«Die Grundversorgung muss gestärkt werden»

Coverstory
Ausgabe
2023/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21601
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(12):12-15

Publiziert am 22.03.2023

Bilanz Eine bessere Koordination im Gesundheitswesen sei möglich, sagt Milo Puhan, Präsident der Leitungsgruppe des kürzlich abgeschlossenen Nationalen Forschungsprogramms 74. Darin erprobten Forschende neue Lösungsansätze für die Gesundheitsversorgung. Im Interview spricht er über die Ergebnisse und erklärt, wie es nun weitergeht.
Milo Puhan, was zeigen die Ergebnisse und Empfehlungen des NFP 74: Brauchen wir eine radikale Umgestaltung des Schweizer Gesundheitswesens?
Nein, das ist weder nötig noch sinnvoll. Nicht nötig darum, weil das Gesundheitssystem der Schweiz in vielen Aspekten gut funktioniert. Und nicht sinnvoll, weil jedes System gut oder schlecht funktionieren kann. Es kommt auch auf die Kultur an, die darin herrscht. Schlussendlich sind es die Menschen, die ein System im Alltag prägen. Wir sollten nicht alles top-down zu regulieren versuchen, sondern insbesondere auch die Eigeninitiative fördern – sowohl der Patientinnen und Patienten wie auch der Gesundheitsfachpersonen. So können wir die Gesundheitsversorgung gezielt verbessern. Was wir als Grundlage für Veränderungen aber brauchen, ist ein gemeinsames Verständnis. Daran mangelt es noch.
Wie meinen Sie das?
Wir brauchen ein gemeinsames Verständnis davon, was Gesundheit ist und wie wir unser Gesundheitssystem ausrichten wollen. Ein solcher gemeinsamer Nenner ist weder in der Schweiz noch international vorhanden – auch unter Gesundheitsfachpersonen nicht.

Das nationale Forschungsprogramm 74

Die Schweizer Gesundheitsversorgung steht vor grossen Herausforderungen. Aufgrund der demografischen Alterung steigt die Zahl der Menschen, die an mehreren chronischen Krankheiten leiden. Gleichzeitig ist das Gesundheitswesen noch zu stark auf die Behandlung akuter Krankheiten ausgerichtet. Langzeitmedizin und -pflege sowie Prävention und Gesundheitsförderung werden aber wichtiger. Aufgrund dieses Befundes hatte der Bundesrat das NFP 74 «Gesundheitsversorgung» in Auftrag gegeben. Seit 2018 haben Forschende im Rahmen von 34 Projekten neue Lösungsansätze erprobt. Anfang 2023 fand das Programm seinen Abschluss. Mehr Informationen unter nfp74.ch
Wie könnte dieser gemeinsame Nenner aussehen?
Meine Vision ist eine patientenorientierte Gesundheitsversorgung, die nicht auf einzelne Krankheiten, sondern auf die Bedürfnisse und den gesamten Lebenskontext der Menschen ausgerichtet ist. Die Ergebnisse des NFP 74 gehen in dieselbe Richtung. Sie legen nahe, dass ein effizientes, bedarfsgerechtes Gesundheitswesen neben medizinischen Aspekten vermehrt die sozialen, beruflichen und beispielsweise spirituellen Bedürfnisse und Ressourcen der Menschen berücksichtigen sollte. Ich denke, einer solchen Vorstellung von Gesundheit und Gesundheitswesen kommt zum Beispiel das Meikirch-Modell nah [1].
Zu Ihrer Vision scheint auch ein stärker koordiniertes Gesundheitswesen zu gehören. Diese Forderung und entsprechende Projekte ziehen sich wie ein roter Faden durch das NFP 74.
Unbedingt. Ein besser koordiniertes Gesundheitswesen ist auch ein effizienteres, smarteres Gesundheitswesen. Was ja keine neue Erkenntnis ist. Seit den 1990er Jahren wird versucht, die Schweizer Gesundheitsversorgung besser zu koordinieren. Trotzdem befinden wir uns gemäss einer Studie im internationalen Vergleich mit Ländern mit ähnlichem Ressourceneinsatz im Gesundheitswesen nur im Mittelfeld [2]. Im NFP 74 konnten wir konkrete Innovationen erproben. Einige davon haben sich bewährt. Insofern ist das Fazit erfreulich: Eine bessere Koordination ist möglich.
Prof. Dr. med. et phil. Milo Puhan ist Direktor des Instituts für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention an der Universität Zürich. Er war Präsident der Leitungsgruppe des Nationalen Forschungsprogramms NFP 74.
© Nicolas Zonvi
Warum hat das bisher nicht funktioniert, wenn es seit drei Jahrzehnten versucht wird?
Das Hauptproblem liegt darin, dass es an Daten fehlt: Daten, um den Verlauf von Behandlungen zu verfolgen, in die oft verschiedene Fachpersonen involviert sind. Entsprechend schwierig ist es, Behandlungsstandards zu etablieren und die Wirksamkeit und Koordination der Versorgung zu beurteilen. Die Versorgungsforschung kann aufgrund von Routinedaten wichtige Erkenntnisse gewinnen. Im NFP 74 wurden solche Daten genutzt, etwa von Krankenversicherern, der Spitex oder von der hausärztlichen Datenbank FIRE [3, 4]. Diese konnte im Projektverlauf deutlich ausgebaut werden.
Es wäre insbesondere sehr wünschenswert, noch stärker die anonymisierten Daten von Krankenversicherern nutzen zu können. Denn sie sind die Einzigen, die sowohl die ambulante wie stationäre Versorgung abdecken – und erst noch im Verlauf, sodass ganze Behandlungsketten untersucht werden können. Diesen Weg der Nutzung von automatisch anfallenden Daten müssen wir weitergehen. Das ist ein wertvoller Datenschatz.

