Sexuelle Belästigung in Spitälern weit verbreitet

Sexuelle Belästigung in Spitälern weit verbreitet

Hintergrund
Ausgabe
2023/34
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21954
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(34):16-18

Publiziert am 23.08.2023

Übergriffe Unanständige Witze, unerwünschte Berührungen bis hin zu Vergewaltigungsversuchen – aktuelle Studien zeigen, dass Sexismus und Diskriminierung in Schweizer Spitälern und medizinischen Fakultäten an der Tagesordnung sind. Nach und nach werden Präventionsmassnahmen eingeführt, insbesondere in den Westschweizer Kantonen.
Chloe* hatte gerade das propädeutische Praktikum im zweiten Jahr ihres Medizinstudiums an einem Westschweizer Universitätsklinikum begonnen. Sie hatte noch wenig Erfahrung, aber der leitende Arzt schenkte ihr sofort viel Aufmerksamkeit. «Er zeigte mir Röntgenbilder, erklärte mir gewisse Abläufe», erinnert sich die junge Frau. «Ich war geschmeichelt.» Sehr schnell bemerkt sie jedoch sein unangemessenes Verhalten. «Er machte einer Freundin Komplimente wegen der Farbe ihrer Unterwäsche, einer anderen wegen ihres Aussehens.»
Eines Tages kommt sie hinzu, als er sich mit einer Pflegefachfrau unterhält. «Gestern wurde einem Patienten der Thoraxkatheter entfernt, um eine Drainage zu legen, und die Praktikantin wäre fast ohnmächtig geworden», erzählt er amüsiert. Chloe verteidigt sich. «Das macht ja auch ziemlich Eindruck.» Der Arzt blickt ihr unverblümt in die Augen und bemerkt mit einem anzüglichen Lächeln: «Klar ist es mit dem Finger ganz schön aufregend.» Der Mediziner wurde später von seinen Vorgesetzten verwarnt, mehr aber nicht. «Er ist in der Zwischenzeit sogar aufgestiegen», seufzt Chloe, mit der die Schweizerische Ärztezeitung über das Studierendenwerk in Kontakt kam.
Im Bereich der Spitäler gibt es viele geschlossene Räume und eine starke Hierarchie, was Grenzüberschreitungen begünstigen kann.
© Frizzantine / Dreamstime

Ein endemisches Phänomen

Sexuelle Belästigung im medizinischen Umfeld ist in der Schweiz weit verbreitet. Eine von Medizinstudentinnen der Universität Lausanne (UNIL) im Jahr 2018 durchgeführte Umfrage ergab, dass 60 Prozent von ihnen anzügliche Handlungen oder doppeldeutige Bemerkungen mitbekommen, 36 Prozent sie sogar persönlich erlebt hatten [1]. Eine Studie von Forschenden der UNIL aus dem Jahr 2021 kam zu dem Schluss, dass 16 Prozent der Studierenden Opfer von sexueller Belästigung oder Sexismus waren [2]. Und eine Umfrage an der Universität Zürich (UZH) von 2022 fand unter den Studentinnen 24 Prozent Betroffene [3].
«Die Urheber sind meist Männer in Vorgesetzten-Positionen», betont Dr. Joëlle Schwarz, Leiterin der Fachstelle Medizin und Gender an der Universität Lausanne, die an der UNIL-Studie mitgewirkt hat. Die Umfrage unter den Lausanner Studentinnen zeigt, dass es sich in 57 Prozent der Fälle um Kaderärzte oder Oberärzte handelte [4]. Oft sind es Gewohnheitstäter. «In vielen Fällen sind sie spitalweit bekannt und berüchtigt», so Nedjma Mazouni, Vorstandsmitglied des Collectif de Lutte contre les Attitudes Sexistes en Milieu Hospitalier (CLASH) in Lausanne.

