Magersucht
Sich selbst mit gesundem Körpergewicht betrachten: Das ermöglicht eine VR-Brille, die Forschende des Universitätsklinikums Tübingen mitentwickelt haben. Die Brille soll Patientinnen und Patienten mit Magersucht schon früh im Behandlungsverlauf helfen, die Angst vor einer Gewichtszunahme zu reduzieren.
«Menschen mit Magersucht wissen durchaus, dass sie eigentlich zu dünn sind», sagt Simone Behrens. «Das Problem liegt darin, dass sie das auch so wollen, und dass sie grosse Angst davor haben, zuzunehmen.» Behrens ist Psychotherapeutin an der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Tübingen, wo sie seit fast zehn Jahren zu Magersucht forscht. Zunächst lag ihr Fokus auf Studien zum Thema Wahrnehmung [1, 2]. «Aufgrund dieser Studien vermuteten wir, dass es für Patientinnen mit Magersucht hilfreich sein könnte, bereits vor einer tatsächlichen Gewichtszunahme einmal zu sehen: Wie könnte ich dann ungefähr aussehen?»
In einer Art virtuellen Umkleidekabine betrachtet sich die Patientin mit Normalgewicht .
© Universitätsklinikum Tübingen / Immanuel Reimold

Ein individualisierter Standardkörper

Wenn sie eine stationäre Therapie antreten, leiden Menschen mit Magersucht laut Behrens unter den oft massiven körperlichen Folgeerscheinungen ihres Untergewichts. Viele müssen erst körperlich stabilisiert werden, bevor sie eine Psychotherapie antreten können. Und sie wissen, dass es Ziel der Behandlung ist, dass sie an Gewicht zunehmen. «Aber es ist einfach wahnsinnig schwierig für sie, zu sagen: Ich fühle mich wohl damit, mehr zu wiegen. Das ist nach wie vor die grosse Herausforderung in der Therapie von Magersucht.» Rund 30% der Betroffenen bricht denn auch die Behandlung vorzeitig ab.

Dr. med. Bettina Isenschmid

Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie

«Die Akzeptanz der Gewichtszunahme ist einer der Meilensteine in der Behandlung von Magersucht.»

Vor diesem Hintergrund entwickelten Simone Behrens und ihr Team gemeinsam mit Forschenden des Max-Planck-Instituts für intelligente Systeme ein Virtual-Reality-Tool, das es Patientinnen und Patienten mit Magersucht erlaubt, sich mithilfe einer VR-Brille mit Normalgewicht zu betrachten. Sie sehen sich dabei in einer Art virtuellen Umkleidekabine, in der sie sich von allen Seiten im Spiegel betrachten können. Tracker an Bauch und Oberarmen ermöglichen eine Echtzeit-Animation des virtuellen Körpers, den sie dabei sehen: einen Standardkörper, den die Forschenden basierend auf tausenden von Körperscans entwickelt haben und dessen Körpergrösse und -gewicht der jeweiligen Patientin angepasst werden kann. Oder dem Patienten: Auch ein entsprechender Männerkörper wurde entwickelt. An der Pilotstudie, deren Resultate diesen Sommer in der Fachzeitschrift «Psychotherapy and Psychosomatics» publiziert wurden [3], nahmen nur Frauen teil: 24 stationäre und ambulante Patientinnen, von denen 20 bis zum Studienende blieben.

30 Minuten Normalgewicht

Nach einem ausführlichen Vorgespräch hatten die Patientinnen jeweils vier Sitzungen, in denen sie sich während 30 Minuten mit Normalgewicht betrachten sollten, mit einem Body-Mass-Index von 19. Dabei massen die Forschenden den Puls der Patientinnen und fragten nach ihrem Befinden und nach dem Level ihrer Anspannung. Bei den meisten wurde das gezeigte Normalgewicht über den Verlauf der vier Sitzungen etwas erhöht. «Es war uns aber wichtig, von Anfang an mit einem Normalgewicht zu arbeiten, denn Behandlungsziel ist es ja, sich mit einem Körper mit gesundem Gewicht anzufreunden. Auch diejenigen Patientinnen, die mit 14 an Magersucht erkrankten und die in ihrem ganzen Leben noch nie normalgewichtig waren», sagt Behrens.

Simone Behrens

Psychotherapeutin

«Wenn wir nur schon erreichen könnten, dass weniger Betroffene die Behandlung abbrechen, wäre sehr viel erreicht.»