FIRE: Daten aus der Hausarztpraxis

FIRE ist die erste Datenbank der Schweiz, die klinische Routinedaten aus der ambulanten Versorgung erfasst. Im Rahmen des NFP 74 wurde sie ausgebaut. Inzwischen nehmen rund 700 Hausärztinnen und Hausärzte daran teil – weitere sind sehr willkommen. Beim Projekt mitzumachen ist kostenlos und erzeugt keinen Aufwand, da die anonymisierten Daten automatisch aus den elektronischen Patientendossiers exportiert werden. Betreut wird das Projekt vom Institut für Hausarztmedizin an der Universität Zürich (www.fireproject.ch/).
Was braucht es, damit eine koordinierte, patientengerechte Gesundheitsversorgung Realität wird?
Zunächst ist ein Kulturwandel nötig. Etwa wenn es darum geht, die Zuständigkeiten im Gesundheitswesen an gewissen Stellen sinnvoller zu verteilen. Unsere Projekte haben zum Beispiel gezeigt, dass die Koordination der Versorgung nicht nur über Ärztinnen und Ärzte und Pflegende erfolgen kann, sondern sinnvollerweise weitere Fachpersonen entsprechende Aufgaben übernehmen – etwa aus der Spitex oder Sozialarbeit. Um vernetzter denken und handeln zu können, ist Schulung nötig. Wir müssen sowohl die Patientinnen und Patienten, Angehörigen wie auch Gesundheitsfachpersonen dazu befähigen, neue Ansätze umzusetzen. Ein Beispiel: Die medizinische Aus- und Weiterbildung ist heute sehr spitalzentriert. Vermutlich wäre es sinnvoll, wenn die Teilnehmenden gewisser Weiterbildungsprogramme mehr Zeit in der ambulanten Medizin und vor allem Hausarztmedizin verbringen würden. Denn das hat das NFP 74 auch gezeigt: Die Hausärztinnen und Hausärzte sind das Zentrum der Koordination. Die Grundversorgung muss weiter gestärkt werden.
Können Sie ein paar Beispiele nennen von Projekten, die neue Wege gegangen sind und erfolgreich waren?
Ein beeindruckendes Beispiel ist für mich ein Projekt, bei dem es darum ging, den Spitalaustritt von älteren multimorbiden Patientinnen und Patienten mit einem neu entwickelten Instrument interprofessionell vorauszuplanen [5]. Ein ambitioniertes Vorhaben, aber es hat funktioniert. Der durchschnittliche Spitalaufenthalt konnte um einen halben Tag verkürzt werden – ohne dass es mehr Wiedereintritte gegeben hätte.
In einem anderen Projekt wurden interprofessionelle Qualitätszirkel erprobt. Konkret setzten sich ärztliche Fachpersonen, Apothekerinnen und Apotheker und Pflegende in Alters- und Pflegeheimen zusammen, um die Medikation der Bewohnerinnen und Bewohner zu besprechen. Als Resultat konnte bei vielen die Dosis reduziert werden. Diese und weitere Projekte zeigen: Mehr Koordination resultiert in mehr Effizienz und geringeren Kosten.
«Wir verspüren viel Interesse an den Resultaten seitens der Behörden und politischen Gremien», sagt Milo Puhan.
© Nicolas Zonvi
Braucht das Gesundheitswesen umgekehrt auch mehr Ressourcen, um smarter zu werden?