Rund 96 Prozent des Pflegepersonals sind betroffen

Sexuelle Belästigung betrifft nicht nur den ärztlichen Teil des Personals. Rund 96 Prozent der Pflegerinnen und Pfleger geben an, in den letzten zwölf Monaten Opfer gewesen zu sein, so eine Studie von Milena Bruschini von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften [6]. Am stärksten betroffen sind jüngere Pflegekräfte, Täter sind in erster Linie Patienten. «Die Pflegerinnen und Pfleger stehen in engem Kontakt mit den Patienten», sagt die Forscherin. «Sie müssen sie anfassen und körperlich versorgen.» In mehr als zwei Dritteln der Fälle sind die Übergriffe physisch (Berührungen, Küsse, Streicheln oder Umarmungen gegen ihren Willen). Auch einen Vergewaltigungsversuch dokumentierte die Forscherin. Andere Befragte berichteten von Patienten, die masturbierten, sich unangebrachterweise auszogen oder ihnen Avancen machten. «Das Pflegepersonal neigt dazu, solche Übergriffe herunterzuspielen, insbesondere, wenn sie von Patienten mit Demenz oder kognitiven Beeinträchtigungen ausgehen», bemerkt sie.
Die verzeichneten Handlungen reichen von unanständigen Witzen über unerwünschte Berührungen bis hin zu Vergewaltigungsversuchen und Einladungen, eine Nacht zusammen zu verbringen. Eine Studentin der Universität Zürich erzählt, dass ihr ein stellvertretender Chefarzt während einer Operation die Hand gestreichelt habe und später klarstellte: «Was im OP-Saal passiert, bleibt im OP-Saal.»
Während eines Orthopädiekurses sagte der Arzt nach dem Anlegen eines Gipsverbands: «Man muss warten, bis er steif wird – wie beim ... Sie wissen schon.» In Lausanne musste eine Medizinstudentin die wiederholten Avancen eines Dozenten zurückweisen, die dieser ihr per E-Mail, über soziale Netzwerke und persönlich machte.

Patienten als Täter

Bisweilen gehen Belästigungen auch von Patienten aus. Die Untersuchung der UZH ergab, dass unter den Urhebern 60 Prozent Ärzte, 15 Prozent Professoren und 10 Prozent Patienten waren. «Bei einer Palpation am Unterleib oder an der Innenseite der Oberschenkel geben männliche Patienten sexuell konnotierte Geräusche von sich oder sagen: ‹So gefällt es mir›», berichtet Dr. med. Iris Najjar, die an den Universitätskliniken Genf Innere Medizin praktiziert.
Sexuelle Belästigung ist die schlimmste Form der Diskriminierung, die Frauen im medizinischen Umfeld erleben. Daneben sind sie jedoch auch mit Alltagssexismus konfrontiert. Nach wie vor sind Lohnungleichheit und die Unvereinbarkeit bestimmter Spezialisierungen oder einer akademischen Karriere mit dem Familienleben ein Problem. «Allzu oft bedeutet eine Schwangerschaft das Ende einer Karriere, insbesondere in hochkompetitiven Fachgebieten wie der Chirurgie», sagt Iris Najjar. «Forschung wiederum findet in der Freizeit, abends und am Wochenende statt.»
Im Jahr 2019 wirkte sie an einer Onlineumfrage mit, die ergab, dass 32 Prozent der Ärztinnen und 6,8 Prozent der männlichen Ärzte in Genf, Lausanne und Neuenburg geschlechtsspezifisch diskriminiert wurden [5]. Bei den Chefärztinnen lag dieser Anteil bei 55 Prozent. «Je höher Frauen auf der Karriereleiter steigen, desto stärker sind sie betroffen, weil Sexismus in den oberen Hierarchiestufen deutlich präsenter ist», erklärt die Ärztin.

