben werden [9].

Fazit

Lange Unterbringungszeiten in der forensischen Psychiatrie sind nicht nur ethisch problematisch, sondern begünstigen wegen des mangelnden Umsatzes von Patientinnen und Patienten auch (überlange) Wartezeiten für zur Behandlung anstehende Patientinnen und Patienten. Sie verursachen darüber hinaus hohe Kosten und fördern einen adynamen Geist in den Institutionen. Demgegenüber können ein adäquates Übergangsmanagement und eine intensive Nachsorge die stationäre Behandlungsdauer verkürzen und die Legalprognose auch langfristig verbessern. Der damit verbundene dynamische, multiprofessionelle und vernetzte Behandlungsansatz macht die forensische Psychiatrie zu einem sozialpsychiatrischen Fach, das – entgegen der auch in Fachkreisen bestehenden Vorurteile – die Möglichkeit bietet, Betroffene auch ausserhalb des stationären Kontextes zu behandeln und bei der sozialen Reintegration effektiv zu unterstützen.
Prof. Dr. med. Elmar Habermeyer ist Direktor der Klinik für Forensische Psychiatrie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK).
Für Sie zusammengefasst vom:
PSY-Kongress | 07.09. – 08.09.2023 | Bern
elmar.habermeyer[@]pukzh.ch
1 Bundesamt für Statistik (BFS) [Internet]. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kriminalitaet-strafrecht/strafjustiz/erwachsenensanktionen.assetdetail.22665403.html (abgerufen am 12.10.2023).
2 Schennach R, et al. Predictors of Relapse in the Year After Hospital Discharge Among Patients With Schizophrenia. Psychiatric Services. 2012;63(1),87-90;
3 Spießl H. Mehr Fokus auf poststationäre Suizide! Psychiatrische Praxis. 2019;46:67-69.
4 Schmidt-Quernheim F, Seifert D. Evaluation der ambulanten Nachsorge forensischer Patienten (Art. 63 StGB) in Nordrhein-Westfalen. Der Nervenarzt. 2014;85:1133-1143.
5 Bundesamt für Statistik (BFS) [Internet]. https://www.bfs.admin.ch/asset/de/24825791; https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kriminalitaet-strafrecht/justizvollzug.assetdetail.24825754.html (abgerufen am 12.10.2023).
6 Freese R, Schmidt-Quernheim F. Mindeststandards forensischer Nachsorge. Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie. 2014;8(3):191-198.
7 Butz M, Mokros A, Osterheider M. Ambulante Sicherungsnachsorge für Maßregelvollzugspatienten: Ergebnisse des zweiten bayerischen Modellprojekts. Psychiatrische Praxis. 2013:40(1):36-42.
8 Stübner S, Nedopil N. Ambulante Sicherungsnachsorge. Begleituntersuchung eines forensischen Modellprojektes in Bayern. Psychiatrische Praxis 2009;36:317-319.
9 Habermeyer E. Übergangsmanagement und Nachsorge: «Die wahren Herausforderungen des Massnahmerechts?». In: Heer M, Habermeyer E, Bernard S (Hrsg.). Übergangsmanagement und Nachrsorge: Die wahren Herausforderungen des Massnahmerechts. Forum Justiz & Psychiatrie. Band 5. Stämpfli Verlag; 2020;11-27.

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