Ein Katalog, welcher ärztliche Mehr- und Zusatzleistungen beschreibt, ist prinzipiell zu begrüssen. Initiiert wurde dieser durch die FINMA, welche wissen will, was denn für den Kunden einen Mehrwert bedeutet. Warum soll der Händedruck am Krankenbett ein x-Faches wert sein, wenn es sich um die Hand eines jungen Professors handelt statt um jene eines Oberarztes mit 20 Jahren klinischer Erfahrung? Warum soll die Flasche Wasser 13.50 Franken kosten, statt im Grundpreis inbegriffen sein?
Von den Konsequenzen her ist aber insgesamt ein Qualitätsabbau zu befürchten. Primär nicht bei den Privatversicherten, in letzter Folge aber auch bei diesen. Durch die Abgrenzung von Mehrleistungen erscheinen Leistungen, welche bislang in (einigen? allen?) Spitälern selbstverständlich für alle Patientinnen und Patienten waren, nun plötzlich als Luxus und werden rechtfertigungspflichtig; sie werden darum immer weniger angeboten und schliesslich verschwinden. Einmal in der OKP verschwunden, werden sie nach ökonomischen Regeln für Privatversicherte kostbarer, aber effektiv auch teurer. Dies kann sich im Produktpreis niederschlagen, oder die Qualität dieser Leistungen wird geschwächt.
Für Zuweiser muss es seltsam anmuten zu lesen, was von dem, was sie selber tagtäglich leisten und auch vom Spital gewohnt sind, plötzlich in einer Aura von Luxus erscheint. So sind Konsilien und Zweitmeinungen für eine Hausärztin ein selbstverständlicher Teil ihres Angebotes auch für Versicherte mit eingeschränkter Arztwahl. Soll die Wahl der Operations- oder Anästhesiemethoden nur noch Privatversicherten vorbehalten sein? Bislang wurden solche Entscheide auch mit Sozialhilfeempfängern auf Augenhöhe gefällt. Die spitalinterne Fallführung war schon bislang wenn immer möglich beim selben Kaderarzt – (weshalb) soll dies nun ein Privileg des Zusatzversicherten sein? Und darf sich dann der Fallführende nicht mehr in die Ferien abmelden, wenn er der Zusatzversicherten gegenüber eine ebenbürtige Vertretung vorweisen kann? Welche Anzahl Visiten hat ein Allgemeinversicherter zugute? Eine? Pro Tag? Pro Woche? Von einer ANP? Von einem Kaderarzt?
Remote care ist – spätestens seit der COVID-19-Krise – für viele Grundversorger kein Fremdwort mehr; nun soll diese Form von Versorgung, zumindest wenn vom Spital aus erfolgt, zum Luxus werden?
Man sieht: Die Wert- bzw. Preiskonstrukte im VVG- haben Auswirkungen bis tief in den OKP-Bereich hinein. Und wer sich an offizieller Stelle Gedanken zu Ersteren macht, übernimmt Verantwortung für jene, welche auf Letzteren angewiesen sind.
Dr. med. Christoph Hollenstein, Allgemeine Innere Medizin FMH, Laufen
Replik zum Leserbrief von Dr. Hollenstein
Herr Dr. Hollenstein befürchtet in seinem Leserbrief einen Qualitätsabbau in der Grundversicherung und nachfolgend auch in der Zusatzversicherung, dies als Folge der von der FINMA geforderten Festlegung von Mehr- und Zusatzleistungen im Zusatzversicherungsbereich. Dazu Folgendes:
– Das von Dr. Hollenstein geschilderte Szenario stellt die Mehrleistungsdiskussion praktisch als unnötig und lächerlich dar, verklärt aber dabei den Status quo. Es geht nicht darum, ob der Händedruck eines Professors mehr wert ist als derjenige eines Oberarztes oder ob der fallführende Arzt nicht mehr in die Ferien verreisen darf. Und ob die spital-interne Fallführung schon bislang für alle Patienten verbindlich und direkt beim selben Kaderarzt liegt, würden wir in dieser Verallgemeinerung infrage stellen.
– Das schweizerische Gesundheitssystem basiert auf einer solidarisch finanzierten Grundversicherung (OKP) mit einem sehr umfassenden Leistungskatalog und einer zeitnahen Zugänglichkeit. Dies wird ergänzt durch den Zusatzversicherungsbereich (VVG), in welchem eigenverantwortlich und im Rahmen von individuellen Präferenzen weitergehende Leistungen abgedeckt werden können. Diese Grundarchitektur wurde auch vom Bundesgericht wiederholt gestützt, indem gewisse Mehrleistungen (zum Beispiel die freie Arztwahl im Spital) als VVG-Leistungen anerkannt wurden. Der Zusatzversicherungsbereich spielt bei unterfinanzierten OKP-Leistungen notabene auch eine erhebliche betriebswirtschaftliche Rolle für die stationären Leistungserbringer und trägt so zur – relativen, bekanntlich aber sehr gefährdeten – Systemstabilität bei. Man mag diese Schieflage beklagen, was jedoch nichts am Sachverhalt ändert.
– Im Mehrleistungskatalog der FMCH ist klar festgehalten, dass das qualitativ hochstehende Leistungsniveau und die Zugänglichkeit zur Grundversicherung nicht beeinträchtigt werden dürfen und dass Mehrleistungen medizinisch und ethisch begründbar sein müssen.
– Die Mehrleistungsdiskussion erfordert und fördert bei Leistungserbringern und Versicherern die Transparenz, indem ausreichend klar und granular beschrieben und verbindlich festgelegt werden muss, welche Leistungen im Grundversicherungsbereich enthalten sind und welche Leistungen von den Zusatzversicherungen übernommen werden sollen. Diese Transparenz ist aus unserer Sicht klar positiv zu bewerten und stellt die Grundlage jeder Qualitätsdiskussion dar. Die Transparenz liegt nicht zuletzt auch im Interesse der Patienten, und zwar sowohl der «nur» grundversicherten wie auch der zusatzversicherten. Nicht zuletzt wirkt diese Transparenz gerade in Zeiten von angespannten Budgets einem willkürlichen, impliziten und stillschweigenden Qualitätsabbau entgegen. Die Ärzteschaft hat insbesondere im stationären Umfeld ein vitales Interesse daran, sich in diese Diskussion aktiv einzubringen. Schliesslich hat sie die Verantwortung für eine medizinisch sinnvolle und patientenorientierte Behandlung inne. Damit geht einher, dass sie sich nicht von mitunter einseitigen ökonomischen Überlegungen fremdbestimmen lassen darf.
Prof. Dr. med Michele Genoni, Dr. phil. Lukas Künzler, lic. iur Florian Wanner, Dr. med. Andreas Roos
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