Alltägliche Mikroaggressionen

Neben diesen strukturellen Problemen sind Ärztinnen und Medizinstudentinnen mit einer Vielzahl täglicher Mikroaggressionen konfrontiert. Das Lausanner Kollektiv CLASH zitiert einen Arzt, der bei der Ankunft von fünf Praktikantinnen meinte: «Wir sollten eine Poledance-Stange aufstellen», oder einen anderen, der behauptet, dass die Augenchirurgie nichts für Frauen sei, weil man gut in Physik sein müsse, um die Kalibrierung der Geräte zu berechnen.
So etwas kann sich auf die Berufswahl der Studentinnen auswirken. «Man macht uns klar, dass wir uns als Frauen der Pädiatrie oder der Gynäkologie zuwenden sollten und nicht der Chirurgie, falls wir beabsichtigen, Kinder zu haben», sagt Bea Albermann, die die Zürcher Aussenstelle von CLASH mitbegründet hat.
Wie ist es zu erklären, dass Machtmissbrauch gerade in den medizinischen Berufen ein so verbreitetes Phänomen ist? «Diese Milieus sind stark hierarchisch geprägt, mit noch mehrheitlich männlich besetzten Kaderpositionen und vielen geschlossenen Räumen wie Operationssälen und Untersuchungszimmern», meint Joëlle Schwarz. «Das begünstigt ein Gefühl der Straffreiheit.» Obwohl in der Schweiz Frauen heute mehr als 60 Prozent der Studierendenschaft in der Medizin ausmachen, besetzen sie laut dem Dachverband der Schweizer Ärzteschaft (FMH) nur 15 Prozent der Chefarzt-Positionen.

Mentoring schafft eine Form der Abhängigkeit

Die Funktionsweise des Systems schafft zudem ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem medizinischen Nachwuchs und den Kaderpersonen. «Um Karriere zu machen, muss man sich einen Mentor suchen und sich mit seinen Vorgesetzten gut stellen», sagt Nedjma Mazouni. Der Beruf an sich leiste übergriffigem Verhalten Vorschub. «In der Medizin überschreitet man permanent Grenzen: Man palpiert den Körper, führt die Hand in den Körper ein, spricht mit den Patienten über ganz Intimes», sagt Bea Albermann.
Besonders gefährdet seien Medizinstudentinnen während ihrer Praktika. «Man kommt aus der gewohnten Umgebung in ein Umfeld, in dem man niemanden kennt und stark auf einen Vorgesetzten angewiesen ist, der einen anleitet», sagt Nedjma Mazouni.
Das bleibt nicht ohne Folgen. Mehrere Studien, darunter die von Iris Najjar und der UNIL, haben einen Zusammenhang zwischen der erlittenen Diskriminierung und dem Risiko von Burn-out, Angststörungen, Depressionen oder Suizidgedanken belegt. Im Extremfall kann dies zu Absenzen, zum Verzicht auf ein bestimmtes Fachgebiet oder zu einem Karrierewechsel führen. Geht es der Ärztin oder dem Arzt schlecht, droht darunter zudem die Qualität der Patientenversorgung zu leiden.

Das akademische Umfeld reagiert

Angesichts dieser unhaltbaren Zustände beginnt sich jedoch Widerstand zu regen. Der Anstoss dazu kam von einer Gruppe von Medizinstudentinnen der Universität Lausanne. «Sie haben im Kommilitoninnenkreis Erfahrungsberichte zu Belästigungsfällen gesammelt, die bis in die Direktionsebene reichten», sagt Joëlle Schwarz. Dies führte zur Gründung von CLASH Lausanne im Jahr 2018, zur Lancierung einer Plakatkampagne gegen Übergriffe und Sexismus im Spital und zur Einrichtung einer Hotline, um entsprechende Vorfälle zu melden.
«Einmal im Jahr stellen wir die Erfahrungsberichte zusammen und legen sie statistisch aufbereitet den Personalabteilungen des Universitätsspitals Lausanne vor», sagt Nedjma Mazouni. «Taucht der Name einer Abteilung auffällig oft auf, wird eine Untersuchung eingeleitet.» CLASH Lausanne kann die Opfer auch zu anderen Anlaufstellen weiterleiten, damit sie psychologische Hilfe erhalten oder bei der Polizei Anzeige erstatten können.
Seitdem sind an den Universitäten Freiburg, Genf, Bern und Zürich weitere CLASH-Aussenstellen entstanden. In der Deutschschweiz konnte sich die Bewegung allerdings erst mit Verzögerung durchsetzen, da der Widerstand dort grösser war – insbesondere vonseiten der Dekanate.

