Lebensqualität bei Demenz

Schwerpunkt
Ausgabe
2023/36
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21979
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(36):69-70

Publiziert am 06.09.2023

Individualität Den Menschen mit Demenz ein gutes Leben zu ermöglichen, ist eine gesellschaftliche und wissenschaftliche Priorität. Was verstehen wir jedoch heute unter Lebensqualität und was benötigt es, um Lebensqualität bei Menschen mit Demenz ressourcenorientiert und individualisiert zu erfassen?
Eine gute Lebensqualität ist in den letzten Jahren zu einem Schlüsselbegriff für die Gesundheitsversorgung geworden. Ältere Menschen unterscheiden sich jedoch stark in ihren Vorstellungen eines guten und qualitätsvollen Lebens. So zeigen qualitative Studien, dass ältere Menschen unter Lebensqualität nicht nur Gesundheit, sondern vor allem auch Familie, soziale Kontakte und Teilhabe, Aktivität, Spiritualität und vieles mehr verstehen [1, 2]. Bei aller Uneinigkeit darüber, was Lebensqualität beinhaltet, ist man sich heute darüber einig, dass Lebensqualität ein multidimensionales, ganzheitliches Konstrukt darstellt, welches interdisziplinär und aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden muss.
Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt in der Schweiz bei über achtzig Jahren.
© Jos Schmid, Zürich

Gesundes Altern

2021 hat die WHO die Dekade des gesunden Alterns ausgerufen und dabei ein neues Gesundheitsverständnis vorgeschlagen [3]. Gesundes Altern ist dabei nicht durch eine bestimmte Schwelle der Funktionsfähigkeit oder Gesundheit definiert. Es geht vielmehr darum, ein Umfeld und Möglichkeiten zu schaffen, die es den Menschen ermöglichen, ihr ganzes Leben lang das zu sein und zu tun, was sie persönlich wertschätzen. Jeder Mensch kann in diesem Verständnis gesundes Altern erleben. Das Freisein von Krankheit oder Gebrechen ist dabei keine Voraussetzung. In diesem Verständnis kann auch bei Multimorbidität Lebensqualität erreicht werden.

Lebensqualität – auch bei Demenz?

In einer umfassenden Studie [4] wurden aus einer Analyse von 198 Lebensqualitätsstudien mit über 37 000 Personen mit Demenz 43 Lebensqualitäts-Faktoren untersucht. Faktoren, welche Beziehungen, soziales Engagement und funktionale Fähigkeiten widerspiegelten, wurden mit einer besseren Lebensqualität in Verbindung gebracht. Faktoren, die hingegen auf eine schlechtere körperliche und geistige Gesundheit (einschliesslich Depressionen und anderer neuropsychiatrischer Symptome) sowie auf ein schlechteres Wohlbefinden der Pflegenden hinweisen, waren mit einer schlechteren Lebensqualität verbunden.

Messung der Lebensqualität bei Demenz

Mit zunehmender Wichtigkeit der evidenzbasierten klinischen Praxis und der Einbeziehung patientenbezogener Ergebnisse ist die Lebensqualität auch eine wichtige Zielgrösse von Massnahmen im Gesundheits- und Sozialwesen. Um jedoch Aussagen zur Lebensqualität von Menschen mit Demenz zu machen, braucht es Masse, die nicht nur valide und reliabel ist, sondern auch individuell bedeutsam.
Nun gibt es eine grosse Anzahl von demenzspezifischen Lebensqualitätsskalen. Die Wahl dieser Masse hat entscheidende ethische Implikationen, denn die verschiedenen Masse der Lebensqualität spiegeln unterschiedliche grundlegende Ansichten darüber wider, was ein gutes Leben ausmacht. Zudem steht ein Grossteil der derzeit vorhandenen Instrumente in der Kritik, defizitorientiert zu sein und individuelle Sichtweisen kaum oder nicht ausreichend zu berücksichtigen.

