Interprofessionelle Gesundheitszentren

Schwerpunkt
Ausgabe
2023/24
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21856
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(24):75-76

Publiziert am 14.06.2023

Interprofessionalität Angesichts der Krise des Versorgungssystems, multimorbider Patientinnen und Patienten und des Hausärztemangels sind Gesundheitszentren eine effiziente und zugängliche Lösung, die eine koordinierte und integrative interprofessionelle Versorgung bietet und zur Prävention und Gesundheitsförderung beiträgt.
Das System der Gesundheitsversorgung ist in der Krise. Ursachen dafür sind die multimorbide Bevölkerung, die Explosion der Gesundheitskosten, der Mangel an Hausärztinnen und Hausärzten sowie die Einzelleistungsvergütung und die Umweltkrise. Interprofessionelle Gesundheitszentren können eine Lösung für viele dieser Probleme sein. Diese Einrichtungen beruhen auf der Zusammenarbeit zwischen Teams verschiedener Gesundheitsberufe und decken drei Schwerpunkte ab (Abbildung 1): Sprechstunde in der Praxis; häusliche Versorgung; Gemeinschaftsaktionen zur Prävention und Gesundheitsförderung.
Abbildung 1: Die drei Schwerpunkte des Gesundheitszentrums.
© Johanna Sommer
Wir stellen hier eine Einrichtung aus Meinier (Genf) vor, an der Hausärztinnen, Kinderärztinnen, eine Psychologin, Praxisassistentinnen und Praxiskoordinatorinnen sowie Pflegefachpersonen der Spitex Imad beteiligt sind. Zusätzlich arbeiten wir mit einer Physiotherapeutin, einer Sozialarbeiterin, Masseuren sowie einer Homöopathin zusammen, die in der Gemeinde niedergelassen sind, und entwickeln ein lokales Netz, das diverse andere Fachpersonen einbezieht (Hebamme, Schulpflegefachperson, Akupunkteurin usw.). Mittels einer von N. Perone et al. entwickelten Tabelle [1] werden komplexe Fälle identifiziert, die eine interprofessionelle Versorgung erfordern. Auf der in unserem Gesundheitszentrum gewonnenen Erfahrungen und beeinflusst durch die Forschungsergebnisse von Bodenheimer präsentieren wir nachstehend die sieben Hauptfaktoren eines leistungsfähigen Versorgungssystems und illustrieren sie durch unsere konkreten Projekte.

1) Leadership

«Leadership» bezieht sich auf die Patientinnen und Patienten ebenso wie auf die Gesundheitsfachpersonen.
Es sind zunächst die Patientinnen und Patienten, die Akteure ihrer Gesundheitsversorgung sind und deren Ziele in Zusammenarbeit mit den Fachpersonen festlegen. Jede Gesundheitsfachperson wiederum leitet ein Projekt und regt ihre Kolleginnen und Kollegen dazu an, sich daran zu beteiligen: Entwicklung von Anreizen zu sanfter Mobilität auf dem Weg der Patientinnen und Patienten in die Praxis, Elternaufklärung usw.

2) Dokumentierte Verbesserung durch elektronische Datenverarbeitung

Eine Datenbank dokumentiert die Verbesserungsmassnahmen.
Bei chronischen Krankheiten können klinische Daten überwacht und verglichen werden (z. B. HbA1c). Mithilfe von Fragebögen, die den Patientinnen und Patienten halbjährlich im Wartezimmer ausgehändigt werden, lässt sich deren Zufriedenheit dokumentieren; die Aspekte, die sich auf die Organisation beziehen (Barrierefreiheit, Wartezeit auf einen Termin usw.), ermöglichen die Verbesserung der Zufriedenheit.

3) Stabile Teams für koordinierte Versorgung

Patientinnen und Patienten, die als komplex identifiziert wurden, werden von stabilen Teams versorgt; es ist sehr wichtig, dass jede Patientin bzw. jeder Patient «ihre» bzw. «seine» Gesundheitsfachpersonen behält, damit sich die Beziehung konsolidieren kann, die für die Qualität und Kontinuität der Versorgung unverzichtbar ist. Die Teammitglieder treffen sich regelmässig, um die Versorgung zu besprechen und Verbesserungsmöglichkeiten zu finden. Die Gesundheitsdirektion des Kantons finanziert diese Koordinationsarbeit als Pilotprojekt. Inoffizielle Treffen, etwa in Form einer Kaffeepause, ermöglichen ebenfalls die Stärkung des Vertrauens zwischen den Gesundheitsfachpersonen und tragen deutlich zur Verbesserung der Zufriedenheit aller bei.
Im Rahmen interprofessioneller Qualitätszirkel kann über die Versorgung diskutiert und über ihre Stärken und Schwächen nachgedacht werden.