Eine Gesundheitsversorgung ist dann smart, wenn sie die vorhandenen Ressourcen koordiniert auf die Bedürfnisse der Menschen abstimmt. Deshalb braucht es in vielen Fällen eher eine Umschichtung von Ressourcen als zusätzliche Ressourcen. Heute müssen Gesundheitsfachpersonen manchmal unnötig viel Zeit aufwenden für eine Koordination, die nicht digital organisiert ist. Oder es gehen Ressourcen verloren, weil Untersuchungen mehrfach durchgeführt werden. Da ist Potenzial vorhanden. Insofern geht es nicht primär darum, das medizinische Angebot weiter auszubauen, sondern besser zu nutzen. Das Ziel muss sein, mit den bestehenden Ressourcen ein Plus an Versorgung, Gesundheit und Zufriedenheit bei den Patientinnen und Patienten zu erreichen.
Gleichzeitig bedürfen gewisse Anpassungen sehr wohl zusätzlicher Ressourcen. Ich denke da insbesondere an die Digitalisierung und die Schulung, um mehr Koordination und Gesundheitskompetenz zu ermöglichen. Wenn wir jetzt entsprechend investieren, können wir nachher Ressourcen schonen.
Im Rahmen des NFP 74 sind auch Ansätze aus anderen Ländern erprobt worden. Inwiefern können wir bei der Verbesserung des Gesundheitswesens vom Ausland lernen?
Es gibt sehr innovative Ansätze in verschiedenen Ländern. In Bezug auf die Digitalisierung des Gesundheitswesens lohnt sich speziell der Blick nach Estland und in gewisse Regionen in Spanien, die diesbezüglich Vorreiter sind. Die USA, Kanada und Grossbritannien zeigen, wie Kompetenzen im Gesundheitswesen besser verteilt werden können – Stichwort pflegegeleitete Versorgungssysteme. In einem NFP-Projekt wurde dies für die Schweiz angepasst und führte in Pflegeheimen zu weniger ungeplanten Spitaleinweisungen [6].
Sie haben den Kulturwandel angesprochen, der für eine verstärkte Koordination nötig ist. Wie lässt sich dieser erreichen?
Die Stärkung der Gesundheitskompetenz der Patientinnen und Patienten gehört ebenso dazu wie die bereits erwähnte Schulung der Gesundheitsfachpersonen. Ganz wichtig war im NFP 74 zudem ein Weiterbildungsangebot, das sich an Doktorierende, Postdocs und Assistenzärztinnen und -ärzte richtete, die an den Projekten beteiligt waren. «Emerging Health Care Leaders» sollte den Nachwuchsforschenden vor allem ermöglichen, ein nachhaltiges Beziehungsnetz im Gesundheitswesen aufzubauen. Das wollen wir unbedingt weiterführen und wenn möglich auf die nächste Generation in Politik und Wirtschaft ausweiten. Sie sollen sich vernetzen können und gemeinsam neue Projekte aufgleisen. Das treibt den Kulturwandel voran, denn sie werden die Medizin von morgen prägen.
Das NFP 74 ist offiziell abgeschlossen. Inwiefern werden die Ergebnisse umgesetzt?
Die Projekte hatten von Anfang an den Auftrag, neue Ansätze zu erproben und sofern erfolgreich auch nachhaltig zu implementieren. Deshalb sind und bleiben beispielsweise Qualitätszirkel oder neue Instrumente zur Spitalaustrittsplanung bei den Praxispartnern im Einsatz. Und das Ziel ist natürlich, dass gute Ideen von anderen Institutionen übernommen werden. Das ist der Vorteil an unserem föderalistischen System. Innovationen können zuerst im kleinen Rahmen erprobt und später skaliert werden. Neben diesem Bottom-up-Ansatz spüren wir auch viel Interesse an den Resultaten des NFP 74 seitens der Behörden und politischen Gremien. Diese prüfen jetzt unsere Empfehlungen – wir sind gespannt.
Lesen Sie auch den Artikel über eine Studie aus dem NFP 74 auf Seite 78.

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