Faktencheck Die Zahl der brütenden Störche ist seit dem Jahr 2000 um 291% gewachsen, die Bevölkerung hingegen nur um 21%. Müssen die Schweizer deshalb bald den Störchen weichen? Selbstverständlich nicht. Doch während bei diesem Vergleich alle schnell merken, dass etwas nicht stimmen kann, fällt es in der Prämiendiskussion kaum jemandem auf.
Sie kennen den beständig wiederholten Vergleich der Prämienentwicklung mit der Lohnentwicklung: die Prämien seien zwischen 1997 und 2021 um 142% gestiegen, die Löhne hingegen nur um 15% betont die SP Schweiz, um ihre Prämieninitiative zu bewerben [1]. Nach dem gleichen Muster argumentierte die Mitte-Partei bei der Lancierung ihrer Kostenbremse-Initiative. Nach ihren Angaben sind die Prämien zwischen 1996 und 2016 sogar um 255,2% gestiegen, die Löhne jedoch fünfmal weniger [2]. Die Zahlen variieren, die Botschaft ist immer die Gleiche: «Den Menschen bleibt so immer weniger Geld zum Leben», schlussfolgert die SP aus diesem Vergleich [1]. Auch die Mitte-Partei kommt zum Schluss, diese Entwicklung «verringer[e] monatlich das Einkommen», sei deshalb «langfristig nicht tragbar und bring[e] Schweizer Haushalte an ihre Grenzen» [2].
Prozent und Prozent sind nicht das Gleiche
Darüber welche Prämienhöhe tragbar ist und welche nicht mehr, können die Meinungen auseinandergehen. Über die Grundlagen der Prozentrechnung sollte hingegen Einigkeit bestehen. Im Jahr 2020 entsprach ein Prozent Prämienanstieg einem Betrag von 3,74 Franken, ein Prozent Lohnanstieg hingegen einem Betrag von 66,65 Franken [3]. Prozent und Prozent sind also in keiner Weise vergleichbar, wenn die Prozentwerte auf einer völlig unterschiedlichen Basis beruhen. Die Gegenüberstellung von Lohnprozenten und Prämienprozenten hat darum auch kaum Aussagekraft, wie wir bereits an anderer Stelle ausgeführt haben [3].
Mehr Lohn- als Prämienzuwachs
Die Einkommensentwicklung in absoluten Zahlen zeigt entsprechend auch ein völlig anderes Bild als die prozentualen Prämien- und Lohnvergleiche glauben machen: Der Median-Nettolohn stieg in der Schweiz zwischen 1998 und 2020 von 4723 Franken [4] auf 6042 Franken [5]. Er stieg also um 28% beziehungsweise 1319 Franken. Im gleichen Zeitraum stieg die mittlere Prämie von 146 auf 315 Franken [6] und damit um 116% beziehungsweise 169 Franken. Obwohl die Prämien also prozentual viel stärker wuchsen als die Löhne, stieg ihr Betrag in Franken deutlich weniger als die Löhne. Den Menschen blieb trotz der Prämienerhöhungen nicht weniger, sondern mehr von einem Median-Nettolohn.
Mehr neue Menschen als neue Störche
Das Gleiche gilt für unser Beispiel mit den Störchen. Eine Zunahme der Brutpaare um 291% seit dem Jahr 2000 entspricht einer Zunahme um 510 Brutpaare [7]. Eine Zunahme der Bevölkerung um 21% entspricht über 1,5 Millionen Personen. Obwohl die Störche prozentual sehr viel stärker zugenommen haben, ist ihre Anzahl viel weniger gestiegen als die Zahl der Menschen in der Schweiz.
Grafik mit wenig Aussagekraft...
Die reine Angabe von Prozentwerten kann folglich sehr irreführend sein und falsche Schlussfolgerungen nahelegen. Dies gilt umso mehr, wenn sie in Grafiken veranschaulicht werden. Diese suggerieren dem Betrachter, er könne einen Sachverhalt visuell erfassen – täuschen aber mitunter. So stellt ein in der Prämiendiskussion häufig verwendetes Diagramm ebenfalls die Prämienentwicklung der Lohnentwicklung gegenüber, teilweise auch dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) oder anderen Indikatoren. Immer werden aber mithilfe der sogenannten Indexierung ausschliesslich prozentuale Veränderungen abgebildet. Das Diagramm zeigt dann eine quer über das Bild steil steigende Prämien-Linie, während am Boden der Grafik eine Lohn-, Lohnindex- oder BIP-Linie ohne nennenswerten Anstieg nahezu waagerecht verläuft (Abbildung 1a). Die meisten Betrachtenden dürften angesichts dieser Grafik erschrecken. Den wenigsten dürfte bewusst sein, dass eine solche Grafik wenig darüber aussagt, ob ein Problem vorliegt. Sie lässt sich genauso zur Entwicklung unseres Storchenbestands anfertigen (Abbildung 1b).