Sensibilisierung durch das Theater

Seit 2019 besuchen die Medizinstudierenden im dritten Studienjahr an den Universitäten Lausanne und Freiburg zudem einen obligatorischen Kurs zur Belästigung im medizinischen Umfeld. «Bei diesem ‹Theater der Unterdrückten› spielt eine Gruppe von Schauspielern kurze Szenen, in denen eine Medizinstudentin während ihres Spitalpraktikums sexuelle Belästigung und Sexismus erfährt», erzählt Prof. Dr. med. Carole Clair, ausserordentliche Professorin an der Fachstelle Medizin und Gender von Unisanté und UNIL, die an der Ausarbeitung dieser Lehrveranstaltung mitgewirkt hat.
Die Studentinnen und Studenten sollen die Szenen dann kommentieren und an die Stelle der Schauspielerin treten, welche die Studentin spielt. «Ziel ist es, ihnen die Instrumente an die Hand zu geben, um problematische Situationen erkennen zu können und um entsprechend zu reagieren, wenn sie selbst Derartiges erfahren oder miterleben», sagt Prof. Dr. med. Pierre-Yves Rodondi, Direktor des Instituts für Hausarztmedizin der Universität Freiburg, das an der Einrichtung der Schulung beteiligt war. Ein ähnliches didaktisches Projekt wurde in Genf ins Leben gerufen.
Praktizierende Ärztinnen und Ärzte dagegen können sich an ReMed wenden, ein von der FMH geschaffenes Netzwerk, das eine Hotline und Unterstützung durch andere Ärztinnen oder Ärzte anbietet.
Trotz dieser Fortschritte bewegt sich leider nur wenig. «Manche Fachrichtungen sind sehr klein», sagt Nedjma Mazouni. «Man erfährt alles, jeder kennt jeden. Die Opfer haben oft Angst, ihre Karriere aufs Spiel zu setzen, wenn sie sich über einen Vorgesetzten beschweren, und halten lieber den Mund.»
Auch seitens der Institutionen herrscht eine gewisse Trägheit. «Wenn eine Untersuchung abgeschlossen ist, wird der Täter möglicherweise verwarnt, aber nur selten entlassen», so Nedjma Mazouni. «Manchmal erfährt man, dass ein Arzt, der für seine Übergriffe bekannt ist, in den Privatsektor gewechselt hat oder freigestellt wurde. Es herrscht sehr wenig Transparenz.» Kleinen regionalen Spitälern und Arztpraxen fehlen die Mittel für derartige Verfahren.
Langfristig wünscht sich Pierre-Yves Rodondi Schulungen zu sexueller Belästigung und Sexismus auch für Spitalkaderärzte und Lehrärzte. «Es sollte genauso obligatorisch sein wie der Händedesinfektionskurs», meint er.
2 Barbier, J. M., Carrard, V., Schwarz, J., Berney, S., Clair, C., Berney, A. Exposure of medical students to sexism and sexual harassment and their association with mental health: a cross-sectional study at a Swiss medical school. BMJ Open, 2023;13, e069001. doi:10.1136/bmjopen-2022-069001
5 Najjar I, Socquet J, Gayet-Ageron A, et al. Prevalence and forms of gender discrimination and sexual harassment among medical students and physicians in French-speaking Switzerland: a survey. BMJ Open 2022;12:e049520. doi: 10.1136/bmjopen-2021-049520
6 Bruschini, Milena; Hediger, Hannele; Busch, Ada Katrin, 2023. Patients’ sexual harassment of nurses and nursing students : a cross-sectional study. International Journal of Nursing Studies Advances. 5(100121). Abrufbar unter: https://doi.org/10.1016/j.ijnsa.2023.100121
Jeanette Dietl

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