Individualisierte Messmethoden

Es besteht deshalb ein Bedarf an Messmethoden und Instrumenten, welchen ein ressourcenorientiertes und individualisiertes Verständnis von Lebensqualität bei Demenz zu Grunde liegt, so wie dies beispielsweise das Modell des gesunden Alterns der WHO beschreibt. Um die Einschränkungen standardisierter Messverfahren zu umgehen, hat man begonnen, individualisierte Erfassungsinstrumente der Lebensqualität zu entwickeln. Dabei benennen und bewerten etwa die Befragten die für ihre Lebensqualität entscheidenden Bereiche selbst, wie dies beispielsweise im Schedule of Individualized Quality of Life (SEIQOL) gemacht wird [5]. Dieses personalisierte Instrument gibt Personen die Möglichkeit, einerseits bedeutsame Lebensbereiche auszusuchen und andererseits deren Wichtigkeit sowie aktuelle Zufriedenheit mit den Bereichen für sich anzugeben.
Eine andere Möglichkeit der Individualisierung wurde in einer Untersuchung[6] durch sogenannte «Prä-Fragen» eingeführt, um die Bereiche von standardisierten Demenz-Lebensqualitätsinstrumenten zu personalisieren. So zum Beispiel bei den zwei häufig eingesetzten Instrumenten «Dementia Quality of Life» [7] und «Quality of life-Alzheimers Disease» [8)]. Dabei werden Personen gebeten, auf einer visuellen Analogskala anzugeben, wie wichtig einzelne Lebensqualitätsbereiche für ihre eigene Lebensqualität sind.
Mehrere Faktoren wie verhaltensbedingte und nicht kognitive Symptome, aber auch Symptome wie beispielsweise Schwierigkeiten beim abstrakten Denken und Anosognosie können die selbstberichtete Lebensqualität bei Demenz beeinflussen. Diese Einschränkungen können zwar die Bewertungen der an Demenz erkrankten Menschen beeinflussen, doch Einschätzungen der Lebensqualität durch Fremdpersonen wie Ärzte oder Angehörige unterscheiden sich immer von denen der von Demenz betroffenen Person selbst. So zeigen Studien [9], dass pflegende Angehörige die Lebensqualität der Person mit Demenz in der Regel niedriger bewerten als die Menschen mit Demenz selbst. Dies wird auf Faktoren der erlebten Belastung, depressive Stimmung und Projektion zurückgeführt.
Angesichts des subjektiven Charakters der Lebensqualität ist es deshalb wichtig, die Selbsteinschätzungen der Betroffenen einzuholen, wo immer dies möglich ist und die selbstberichtete Lebensqualität so lange wie möglich zu bevorzugen. Ist dies nicht mehr möglich, bieten Beobachtungsinstrumente des Verhaltens und des emotionalen Ausdrucks Alternativen.

Für Sie zusammengefasst von der:

Nationalen Demenzkonferenz | 11.05.2023 | Bern
Dr. phil. Betr. oec. Sandra Oppikofer
Leitung Entwicklung und Evaluation ZfG und Senior Innovation Development and Partner Manager HLC an der Universität Zürich am Healthy Longevity Center und Zentrum für Gerontologie.
sandra.oppikofer[at]zfg.uzh.ch
1 Bowling A, et al. Let’s ask them: a national survey of definitions of quality of life and its enhancement among people aged 65 and over. The International Journal of Aging and Human Development. 2003;56(4),269-306.
2 van Leeuwen KM, van Loon MS, van Nes FA, et al. What does quality of life mean to older adults? A thematic synthesis. PloSOne. 2019;14(3):e0213263.
3 Michel JP, Leonardi M, Martin M, Prina M. WHO’s report for the decade of healthy ageing. 2021–30 sets the stage for globally comparable data on healthy ageing. The Lancet Healthy Longevity. 2021;2(3),E121-E122.
4 Martyr A, et al.Living well with dementia: a systematic review and correlational meta-analysis of factors associated with quality of life, well-being and life satisfaction in people with dementia. Psychol Med. 2018;48(13),2130-2139.
5 O’Boyle C, McGee H, Hickey A, et al. The Schedule for the Evaluation of Individual Quality of Life (SEIQoL). Department of Psychology, Royal College of Surgeons in Ireland: Administration Manual. 1993.
6 Hendriks I, et al.Value of Personalized Dementia-Specific Quality of Life Scales: An Explorative Study in 3 European Countries. Am J Alzheimers Dis Other Demen. 2021;36:15333175211033721.
7 Brod M, Stewart AL, Sands L,Walton P. Conceptualisation and measurement of quality of life in dementia: the dementia quality of life instrument (DQoL). The Gerontologist. 1999;39,25-35.
8 Logsdon RG, Gibbons LE, McCurry SM, Teri L. Quality of life in Alzheimer’s disease: patient and caregiver reports. Journal of Mental Health and Ageing. 1999;5,21-32.
9 Robertson S, et al. Comparing proxy rated quality of life of people living with dementia in care homes. Psychol Med. 2020;50(1),86-95.
10 Conde-Sala JL, Reñe-Ramirez R, Turró-Garriga O, et al. Severity of dementia, anosognosia, and depression in relation to the quality of life of patients with alzheimer disease: discrepancies between patients and caregivers. Am J Geriatr Psychiatr. 2014;22(2):138-147.

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