...aber starker Suggestivkraft
Die Botschaft solcher Grafiken an den Betrachtenden ist klar: Die Prämien wachsen uns über den Kopf – und dies sehr schnell und sehr stark. Dieser visuelle Eindruck wird oft auch durch Begleittexte oder Beschriftungen verstärkt. Das BAG erläutert zu dieser Grafik in einem seiner Faktenblätter, die OKP-Ausgaben seien «in den letzten 20 Jahren im Schnitt rund 4.5 Prozent pro Jahr gewachsen (…), fast doppelt so stark wie das Bruttoinlandprodukt (BIP)» [8]. In einer anderen Version desselben Faktenblattes schreibt das BAG, die Prämien seien «in den letzten 20 Jahren im Schnitt rund 3.5 Prozent pro Jahr gewachsen (…), dreimal so stark wie das Bruttoinlandprodukt pro Einwohner (BIP, +1,1 Prozent pro Jahr)» [9]. Sehr viel einfacher formuliert die SP die intendierte Botschaft: «Prämienwahnsinn stoppen!» schreibt sie direkt auf die Grafik ihrer Initiativen-Webseite [1].
Zentrale Informationen fehlen
Die starke Botschaft der Grafik lebt vom Weglassen zentraler Informationen. Die sehr unterschiedlichen absoluten Werte bleiben in der prozentualen Betrachtung von Prämien-, Lohn- oder BIP-Entwicklung unsichtbar. Der Betrachter kann nicht sehen, dass – zum Beispiel in der BAG-Grafik in Abbildung 1a – der steile Anstieg der roten Diagonale einem Zuwachs der mittleren Jahresprämie um 1927 Franken auf 3777 Franken entspricht, der deutlich flachere Anstieg des BIP pro Kopf aber einen Zuwachs um 15 371 Franken auf 80 418 Franken zeigt [10]. Der Zuwachs des BIP pro Einwohner erscheint auf dieser Grafik fast fünfmal kleiner als der Prämienzuwachs – obwohl er achtmal grösser ist. Auch der Begleittext wäre mit absoluten Zahlen kaum alarmierend gewesen, hätte er analog doch lauten müssen: Während die Prämien «in den letzten 20 Jahren im Schnitt um 96 Franken pro Jahr zunahmen, wuchs das Bruttoinlandprodukt pro Einwohner achtmal stärker (BIP +769 Franken pro Jahr)».
Grafik mit politischer Geschichte
Die Grafik und Varianten davon sind bereits in den verschiedensten Kontexten publiziert worden. Der Schreck beim Betrachtenden dürfte dabei oft beabsichtigt gewesen sein – denn in der Regel wurde eine politische Forderung damit verknüpft. Die erste Grafik nach diesem Muster, die wir in unserer Recherche finden konnten, stammt vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) aus dem Jahr 1986 [11]. Unter der Überschrift «Krankenversicherung! Kosten und Prämien laufen den Löhnen davon!» zeigte bereits damals eine rote Diagonale, dass zwischen 1966 und 1986 die Prämien um 587 Indexpunkte gestiegen seien, die Löhne hingegen nur um 292 Indexpunkte (Abbildung 2). Mit dieser Argumentation sammelten die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SPS) und der SGB Unterschriften für ein Krankenkassenobligatorium mit einkommensabhängigen Prämien. Ihre Volksinitiative wurde 1994 mit 76,6% der Stimmen abgelehnt – am gleichen Tag, als das Krankenkassenobligatorium mit Kopfprämien angenommen wurde [12].
Weitere politische Verwendungen…
Der SGB verwendete die Grafik weiterhin regelmässig in seinen Verteilungsberichten, die aufzeigen sollen, dass «die Lohnfortschritte bei den unteren und mittleren Einkommen (…) von einer unsozialen Steuer- und Abgabepolitik wieder ‘weggefressen’» werden. Die mit der Grafik verbundene politische Forderung blieb ähnlich: die Krankenkassenprämien sollten «kurzfristig maximal 10% des Nettoeinkommens» betragen, «mittelfristig maximal 8%» und «längerfristig einkommensabhängige Prämien» sein [13].
In diesem Sinne verwendet auch die SP weiterhin dieses Diagramm. Aktuell soll die Grafik auf ihrer Initiativen-Webseite die Forderung unterstreichen, dass kein Haushalt mehr als 10% des verfügbaren Einkommens für die Prämien ausgeben müssen soll. Die Mitte-Partei, vormals CVP, unterlegte ihre Forderung nach einer «Kostenbremse» ebenfalls mit verschiedenen Varianten dieser Grafik.
