Überlebensleitfaden für die Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung

Schwerpunkt
Ausgabe
2023/46
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.1298408217
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(46):76-77

Publiziert am 17.11.2023

Instabilität
Patientinnen und Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung sind behandelbar – erste therapeutische Effekte zeigen sich nach schon relativ kurzer Zeit. Diese Veränderungen sind nicht nur bei den evidenzbasierten Psychotherapien zu beobachten, sondern auch bei psychiatrisch-psychotherapeutischer Praxis, die nach gewissen Prinzipien durchgeführt wird.
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist eine der häufigsten psychischen Störungen in der Population (mit Prävalenzraten zwischen 1 und 3%) und insbesondere häufig in ambulatorischen Zentren und stationären Programmen in der Erwachsenen- und Jugendlichenpsychiatrie anzutreffen. Im Alter von 16 Jahren ist die Prävalenz in der Population bereits bei 1,6%. Diese Störung präsentiert häufig eine schwerwiegende Symptomatik, mit selbstverletzendem Verhalten, erhöhter Impulsivität und Suizidalität, häufig mehreren komorbiden Diagnosen, die in vielen Fällen eine sekundäre Funktion zu der primären Borderline-Persönlichkeitsstörung einnehmen. Betroffene präsentieren sich häufig mit psychosozialen Beeinträchtigungen, wie verlängerte Absenz von der Arbeit, erhöhte Sensibilität auf Kritik und Zurückweisung, Gewalt und Substanzabhängigkeit. Zwischen 42 und 49% der Patientinnen und Patienten erhalten Invalidenrenten. Während die Remission der Borderline-Persönlichkeitsstörung bei über 95% der Patientinnen und Patienten über mindestens zehn Jahre beobachtet wird, ist Recovery, die eine Überwindung aller psychosozialer Konsequenzen beinhaltet, nur bei 40 bis 60% der Patientinnen und Patienten zu beobachten.
© Katarzyna Bialasiewicz / Dreamstime

« Die Psychotherapie ist die primäre Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung.»

Die Psychotherapie ist die primäre Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung, insbesondere die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) sowie strukturierte, psychodynamische Ansätze. Auch wenn wir wissen, dass Psychotherapien wirksam sind, wissen wir noch nicht genau, wie sie wirken. Ein aktuelles Modell der Erklärung der Effekte der Psychotherapie bei den Persönlichkeitsstörungen schlägt fünf Wirkmechanismen vor: a) Emotionen ausbalancieren, b) soziale Interaktion effektiv gestalten, c) identitäres Selbstgefühl aufbauen, d) Reflektivität fördern und e) eine realitätsbezogene Narrative aufbauen.

Prinzipien integrierter psychiatrisch-psychotherapeutischer Praxis

Wie von John Gunderson prägnant formuliert, reicht die Anzahl ausgebildeter Psychotherapeutinnen und -therapeuten in diesen spezialisierten Therapieansätzen bei Weitem nicht aus, um das Versorgungsbedürfnis zu decken [1]. Integrierte psychiatrisch-psychotherapeutische Ansätze können ebenfalls benutzt werden – mit guten Resultaten bei vielen Betroffenen.
Prinzipien dieser psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis umfassen eine Proaktivität der Therapeutin und des Therapeuten, eine therapeutische Haltung, die dem Betroffenen als Unterstützung dient, die die Probleme in der Realität berücksichtigt, die die therapeutische Beziehung als therapeutisch und real ansieht, die von der Patientin und vom Patienten Veränderung verlangt und Verantwortlichkeit fördert. Diese Prinzipien stellen die Basis für vier therapeutische Handlungen im Rahmen unseres Überlebensleitfadens in der Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung dar.

Dem Patienten und der Familie die Störung transparent erklären

Patientinnen, Patienten und ihre Familien wenden sich in vielen Fällen mit minimalem Wissen zu der spezifischen Störung und deren Behandlung an Fachpersonen der Psychotherapie. Es ist gute Praxis, so früh wie möglich die fehlenden Informationen zu geben und dabei transparent und empathisch vorzugehen. Das Modell der interpersonalen Kohärenz, das die interpersonale Hypersensibilität der Betroffenen dynamisch und erfahrungsnah erklären kann, soll dazu benutzt werden. Hierzu ist es nötig, dass die Patientin und der Patient Details zu seinen interpersonellen Interaktionen berichtet. Das Modell hilft Betroffenen, jedes problematische Verhalten beziehungsweise jeden Gemütszustand einem von vier Grundzuständen zuzuordnen: a) ein sicher (an den anderen) angebundener Gemütszustand, b) ein Zustand, wo die Bindung (mit einer anderen Person) in Gefahr ist, c) ein Zustand, in welchem die Patientin oder der Patient isoliert ist und d) ein verzweifelter Zustand. Das Modell kann Betroffenen helfen, Strategien zu entwickeln, um wieder in den sicheren Gemütszustand zurückzufinden.