4) Partnerschaft zwischen den Teams und den Patientinnen und Patienten

Wie erwähnt sind die Patientinnen und Patienten zentrale Akteure der Gesundheitsversorgung. Die Teams arbeiten im Voraus einen Versorgungsplan aus und legen die Anweisungen für die Patientinnen und Patienten fest. Das Gesundheitszentrum verfügt über einen Beirat, an dem Partnerpatientinnen und -patienten, Patientenorganisationen sowie Kommunalbehörden beteiligt sind.

5) Gesundheitskoordinatorinnen und -koordinatoren

Jeder Patientin oder jedem Patienten steht eine Gesundheitskoordinatorin bzw. ein Gesundheitskoordinator zur Verfügung. Dabei kann es sich um eine Pflegefachperson, Praxiskoordinatorin, einen Arzt, beteiligten Angehörigen oder um eine andere Pflegeperson handeln. Diese Person begleitet die Patientin bzw. den Patienten bei der Organisation der Versorgung, stärkt ihre bzw. seine Autonomie durch Motivations- oder Aufklärungsgespräche und organisiert die Treffen des Versorgungsteams.

6) Ganzheitliche Gesundheitsversorgung: Prävention und Gesundheitsförderung

Das Gesundheitszentrum arbeitet gemeinsam mit der kantonalen Spitex an Präventions- und Gesundheitsförderungsprojekten. Je nach Bedarf organisiert das Gesundheitszentrum Präventionsaktionen (Grippeimpftag, Walking- und Bewegungsgruppen zur Sturzprävention, Aktionen gegen Hitzewellen-Risiken, Aktionen zur Abhängigkeitsprävention usw.).
Da für uns auch der Umweltschutz ein wichtiges Anliegen ist, setzen wir auf positive Nebeneffekte: Was für den Menschen gesund ist, ist auch gut für die Umwelt, und umgekehrt. Wir motivieren daher zu einer Ernährung, die arm an Fleisch und tierischen Produkten ist, zu aktiver und sanfter Mobilität (Radfahren, zu Fuss) sowie zu vermehrtem Kontakt mit der Natur.

7) Alternative Konsultationsmodelle

Neben traditionellen Sprechstunden bietet das Gesundheitszentrum Telekonsultationen und Gruppensitzungen (Mindfullness usw.) an und setzt auf integrative Behandlung mithilfe anderer Ansätze (Hypnotherapie, Akupunktur, Homöopathie usw.).

Fazit

Interprofessionelle Gesundheitszentren decken den Bedarf der Bevölkerung an Gesunderhaltung und Gesundheitsförderung im weiteren Sinne ab. Sie lassen das traditionelle Modell der medizinischen Konsultationen, in deren Mittelpunkt das Beheben von Schäden steht, hinter sich und setzen auf integrative Massnahmen eines koordinierten Teams, das auf die Bedürfnisse einer Person ausgerichtet ist, die zum Akteur ihres eigenen Gesundheitsversorgungsprojekts wird.

Für Sie zusammengefasst vom:

JHAS-Kogress | 31.03.-01.04.2023 | Fribourg
Prof. Dr. med. Johanna Sommer
Internistin, Professorin für allgemeine innere Medizin, Leiterin des Instituts für Familienmedizin in Genf. Sie entwickelte ab April 2023 ein Gesundheitshaus auf dem Genfer Land.
Johanna.Sommer[at]unige.ch
1 Perone N, Schusselé Filliettaz S, Waldvogel F, Sommer J, Schaller P, Balavoine J-F. Rev Med Suisse, 2022/774 (Vol.8), p. 560–565.
2 Bodenheimer T, Ghorob A, Willard-Grace, R, Grumbach, K. Ml. Ten building blocks of high performing primary care. Ann Fam Med 2014;12:166–171.

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