… und als scheinbar neutrale Information
Wie oben bereits angesprochen, findet sich die Darstellung aber nicht nur in Kontexten von Volksinitiativen, bei denen mit zugespitzten, interessensgeleiteten Darstellungen gerechnet werden muss. Auch die Bundesverwaltung setzt diese Grafik in verschiedenen «Faktenblättern» ein, um Handlungsbedarf bei der Prämienentwicklung aufzuzeigen – und verbindet damit ebenfalls weitgehende politische Forderungen: Mit «Zielvorgaben» soll der Staat die Kostenentwicklung in der Grundversicherung vorgeben und allenfalls «korrigieren» [8,9].
Häufig erscheint die Grafik auch in unpolitischen Kontexten wie Medienberichten über die Entwicklung der Krankenkassenprämien. Zwar widmete die NZZ der verzerrten Darstellung der BAG-Faktenblätter einmal einen kritischen Artikel – blieb damit jedoch eine Ausnahme [14]. Obwohl eine Darstellung in absoluten Zahlen möglich und aussagekräftiger ist (siehe NZZ [14] und andere Publikationen [3, 15]), wird diese kaum verwendet. Überwiegend hat es die wenig aussagekräftige aber stark suggestive Darstellung aus der politischen Kommunikation in die Tagespresse geschafft – wo Leser und Leserinnen sie nun als neutrale und objektive Information wahrnehmen.
Fazit: Politik und Information trennen
Die Krankenkassenprämien sind ein wichtiger Budgetposten für alle Haushalte in der Schweiz. Ihre Höhe und Entwicklung verdient darum nicht nur grosse Aufmerksamkeit, sondern auch sachliche und differenzierte Analysen. Nur auf diese Weise wird es gelingen, insbesondere einkommensschwächere Haushalte und Familien wirksam zu entlasten. Die prozentuale Entwicklung von Prämien und Löhnen gegenüberzustellen, ist dabei jedoch nicht hilfreich: Diese Vergleiche sind kaum aussagekräftig und werden in der Regel eingesetzt, um beängstigende Botschaften zu transportieren, die sie objektiv nicht hergeben. Ein solcher Alarmismus begünstigt Aktionismus und politische Mehrheiten auch für Massnahmen, die am Problem vorbeigehen.
Wer taugliche Lösungsvorschläge hat, sollte auf solche Mittel nicht angewiesen sein. Dennoch ist es nachvollziehbar, dass Gewerkschaften und Parteien versuchen, mit möglichst eindrücklichen Zahlen und Grafiken die Bedeutung ihrer Initiativen zu unterlegen, um Zustimmung zu erhalten. In einem politisch aufgeladenen Kontext ist der Öffentlichkeit auch bewusst, dass die präsentierten Zahlen und Grafiken nicht unbedingt ein objektives Bild vermitteln und betrachtet sie entsprechend kritischer. Problematisch ist jedoch, wenn in offiziellen Dokumenten oder Medien irreführende Zahlen und Grafiken präsentiert werden. Dort erwartet die Öffentlichkeit neutrale Informationen – und keine Grafiken, mit denen der SGB bereits vor Jahrzehnten warnte, dass die Prämien die Löhne seit 1966 auffrässen.
Und die Störche?
Jeder Vergleich hat seine Grenzen. Die Krankenkassenprämien beanspruchen einen deutlich grösseren Teil der Haushaltsbudgets als Störche Platz in der Schweiz. Und während sich die meisten Menschen bei der Sichtung eines Storchs freuen dürften, sind Prämienrechnungen nicht gerne gesehen und in manchen Haushalten sogar gefürchtet.
Aber genau das sollte uns zu denken geben. Selbst mit vollständig irrelevanten Entwicklungen kann man ähnliche Vergleiche und Grafiken produzieren – und beängstigende Botschaften unterlegen. Vergleiche von Prozenten mit unterschiedlicher Basis sagen nichts aus, wenn man die absoluten Zahlen nicht kennt. Trotzdem können zu viele Störche an einem Ort auftreten oder die Prämien für einen Teil der Haushalte zu hoch sein. Dies löst man aber nicht mit Alarmismus, sondern mit sachlichen Analysen.
2 Initiative «Für tiefere Prämien – Kostenbremse im Gesundheitswesen.» Delegiertenversammlung der CVP Schweiz vom 21. April 2018; dokumentiert durch das Schweizerische Sozialarchiv, Sachdokumentation: Signatur: DS 1268; Permalink: www.sachdokumentation.ch/bestand/ds/1268
3 Wille N, Gilli Y. Wie beeinflusst die Prämienentwicklung die verfügbaren Einkommen? Schweiz Ärzteztg. 2022;103(35):1070-1072; URL: https://saez.ch/article/doi/saez.2022.21009
8 Eidgenössisches Departement des Innern EDI, Bundesamt für Gesundheit BAG, Abteilung Kommunikation und Kampagnen. Vorgabe von Zielen für die maximale Kostenentwicklung im Gesundheitswesen, 10.11.2021; URL: https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/68889.pdf
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