Intensivstationen Die medizinische Triage ist seit der COVID-19-Pandemie ins allgemeine Bewusstsein gerückt. In der Schweiz erhalten alle Patientinnen und Patienten die notwendige Behandlung, erklären die Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin, Antje Heise, und die Notfallmedizinerin Dagmar Keller. Aber: Der Druck hat zugenommen.
Die Bilder gingen um die ganze Welt: Im März 2020 transportierten Armeefahrzeuge in nächtlichen Kolonnen Särge von Corona-Opfern aus Bergamo in die umliegenden Krematorien. Prof. Dr. med. Dagmar Keller, bis Ende Juni 2023 Leiterin des Instituts für Notfallmedizin am Universitätsspital Zürich, erinnert sich: «Wir hatten keine Ahnung, wie sich das Virus entwickelt.» Während sich Spitäler landauf, landab auf die Ausnahmesituation einzustellen versuchten, lief die Arbeit auch hinter den Kulissen auf Hochtouren. «Diese Bilder sind über uns he-reingebrochen, und niemand wusste, was da wirklich auf uns zukommt», sagt Sibylle Ackermann. Die Theologin und Biologin leitet das Ressort Ethik bei der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) und war damals stellvertretende Leiterin der Akademie.
Im Schnellverfahren
Unter dem Dach der SAMW hat gemäss Ackermann «quasi über Nacht» eine kleine Gruppe von Fachpersonen aus der Intensivmedizin und der Ethik sich ans Werk gemacht. Sie hat zu den seit 2013 in Kraft stehenden medizinethischen Richtlinien zur Intensivmedizin den Anhang «Triage in der Intensivmedizin bei ausserordentlicher Ressourcenknappheit» erarbeitet und am 20. März 2020 eine erste Fassung vorgelegt (vgl. Kasten). Normalerweise zieht sich die Erarbeitung von Richtlinien über zwei bis drei Jahre hin, inklusive öffentlicher Vernehmlassung. Diese Zeit fehlte. «Man befürchtete, dass es sich bei uns so entwickeln könnte wie in Bergamo und wollte dem medizinischen Personal im ganzen Land einen einheitlichen Orientierungsrahmen zur Hand geben», so Ackermann. Dieser Anhang wurde mehrfach überarbeitet und fokussiert in der heute gültigen Version [1] allgemein auf eine ausserordentliche Ressourcenknappheit und nicht mehr ausschliesslich auf die Coronapandemie.
Triage bei Ressourcenknappheit
Im Frühjahr 2020 hat die SAMW gemeinsam mit der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) Hinweise zur Umsetzung des 2013 publizierten Kapitels zur Triage bei Ressourcenknappheit ausgearbeitet, die eine konkrete Hilfestellung für solch schwerwiegende Entscheidungen bilden. Die Umsetzungshinweise wurden am 20. März 2020 veröffentlicht. Sie wurden, wenn es die Erfahrungen in der Praxis oder neue wissenschaftliche Erkenntnisse erforderten, angepasst und auf der Website der SAMW publiziert [1]. Die aktuell in Kraft stehende Fassung datiert vom September 2021. Die Triage bei Ressourcenknappheit kommt zur Anwendung, wenn ein Massenereignis auftritt, welches das ganze Land betrifft und nicht, wenn beispielsweise ein Spital Kapazitätsengpässe hat.
Lehren aus der Pandemie gezogen
Seit diesen ersten dramatischen Wochen sind mehr als drei Jahre ins Land gezogen. Die Schweiz blieb vor Horrorszenarien à la Bergamo verschont – doch der Druck auf Notfall- und Intensivstationen ist weiterhin gross und sorgt immer wieder für Schlagzeilen. So schlug im Januar Prof. Dr. med. Vincent Ribordy, Co-Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Notfall- und Rettungsmedizin, Alarm und warnte in einem Interview mit der «Sonntagszeitung» [2] vor einem Zusammenbruch des Systems. Zuweilen entsteht der Eindruck, dass immer öfter kritische medizinische Entscheidungen getroffen werden müssen.
