Die wohltuende Wirkung der Natur

Zu guter Letzt
Ausgabe
2023/34
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.22030
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(34):82

Publiziert am 23.08.2023

Die Menschen und besonders die Kinder leben zunehmend in städtischen Gebieten und verbringen immer weniger Zeit im Freien. Die damit einhergehende Enge und Schadstoffbelastung können eine Vielzahl von Beschwerden hervorrufen. Dieses Phänomen ist auch als «Nature Deficit Disorder» (NDD) bekannt – ein Konzept, das der US-amerikanische Autor Richard Louv 2005 in seinem Buch «Last Child in the Woods» einführte.
Ein weiteres Werk von Richard Louv trägt den Titel «Vitamin N» (N wie Natur). In die medizinische Fachliteratur hat dieses Syndrom noch keinen Eingang gefunden. Aber ist es nicht plausibel und empirisch relevant? Stellt es nicht in psychischer wie physischer Hinsicht eine wachsende Herausforderung für die öffentliche Gesundheit dar? Laut Louv trägt die Entfremdung von der Natur dazu bei, dass wir unsere sensorischen Fähigkeiten weniger nutzen, Aufmerksamkeitsdefizite entwickeln und zur Fettleibigkeit neigen. Im Kontext von NDD beobachten wir eine regelrechte «Epidemie» körperlicher Inaktivität. Begünstigt wird dies insbesondere durch die Überbehütung von Kindern in ihrem Alltag. «Nature Deficit Disorder is really a thing», schrieb Meg St-Esprit McKivigan am 23. Juni 2020 in der New York Times und wies darauf hin, dass die Problematik durch die Pandemie verschärft wurde.
Jean Martin
Dr. med., ehemaliger Kantonsarzt Waadt
In einem Artikel aus dem Jahr 2019 [1] beschäftigen sich David Nowak und Matilda van den Bosch mit der Frage der «Ökosystemdienstleistungen», die von der Natur, insbesondere den Bäumen, erbracht werden. Etwa deren mässigende Wirkung auf den Klimawandel, die Bindung von CO2, die Verbesserung der Luftqualität, der Schutz vor UV-Strahlung, der Schutz vor Bodenerosion und die Senkung des Lärmpegels. Ganz zu schweigen vom Freizeitwert und den wohltuenden Effekten, die sich aus einer natürlichen Umgebung und ihrer Beobachtung ergeben. So findet das aus Japan stammende Shinrin-yoku, ein therapeutisches Waldbaden, immer mehr Anhänger: Die Zeitschriften Santé publique und Revue forestière française haben zu diesem Thema eine Sonderausgabe veröffentlicht, die auch eine Übersicht über die zugehörige Literatur bietet [2]. Unisanté untersucht derzeit die Auswirkungen meditativer Waldwanderungen auf den Blutdruck.
Der Schweizer Forstingenieur und Hochschuldozent Ernst Zürcher hat kürzlich das Buch «Le pouls de la Terre» veröffentlicht, in dem er sich mit den sogenannten «co-benefits» beschäftigt, einem wichtigen Aspekt der Beziehung zwischen Gesundheit und Klima.
«Das wirft die Frage auf, welche Rolle der Mensch in der Natur, die ihn umgibt und durchdringt, spielen könnte/sollte. Wir erwarten von der Natur eine Vielzahl wohltuender Wirkungen. Wäre es umgekehrt auch denkbar, dass die Natur etwas von uns erwartet, im Sinne einer Ko-Evolution?» [3]. Richard Louv glaubt, dass das NDD sich auf den Zustand der Erde selbst auswirkt – nach der Gaia-Hypothese ist die Erde samt Biosphäre wie ein grosses Lebewesen.
Die Genfer Ärztin Estelle Delamare zitiert den Philosophen Baptiste Morizot, demzufolge unser Gespür für das Lebendige in eine Krise geraten ist, wir die Natur immer weniger wahrnehmen und unsere Beziehung zu ihr verkümmert: So kann ein nordamerikanisches Kind zwar tausend Markenlogos zuordnen, aber nicht einmal 10 Baumblätter unterscheiden [4]! Wir brauchen dringend Initiativen, die eine neuerliche Beziehung zur Natur fördern, wie etwa das «Children & Nature Network» oder die «No Child Left Inside Coalition» in den USA. In Frankreich hat das Netzwerk für Naturerziehung FRENE ein ebenso aufschlussreiches wie pädagogisches Werk über das NDD veröffentlicht [5]. Wann werden wir also zur Natur zurückkehren? Verschreiben wir Vitamin N!
1 Nowak D, van den Bosch M. «Les effets des arbres et de la forêt sur la qualité de l’air et la santé humaine dans et autour des zones urbaines», Santé publique, Vol. S1, Nr. HS1, 13. Mai 2019, S. 153–161 (ISSN 0995-3914, DOI 10.3917/spub.190.0153).
2 Li Q. Effets des forêts et des bains de forêt (shinrin-yoku) sur la santé humaine [Archiv]: une revue de la littérature. Santé publique, 1(HS), 2019, S. 135–143. https://archive.wikiwix.com/cache/index2.php?url=http%3A%2F%2Fdocuments.irevues.inist.fr%2Fbitstream%2Fhandle%2F2042%2F70001%2FRFF_2018_70_2-3-4_273_Li.pdf%3Fsequence%3D1
3 Zürcher E. Le pouls de la Terre. Éd. Salamandre, Neuenburg, 2023, S. 72.
4 Delamare E. Écouter pour mieux soigner. Revue Médicale Suisse, 5. Juli 2023, S. 1349.

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