(Un)bewusst inkompetent

Zu guter Letzt
Ausgabe
2023/36
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.22033
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(36):82

Publiziert am 06.09.2023

Der Dunning-Kruger-Effekt besagt, dass Menschen mit geringer Kompetenz auf einem bestimmten Gebiet dazu neigen, ihr eigenes Können zu überschätzen. Sie sind nicht in der Lage, ihre eigene Unwissenheit oder Inkompetenz zu erkennen, sind also unbewusst inkompetent. «Ja, das gibt’s», werden Sie sagen. Schon oft erlebt, gerade in der Medizin. Bei anderen.
Stefan Kuster
Prof. Dr. med., Chefarzt Infektiologie/Spitalhygiene, Kantonsspital St. Gallen, Mitglied Advisory Board der Schweizerischen Ärztezeitung
Ich schreibe dieses «Zu guter Letzt» vor den grossen Sommerferien – einer Zeit, wo bei vielen die Batterien nur noch halbvoll und die Vorfreude auf etwas Entspannung gross ist. Die Seele baumeln lassen, Neues entdecken, den Bürostuhl loslassen. Sind Sie gut darin, den Alltag und Vergangenes loszulassen? Ich jedenfalls hatte gerade heute eine E-Mail-Ping-Pong-Kommunikation mit einem Kollegen, der schon die erste Nachricht mit «viele Grüsse vom Sandstrand» abgeschlossen hat. Können Sie den Laptop zu Hause lassen, den Praxischat ignorieren oder gar das Telefon mal im Hotelzimmer einschliessen? (Ich gehe nota bene davon aus, dass Sie kein Teenager sind.) Sie werden sagen: «Ja, kein Problem!». Sicher? Was würden aber Ihre Mitarbeitenden oder gar Ihre Angehörigen dazu sagen?
Das Gesundheitswesen ist ein ständiges Loslassen: Der Patient, der von uns geht oder die Patientin, die lieber zu einem anderen Arzt wechselt. Oder veraltete Sichtweisen, die durch neue Erkenntnisse abgelöst werden. Neue Technologien ersetzen Altbewährtes und sollen uns die Arbeit erleichtern. Die junge Auszubildende, die gerne mehr Verantwortung übernehmen möchte oder der Praxisschlüssel, der definitiv an die Nachfolgerin übergeben werden kann. Wir alle werden sagen, dass wir in diesen Situationen meist keine Probleme haben, loszulassen. Aber grüsst da nicht vielleicht doch der Dunning-Kruger-Effekt aus der Ferne, vom Sandstrand sozusagen?
Die Kehrseite der Medaille sind dann Situationen, wo wir selbst von anderen verlangen, Altbewährtes loszulassen und in eine andere Richtung aufzubrechen. Und dann mit Erstaunen feststellen, dass unsere Wünsche oder innovativen Ideen immer wieder bei der «späten Mehrheit» (Neudeutsch: late adopters) und den «Nachzüglern» (sogenannte laggards) am hinteren Ende der Change-Adoption-Kurve auf grosse Skepsis oder gar Ablehnung stossen. «Wir haben es schon immer so gemacht, da muss man nichts ändern» oder: «Dieser Trend geht dann schon wieder vorbei, es lohnt sich nicht, grad auf jeden Zug aufzuspringen!», haben Sie sicher auch schon gehört und sich geärgert, weil Ihre Idee nun wirklich sehr gut und Ihr Anliegen dringlich und berechtigt war. Wann haben Sie aber selbst zuletzt diese Sätze benutzt?
Ich wünsche Ihnen, dass es Ihnen mit aufgeladenen Batterien nach den Ferien noch besser gelingt, Dinge loszulassen und Veränderungen anzustossen oder anzunehmen. Riskieren Sie auch im Herbst den Sprung ins kalte Wasser, es ist erfrischend und lohnt sich!
Übrigens: Ich gebe zu, mein Laptop für die Ferien steht schon bereit. Ich habe das immer schon so gemacht. Obwohl das nicht nötig ist, das weiss ich. Nicht, weil meine Frau ihren auch dabeihat und einer ja eigentlich reichen würde. Sondern weil ich ihn wirklich nicht benötige, meinen Kolleginnen und Kollegen an der Klinik sei Dank. Aber nächstes Mal lasse ich ihn zu Hause. Ich kann das mit dem Loslassen. Ganz sicher.

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