Hausarztmedizin Die Land-Permanence im Zürcher Weinland ist die erste und bisher einzige ihrer Art in der Schweiz. Hier teilen sich 24 Hausärztinnen und Hausärzte den Notfalldienst. Ein Modell mit mehreren Vorteilen, wie ein Besuch vor Ort zeigt.
Der einzige «Notfall» hier bei der Land-Permanence in Henggart ist vorerst das falsch geparkte Auto eines Praxis-Kunden, auf das ein Anwohner freundlich, aber bestimmt hinweist. Die Notfall- und Hausarztpraxis selbst, ein architektonisch ins 21. Jahrhundert gebeamtes Hexenhäuschen, wärmt sich derweil in aller Ruhe in der strahlenden Morgensonne auf. Auch in der Praxis drin ist alles ruhig. Die drei Medizinischen Praxisassistentinnen, die an diesem Morgen unter der Leitung von Anne Sillmann arbeiten, sind mit administrativen Aufgaben und telefonischen Terminvereinbarungen beschäftigt. Im Wartezimmer sitzen zwei Hausarztpatienten. Beim einen wird später ein Röntgenbild gemacht, der andere wird die Praxis nach der Konsultation mit einer Packung Medikamente verlassen.
Nebst einer Assistenzärztin hat an diesem Morgen auch Andreas Hablützel Dienst, Gründer und heute Verwaltungsratspräsident der Land-Permanence AG. Hablützel, braungebrannt und durchtrainiert wie ein Langstreckenläufer, ist ein Hausarzt alter Schule mit den Werten der alten Schule, wie er von sich selbst sagt. Früher hat er eine Einzelpraxis in Marthalen geführt. Er ist einer, der die Hausarztmedizin als massgebliches Bollwerk gegen die Kostenexplosion im Gesundheitswesen sieht, was er später noch ausführen wird. Doch wie ist es zur Gründung der Land-Permanence gekommen?
Unattraktive Bedingungen
Das Zürcher Weinland ist in drei Notfallkreise unterteilt. Vor zehn Jahren mussten die Hausärztinnen und -ärzte in jedem Kreis etwa 60 Notfalldienste pro Jahr leisten, erinnert sich Andreas Hablützel. Also einen Tag pro Woche sowie an zehn Wochenenden und Feiertagen pro Jahr. Dann gab es eine Reorganisation, initiiert durch die Ärztegesellschaft Zürich unter Einbezug von betroffenen Hausärztinnen und Hausärzten. Es wurde eine einheitliche 365-Tage-24 Stunden-Notfallnummer eingerichtet. Patientinnen und Patienten erreichten so ein Triage-Zentrum, das sie angepasst an ihre Beschwerden an den richtigen Ort weiterwies. «Dadurch fielen für uns Hausärzte die Notfall-Nachtdienste weg», so Hablützel. Ab 22 Uhr wurden die Hilfesuchenden entweder an ein Spital überwiesen oder vom ärztlichen Besuchsdienst aufgesucht. «Die Anzahl Tage, an denen wir Notfalldienst hatten, ging jedoch nicht zurück. Und weil die Nächte der kleinere Teil der Belastung waren, schien mir der Effekt dieser Reorganisation zu klein. Meine Befürchtung war, dass es im Weinland mittelfristig schwierig werden könnte, nach Pensionierungen genügend junge Hausärzte zu finden, die zu diesen Konditionen arbeiten wollen», sagt Hablützel. So kam er auf die Idee der Land-Permanence: «Dabei teilen wir die Notfalldienste so auf, dass es pro Person – je nach Pensum – noch zwei bis fünf Dienste pro Jahr sind.»
Die Land-Permanence in Henggart ist die erste und bis anhin einzige ihrer Art in der Schweiz. Permanence-Praxen gibt es sonst nur in Städten. Die Land-Permanence wurde 2019 nach nur 15 Monaten Planungszeit eröffnet. Andreas Hablützel hatte zuvor alle 35 Hausärztinnen und Hausärzte der Region angefragt, ob sie Aktionäre oder Aktionärinnen werden möchten, 24 von ihnen sagten zu und teilen sich seither die Notfalldienste untereinander auf.