Dieses Bild rückt Dr. med. Antje Heise mit einer Begriffsklärung zurecht. Die ärztliche Leiterin der Intensivstation am Spital Thun und Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin hat an den Richtlinien der SAMW mitgearbeitet und sagt: «Der Begriff Triage im strikten Sinn kommt aus der Kriegsmedizin. Da stellt sich die Frage, wer auf dem Schlachtfeld reelle Überlebenschancen hat und deshalb behandelt wird.» Es geht also um Entscheidungen zwischen Leben und Tod. Wer in der Schweiz auf eine Notfallstation komme, erhalte aber in jedem Fall die medizinische Behandlung, die er oder sie braucht, sagt Heise. Das sei auch in den letzten drei Jahren der Fall gewesen. «Es hat während der Coronapandemie zu keinem Zeitpunkt eine Triagesituation geben dürfen, weil es schweizweit immer genug Betten gab», betont die Intensivmedizinerin. Manche Spitäler seien zwar an Grenzen gestossen, aber das sei vor allem ein Problem der Verteilung gewesen. Es habe Zeit gebraucht, das «Silo-Denken» zu durchbrechen und Patientinnen und Patienten in eine andere Stadt oder einen anderen Kanton zu verlegen.
Das bestätigt auch Notfallmedizinerin Dagmar Keller: «Wir haben auf dem Notfall nie jemanden abgewiesen. Probleme hatten wir mit den Plätzen auf der Intensivstation, weil während der ersten Welle alle zu uns, ins Triemlispital oder ins Kantonsspital Winterthur, kamen.» Das lag daran, dass der Kanton Zürich vorgab, welche Spitäler COVID-19-Erkrankten aufnehmen müssen, nämlich sogenannte A-Spitäler. «In der zweiten Welle haben wir interveniert, dass auch die anderen Zürcher Spitäler COVID-19-Patien-tinnen und -patienten stationär aufnehmen mussten. Aber die Spitäler mussten zuerst ihre entsprechenden Konzepte umsetzen.» Für die Notallmedizinerin ist klar: «Wir haben viel gelernt und wissen heute, wie wir eine aussergewöhnliche Situation wie eine Pandemie bewältigen können.»
Gebot der Stunde: «Sinnhafte Medizin»
Eine solche Situation liegt akut nicht vor. Und trotzdem: «Viele Ärztinnen und Pflegende haben das Empfinden, dass immer öfter Triage-Entscheidungen getroffen werden müssen», beobachtet Antje Heise. Das liege nicht zuletzt an der Begrifflichkeit: «Wenn ein polymorbider Mensch am Lebensende auf eine Notallstation kommt, muss gelegentlich entschieden werden, ob eine intensivmedizinische Behandlung noch sinnvoll ist.» Solche Fälle gebe es immer wieder. «Das würde ich aber nicht als Triage bezeichnen», so die Ärztin. Falls ein solcher Patient nicht auf die Intensivstation aufgenommen wird, hat die Notfallstation die oft zeitraubende und frustrierende Aufgabe, alternative Möglichkeiten zur Hospitalisation zu organisieren, sei es auf einer Bettenstation oder einer Palliativstation, ergänzt Dagmar Keller.
Die SAMW hält fest: «Auch in Situationen ohne Ressourcenknappheit kommen Fachpersonen der Intensivmedizin bei schwerstkranken Personen immer wieder zur Entscheidung, keine Intensivtherapie durchzuführen. Dabei handelt es sich aber nicht um Triage, sondern um Entscheide gegen eine Intensivtherapie, weil sie medizinisch nicht indiziert ist, also dem Patienten keinen medizinisch relevanten Vorteil bringt oder ihm sogar schadet. Es ist eine ärztliche Pflicht, solche Behandlungen nicht durchzuführen.» Laut Heise stellt sich heute immer öfter die Frage, was «sinnhafte» Medizin ist. In Fachkreisen fällt zudem der Begriff «futility»: Medizinische Interventionen, die wirkungs- oder aussichtslos sind, gilt es als solche zu erkennen und – auch zum Schutz der Patientinnen und Patienten und ihrer Angehörigen – zu unterlassen. Diese Situationen sind aber nicht alltäglich.