Die Reaktionen der Patientinnen waren unterschiedlich, aber laut Behrens zeigten fast alle eine mehr oder weniger starke Anspannung, wenn sie sich mit Normalgewicht betrachteten. «Das zeigt, dass die virtuelle Umgebung, die wir gebaut haben, im Grossen und Ganzen so funktioniert, wie wir uns das erhofft hatten, und dass sich die Patientinnen mit diesem Standardkörper identifizieren konnten.»

Weitere Forschung ist nötig

«Der Ansatz ist spannend», sagt Dr. med. Bettina Isenschmid, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Sie ist im Vorstand der Schweizerischen Gesellschaft für Essstörungen und Chefärztin am Zentrum für Essstörungen und Adipositas bei der Spitalregion Oberaargau in Langenthal: «Die Akzeptanz der Gewichtszunahme ist einer der Meilensteine in der Behandlung von Magersucht, und hier könnte Virtual Reality in Zukunft einen Beitrag leisten.»
Dass VR-Brillen es Menschen mit Magersucht ermöglichen, sich bereits vor einer tatsächlichen Gewichtszunahme mit einem veränderten Körper zu erleben, sieht sie als eine einzigartige Lernchance. Gleichzeitig hält sie es jedoch auch für möglich, dass eine solche Konfrontation bei manchen Betroffenen das Fastenverhalten noch verstärken könnte.
«Das Potenzial ist gross, der Ansatz vielversprechend, aber sicher kein Ersatz für eine Psychotherapie», sagt sie. Es sei wichtig, zu erforschen, welche Patientinnen und Patienten auf eine solche Therapie ansprechen, und in welchem Setting VR-Brillen am besten in eine Psychotherapie integriert werden können. Zudem sollte man Betroffene über einen längeren Zeitraum begleiten, um zu prüfen, ob beobachtete Effekte tatsächlich lang anhalten.

Wie sich Gesundsein anfühlt

«Was mich aktuell interessiert, ist das therapeutische Drumherum», sagt Simone Behrens. «Unser Eindruck war, dass wir die Patientinnen an sehr unterschiedlichen Punkten in ihrer Genesung abholen. Für manche ging es noch sehr fest darum, einfach die nächsten drei Kilo irgendwie zu verkraften. Und für manche ging es schon darum, sich zu überlegen, ob sie wieder gesund sein möchten, wie das Leben dann aussehen würde und was die Bedingungen dafür wären.» In weiteren Studien möchten sie und ihr Team nun noch systematischer erfassen, was während und nach den Expositionen genau passiert. So soll etwa genauer erfasst werden, wo genau Studienteilnehmerinnen hinschauen – und ob sie auf Problemzonen fokussieren oder eben nicht.
«Von einer Wirksamkeitsstudie sind wir noch weit weg», sagt Behrens. Aber ihr sei es wichtig gewesen, die Resultate bereits zu einem frühen Zeitpunkt zu publizieren. «Sowohl VR-Umgebungen wie auch die Therapie von Magersucht sind unglaublich komplex. Deshalb ist es wichtig, schrittweise zu schauen, wie man solche VR-Tools künftig am besten in bestehende Therapien integrieren kann. Wenn wir nur schon erreichen könnten, dass weniger Betroffene die Behandlung abbrechen, wäre sehr viel erreicht.»
1 Mölbert SC, Thaler A, Mohler BJ, Streuber S, Romero J, Black MJ, Zipfel S, Karnath HO, Giel KE. Assessing body image in anorexia nervosa using biometric self-avatars in virtual reality: Attitudinal components rather than visual body size estimation are distorted. Psychological Medicine. 2018 Mar;48(4):642-653.
2 Thaler A, Geuss MN, Mölbert SC, Giel KE, Streuber S, Romero J, Black MJ, Mohler BJ. Body size estimation of self and others in females varying in BMI. PLoS One. 2018;13(2):e0192152. Epub 2018/02/10.
3 Behrens SC, Tesch J, Sun PJB, Starke S, Black MJ, Schneider H, Pruccoli J, Zipfel S, Giel KE. Virtual Reality Exposure to a Healthy Weight Body Is a Promising Adjunct Treatment for Anorexia Nervosa. Psychotherapy and Psychosomatics. 2023 Jun; 92(3): 170–179.

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