Zentral gelegen
Die Praxis ist täglich von 7 bis 22 Uhr geöffnet und empfängt in dieser Zeit sowohl Notfälle wie auch Hausarztpatientinnen und -patienten – sowohl Kinder wie Erwachsene. Zudem gibt es eine gynäkologische Sprechstunde. Damit Not- und «Normal»-Fälle gut aneinander vorbeigehen, werden täglich Zeitfenster eingeplant, in denen keine Termine vergeben, sondern quasi die Bewegungen des Tages abgefedert werden. Viele der MPAs aber auch ein Teil der Ärztinnen und Ärzte arbeiten Teilzeit, etwas, was in Hausarztpraxen auf dem Land sonst eher selten möglich ist. Die Bevölkerung hat die Land-Permanence schnell akzeptiert und ist froh, einen fixen Ort zu haben, an den sie sich in Notfällen wenden kann. Die Praxis übernimmt auch die Ferienvertretungen für die angeschlossenen Hausärztinnen und Hausärzte. In den vier Jahren ihrer Betriebszeit ist die Permanence bereits so stark gewachsen, dass eine Wohnung dazu gekauft werden musste und ein Neubau ins Auge gefasst wird. Dieser müsste ebenfalls in Henggart zu stehen kommen. Andreas Hablützel hat die Gemeinde ausgesucht, weil sie zentral im Weinland gelegen ist, was die Anfahrtszeit für die meisten Patientinnen und Patienten verkürzt.
MPA Anne Sillmann erzählt in einer kurzen Kaffeepause, dass ihr die Abwechslung, die die Permanence bei der Arbeit biete, sehr gut gefalle. Sillmann ist Pflegefachfrau und wollte nach zwanzig Jahren im Spital noch etwas anderes sehen. «Aufgrund der Notfalldienste wissen wir hier nie, was als nächstes kommt. Ein Kind mit Schnittwunde? Ein Arbeitsunfall?», so Sillmann. Die MPAs sind für die Patientinnen und Patienten die ersten Ansprechpersonen und entscheiden selbstständig, wie dringlich ein Fall ist und an wen er intern weitergeleitet wird. Um kleinere Dinge wie etwa eine geringfügige Verletzung kümmern sie sich selbst. «Unsere grosse Herausforderung ist es, niemanden abweisen zu müssen, wenn zwischendurch mal alles auf einmal kommt», sagt Sillmann. Und schon wird sie wieder gebraucht, die Lernende MPA braucht ihre Unterstützung.
Die Ruhe selbst
Gebraucht wird jetzt auch Andreas Hablützel. Denn nun ist tatsächlich ein Notfall eingetroffen und die Assistenzärztin möchte den erfahrenen Arzt beim ersten Augenschein dabeihaben. In der kleinräumigen Praxis kommt deswegen keine Hektik auf, der Notfallpatient wird versorgt und alle andern, die nicht involviert sind, gehen weiter ihren Aufgaben nach.
«Der Mann hat symptomatisches Vorhofflimmern. Ich gehe davon aus, dass wir es mit Medikamenten unter Kontrolle bringen können. Aber das ist ein Grenzfall, wenn es schlimmer wird, muss der Patient ins Spital», berichtet Hablützel später und macht es sich wieder auf seinem Stuhl gemütlich. Den Mann bringt offensichtlich nichts aus der Ruhe. Die Assistenzärztin ist nun allein für die Versorgung des Patienten zuständig und wird noch zweimal den Kopf ins Zimmer strecken, um Hablützel um Rat zu fragen.