«Beziehungsbrüche besser im Kontext der Lebensgeschichte der Betroffenen verstehen.»

Suizidalen Handlungen kompetent begegnen

Das Modell der interpersonalen Kohärenz kann gerade beim Einordnen und Auflösen von suizidalen Krisen sehr hilfreich sein. Therapeutinnen und Therapeuten versuchen dabei, ein Meta-Bewusstsein zu fördern, und – soweit es geht – eine Hospitalisierung zu vermeiden. Die Therapeutin oder der Therapeut interessiert sich authentisch für die Inhalte des suizidalen Prozesses und evaluiert die Risiken. Es ist häufig wichtig, die Patientin oder den Patienten zu fragen, was momentan gerade hilfreich sein könnte, und Auslösungsfaktoren festzuhalten. Therapeutinnen und Therapeuten sollten ihre Grenzen immer bewusst repräsentiert haben und die Bedeutung der suizidalen Krise im Rahmen der therapeutischen Beziehung explorieren. Schliesslich ist es wichtig, auf Sicherheit zu achten und mit diesen suizidalen Inhalten nicht alleine zu bleiben und bei Bedarf eine Intervision oder Supervision zu ersuchen.

Brüche in der therapeutischen Beziehung nutzen

Die klassischen Psychotherapiemodelle sehen Vertrauensbrüche der Patientin und des Patienten als ein Problem an. Neuere Forschung lässt schliessen, dass Misstrauen oder Kritik, welche von Patientinnen oder Patienten aktiv im Rahmen der Therapie geäussert wird, förderlich für die Therapie sein kann. Man nimmt an, dass Aspekte dieser Inhalte mit chronischen maladaptiven Interaktionsmustern verbunden sind. Falls die Therapeutin oder der Therapeut diese Kritik mit der nötigen Reflektivität und einer gesunden Dosis Zweifel an festgefahrenen Annahmen aufnimmt, ist der Ausdruck des Misstrauens durch die Patientin oder den Patienten mit dem positiven Therapieresultat verbunden [2]. In dem Sinn sind Misstrauen und Kritik die Normalität in diesen Therapien und das therapeutische Fachpersonal kann die Metakommunikation über den Bruch nutzen oder kann versuchen, den Beziehungsbruch besser im Kontext der Lebensgeschichte des Betroffenen zu verstehen. Therapeutinnen und Therapeuten sollten sich immer bewusst sein, dass sie selbst auch einen Beitrag zum Beziehungsbruch geleistet haben mögen.

Sich bei der Medikation zurückhalten

Die Psychotherapie ist die ursprüngliche Intervention bei einer Borderline-Persönlichkeitsstörung; es gibt keine klinische Empfehlung, welche Medikation zu nutzen ist. Dies gilt auch im Falle der meisten Komorbiditäten: Die Borderline-Persönlichkeitsstörung soll primär behandelt werden – sekundär kann man die komorbide Störung mit womöglich einer Pharmakotherapie behandeln, welche die primären Effekte der Psychotherapie im besten Fall marginal unterstützen kann.
Um diese Prinzipien effektiv in die therapeutische Praxis umzusetzen, wird empfohlen, entsprechende Ausbildungen zu belegen. Es gibt die Möglichkeit, die diskutierten Prinzipien in Online-Klassen zu buchen, oder in Rahmen der spezifischen psychotherapeutischen Ausbildungen für die Fachbereiche Psychiatrie und Psychologie zu belegen.
Für Sie zusammengefasst vom:
PSY – Kongress | 07.09.-08.09.2023 | Bern
Prof. Dr. phil. Ueli Kramer Direktor des Universitären Instituts für Psychotherapie, Medizinische Fakultät Lausanne und CHUV. Fachpsychologe in Psychotherapie FSP, Präsident der Europäischen Gesellschaft der Beforschung der Persönlichkeitsstörungen.
ueli.kramer[@]chuv.ch
1 Gunderson JG. The emergence of a generalist model to meet public health needs for patients with borderline personality disorder. Am. J. Psychiatry, 2016;173(5), 452-458.
2 Signer S et al. Social interaction patterns, therapist responsiveness, and outcome in treatments for borderline personality disorder. Psychol Psychother Theory Res Pract, 93: 705-722. https://doi.org/10.1111/papt.12254

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