Die Haltung kennen
Grundsätzlich ist es im medizinischen Alltag von grösster Bedeutung, zu wissen, welche Behandlungen eine Patientin in Anspruch nehmen möchte und welche nicht. «Wenn Menschen auf die Intensivstation kommen und wir nicht wissen, was ihre Haltung zu intensivmedizinischen Massnahmen ist und wie ihre Vorstellung eines für sie lebenswerten Lebens aussieht, ist die Entscheidung extrem schwierig», sagt Heise. Liegt keine Patientenverfügung vor, auf die man sich im Fall der Urteilsunfähigkeit abstützen kann, kommen die Angehörigen ins Spiel. Daraus können Therapieeinschränkungen respektive Umstellungen der Therapieziele resultieren. Erfahrene Medizinerinnen und Mediziner können in solchen Gesprächen Empfehlungen machen. «Ich kann mir vorstellen, dass jüngere Kolleginnen und Kollegen in solchen Situationen überfordert sind oder denken, sie könnten ihre Arbeit nicht oder nur ungenügend erledigen», sagt Heise. «Dadurch entsteht vielleicht der Eindruck, es würden Triage-Entscheidungen gefällt.» Und durch die Pandemie sei der Begriff «Triage» viel präsenter.
Auch für Notfallmedizinerin Dagmar Keller ist klar: «Die Sensibilität für das Thema Triage hat zugenommen.» Allerdings sei die Situation in den Notfallstationen anders als in den Intensivstationen. «Wir stellen die Dringlichkeit fest und starten den Behandlungsprozess.» Grundlage dafür ist beispielsweise der 5-stufige «Emergency Severity Index». Dieser legt fest, wie dringlich und mit welchen Ressourcen eine Notfallpatientin behandelt werden muss. Dieses System funktioniert laut Keller gut, schwieriger sei die Aufnahme von Notfallpatientinnen auf der Intensivstation auch ausserhalb der Pandemie. «Manchmal kann die Suche nach einem solchen Platz Stunden dauern», sagt sie. «Aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir jemals einen schwerstkranken oder -verletzten Patienten im Schockraum hatten und Richtung Palliation gegangen wären, weil kein Platz auf einer Intensivstation verfügbar war.»
Der Notfall als Visitenkarte
Ist also die Diskussion um Triage lediglich medial aufgebauschter Alarmismus? Für Antje Heise ist klar: «Wir haben genügend Betten, aber wir haben Engpässe aufgrund des Personalmangels.» Deshalb werden in Schweizer Spitälern auch im dritten Jahr nach der ersten Coronawelle noch immer geplante Operationen verschoben – oftmals zum Unmut der betroffenen Patientinnen oder behandelnden Ärzte.
Auch Dagmar Keller ortet ein grosses Problem im Fachpersonalmangel und darin, dass Notfallstationen nicht genügend gross gebaut werden. «Der Notfall ist die Eintrittspforte und Visitenkarte eines Spitals», sagt sie. «Dort muss investiert werden.» Ausserdem wäre es aus medizinischer Sicht wünschenswert, «dass wir endlich einen Facharzttitel für Notfallmedizin bekommen, damit die Fachrichtung anerkannt wird».
Rechtssicherheit wäre wünschenswert
Zudem verweisen beide Expertinnen auf die Notwendigkeit der Gesundheitlichen Vorausplanung. Der grösste Teil der Bevölkerung hat keine Patientenverfügung, zudem sind rund 120 Vorlageversionen im Umlauf. «Manche kann man gar nicht interpretieren», sagt Keller. Sie ist Mitglied einer vom BAG und von der SAMW geleiteten nationalen Arbeitsgruppe. Diese hat kürzlich eine Roadmap mit 12 Empfehlungen vorgelegt, um die Gesundheitliche Vorausplanung im Alltag weiter zu etablieren [3].
Doch ist die Schweiz tatsächlich gerüstet, sollten wir erneut mit dem Massenausbruch einer potenziell tödlichen Krankheit konfrontiert sein? «Wir müssen uns damit befassen, dass es unter Umständen zu Triage-Situationen kommen kann», betont Antje Heise. «Ich wünsche mir Rechtssicherheit, wenn es zu solchen Situationen kommt. Es wäre wünschenswert, dass der Gesetzgeber festhält: In einer Pandemie mit Massenanfall sollen Richtlinien der SAMW bereitgestellt und angewendet werden.»
Prof. Dr. med. Dagmar Keller Lang
Chefärztin Notfallmedizin an der Klinik Gut in St. Moritz, Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Notfall- und Rettungsmedizin (SGNOR), Präsidentin der eidgenössischen Prüfungskommission Humanmedizin.
Dr. med. Antje Heise
Ärztliche Leiterin der interdisziplinären Intensivstation am Spital Thun, geschäftsführende Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) und Mitglied der Zentralen Ethikkommission der SAMW.
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