Hausarztmedizin ist kostengünstig
«In der Schweiz ist jede Hausarztpraxis mit einem Präsenzlabor, einem Röntgengerät, einem EKG und was es noch alles gibt, ausgerüstet. Zusammen mit unseren Augen, Ohren sowie unserer Erfahrung verschaffen wir uns ein Gesamtbild vom Zustand eines Notfallpatienten und können ihn, weil wir ja auch die Medikamente zur Verfügung haben, sofort behandeln. Im Spital wären bei einem Vorhofflimmern längst teure Untersuchungen angeordnet worden. Hausärztinnen und Hausärzte können die allermeisten Beschwerden, die die Patientinnen und Patienten haben, selbst behandeln. Sie können vielleicht nicht jede Untersuchung durchführen, weil sie die Geräte dazu nicht haben, die Untersuchungsergebnisse hingegen können sie sehr wohl beurteilen», sagt Andreas Hablützel. Er hat noch viel mehr Ideen und dezidierte Meinungen, wie im Gesundheitswesen Geld gespart werden könnte. Doch mit dem Praktizieren von «hausärztlichen Werten» allein, so betont er, seien schon sehr viele Einsparnisse möglich. Gemäss ihm sind es Werte wie: Die Patientinnen und Patienten sowie ihre Krankengeschichte gut kennen, Überweisungen an ein Spital oder einen Spezialisten, eine Spezialistin nur, wenn es wirklich nötig ist und wenn, dann die Nachbetreuung wieder selbst übernehmen. Und auch den Mut haben, bei Schmerzen einfach mal abzuwarten, ob sie sich nicht von selbst erledigen, statt gleich eine teure Untersuchung anzuordnen.
Einfachere Personalsuche
Es bleibt ein ruhiger Morgen in der Land-Permanence und auch die Symptome des Vorhofflimmerns werden dank der abgegebenen Medikamente glücklicherweise weniger. Zeit, um in Ossingen bei Hausarzt Florian Kuss, einem der Aktionäre, nachzufragen, wie er das Geschäftsmodell Land-Permanence und die Dienste dort erlebt: «Mich hat das Konzept von Anfang an überzeugt, weil es eine Lösung darstellt, wie die Notfalldienste im Weinland sinnvoll geregelt werden können», so Kuss. Es sei für die Patienten viel einfacher, weil sie nicht mehr wie früher zuerst herausfinden müssten, wer Notfalldienst hat. Es sei klar, dass die Land-Permanence die zentrale Anlaufstelle ist und geografisch gut erreichbar. Zudem sei das Modell eine Entlastung für das Personal in den Praxen der angeschlossenen Hausärzte. Sie müssten bei sich nur noch mehr oder weniger normale Büroöffnungszeiten anbieten. «Dadurch finden sie eher MPAs. Bei gegenwärtig 300 offenen MPA-Stellen im Kanton Zürich ist das ein gewichtiges Argument bei der Personalsuche», sagt Florian Kuss.
Mehr Aufgaben delegieren
Florian Kuss hat bis 2015 als Internist im Spital Winterthur gearbeitet und wandte sich unter anderem aus familiären Gründen der Hausarztmedizin zu. Die Praxis in Ossingen, an der er beteiligt ist, ist als Gemeinschaftspraxis konzipiert, sodass die Arbeitszeiten sowie die Aufgaben aller Beteiligter geregelt und aufgeteilt sind. Zudem sind dank der Land-Permanence seine Notfalldienste ebenfalls geregelt, «womit der Hausarztberuf hier für mich persönlich sehr gut vereinbar ist mit meiner Familie.» Man könne heute im Weinland als Hausarzt bei geregelten Arbeitszeiten gute, vernünftige moderne Medizin anbieten. Und damit, das zeigen gemäss Kuss neue Zahlen der FMH für die Schweiz [1], auch die Gesundheitskosten senken. «Die Konsultationen haben zwar zugenommen, aber die Kosten pro Konsultation wurden weniger, das heisst, die Hausärzte haben effizienter gearbeitet», so Florian Kuss.
Und was schweben Andreas Hablützel noch für Massnahmen vor, um das Gesundheitswesen zu verbessern? Er plädiert unter anderem für mehr Permanence-Praxen, dafür weniger Spitäler und weniger Föderalismus im Gesundheitswesen. Und – ganz praktisch – fände er es sinnvoll, gewisse Aufgaben an die MPAs oder Advanced Practice Nurses abgeben zu können. «Es macht keinen Sinn, dass ich auch einfachere Untersuchungen alle selbst machen muss, nur damit ich sie abrechnen kann. Meine erfahrenen Angestellten könnten das auch erledigen, auch wenn sie nicht Medizin studiert haben. Der Hausarzt-Mangel wäre damit von einem auf den nächsten Tag gelöst», ist Hablützel überzeugt.
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