Übergreifende Zusammenarbeit Die Komplementärmedizin gewinnt in den letzten Jahren zunehmend an Stellenwert. Wo stehen wir heute und was ist das Selbstverständnis der FMH dabei?
Im Jahr 2023 zeigt sich eine Landschaft im Schweizer Gesundheitswesen, in der praktisch und wissenschaftlich tätige Ärzte und Ärztinnen – sowohl aus dem Gebiet der konventionellen als auch der komplementärmedizinischen Richtungen – ihr Wissen zum Wohl der Patientinnen und Patienten gemeinsam einsetzen. Das ist Integrative Medizin – eine Synthese aus konventioneller und Komplementärmedizin.
Gemäss der letzten Umfrage des Bundesamtes für Statistik nützt rund ein Drittel der Bevölkerung die Komplementärmedizin. Tendenz klar steigend. 2019 hat eine repräsentative Umfrage unter Schweizer Kinderärztinnen und Kinderärzten gezeigt, dass fast 100% der Pädiaterinnen und Pädiater von den Eltern nach Komplementärmedizin gefragt werden.
Jana Siroka
Dr. med., Mitglied des FMH-Zentralvorstandes und Departementsverantwortliche Stationäre Versorgung und Tarife
Die hohe Zustimmung in der Bevölkerung zeigte sich auch schon 2009, als der direkte Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Ja zur Komplementärmedizin» mit 67% angenommen wurde. Damit wurde die Komplementärmedizin als Artikel 118a in der Verfassung verankert. Sofern sie von Fachärztinnen und Fachärzten mit entsprechendem Fähigkeitsausweis SIWF ausgeübt werden, sind Akupunktur, anthroposophische Medizin, Arzneimitteltherapie der Traditionellen Chinesischen Medizin, klassische Homöopathie und Phytotherapie seither Pflichtleistung der obligatorischen Krankenversicherung.
Gemeinsam setzen komplementärmedizinische und konventionelle Ärztinnen und Ärzte ihr Wissen für die Menschen ein.
Die FMH setzt sich für Behandlungsqualität und Patientensicherheit ein. Im Bereich der Komplementärmedizin arbeitet sie zusammen mit der UNION. Als Dachorganisation schweizerischer komplementärmedizinischer Ärzteorganisationen vertritt die UNION innerhalb der FMH mitspracheberechtigt rund 1000 in der Schweiz tätige Fachärztinnen und Fachärzte mit einem integrativmedizinischen Fähigkeitsausweis SIWF. Die UNION hat 2016 – zusammen mit zahlreichen anderen Ärzteorganisationen – die Qualitäts-Charta der FMH unterzeichnet und einen Behandlungsstandard auf ihrer Homepage publiziert, in dem sie die integrative Anwendung der Komplementärmedizin und die interdisziplinäre Zusammenarbeit vorgibt. Die mit dem SIWF zusammen geschaffenen Fähigkeitsausweise bilden die ideale Grundlage für eine gute Qualitätsarbeit.
Die FMH steht für Wissenschaftlichkeit beziehungsweise Wirksamkeit in der Komplementärmedizin. Der Wirksamkeitsnachweis für die Komplementärmedizin ist in der Krankenversicherungsverordnung KVV 35a geregelt. Es werden drei Bedingungen beschrieben: Tradition, Evidenz/Erfahrung und Ausbildung. Diese Kriterien sind für die oben genannten komplementärmedizinischen Richtungen gegeben. Erfahrungsmedizin beziehungsweise empirische Evidenz ist Realität im ärztlichen Alltag und Messbarkeit im Bereich RCT sollte nicht mit Wirksamkeit verwechselt werden. Studien mit hohem Evidenzlevel beinhalten selektierte Patientenpopulationen. Es werden daher zunehmend sogenannte Alltagsdaten (real world evidence) als ebenbürtig zu RCTs diskutiert. Hierzu empfehle ich den hervorragenden Artikel von PD Dr Florian Strasser auf Seite 32 dieser Ausgabe.
Die Studienlage in der Komplementären und Integrativen Medizin ist weit besser als oft angenommen. Schon eine einfache Suche in Pubmed und Embase ergibt zehntausende Treffer. Studien zu KIM umfassen – im Einklang mit vom BAG akzeptierten Studiendesigns – doppelblinde randomisierte kontrollierte Studien, kontrollierte Studien, Kohortenstudien, Beobachtungsstudien bis zu Fallserien und erstrecken sich über die Gebiete Grundlagenforschung, translationale und klinische Forschung. Für alle Fachrichtungen mit Fähigkeitsausweis gibt es genügend Evidenz aus Studien mit guter Qualität, die ihren Nutzen im Sinne der Integrativen Medizin belegen.
Die Wirtschaftlichkeit ist der FMH ein Anliegen. Übergeordnet kann man sagen, dass sich bei der Beurteilung der Wirtschaftlichkeit in der Integrativmedizin vor allem bei Langzeit-Behandlungen mit Erfassung präventiver Elemente ein signifikanter Vorteil zeigt. Sprich: im ersten Jahr integrativmedizinischer Behandlung, zum Beispiel bei einer Depression, kann diese teurer sein. Im zweiten und dritten Jahr jedoch sinken die Gesundheitskosten der behandelten Person unter diejenigen ohne integrativmedizinische Behandlung. Die Vergütung der ärztlichen Leistungen der Komplementärmedizin aus der Grundversicherung erfüllt die Voraussetzungen der Wirtschaftlichkeit gemäss Art. 32 KVG (WZW-Kriterien). Dass der Bundesrat die ärztliche Komplementärmedizin dem Vertrauensprinzip unterstellt hat, entspricht dem Verfassungsauftrag BV 118a, dem Willen des Gesetzgebers und der Rechtsprechung des Bundesgerichts.
Forschung und Lehre
Die Komplementäre und Integrative Medizin ist im medizinischen Curriculum an den Universitäten integriert. An der Universität Bern sind sogar alle vier Fachrichtungen mit Fähigkeitsausweis im Pflichtcurriculum vertreten. In den «Profiles» der studentischen Ausbildung gibt es Lernziele zur Komplementärmedizin, die in der neuesten Revision folgerichtig zu Integrativmedizin umbenannt wurden. An der Universität Basel gibt es eine Assistenzprofessur für translationale Komplementärmedizin, die mit Prof. Carsten Gründemann besetzt ist. An der Universität Bern wird das Institut für Komplementäre und Integrative Medizin von Prof. Ursula Wolf geleitet und an der Universität Zürich von Prof. Claudia Witt. Im CHUV ist Prof. Chantal Berna Renella im Zentrum für Integrative und Komplementäre Medizin tätig.
An all diesen Institutionen wird Forschung und Lehre im Bereich Komplementär- und Integrativmedizin vorangetrieben. Hauptlimitationsfaktor für die Forschung sind die knappen Forschungsmittel, die für diesen Bereich der Medizin zur Verfügung gestellt werden. Auch was die Heilmittelvielfalt anbelangt, stehen wir vor grossen Herausforderungen, da die zunehmende Reglementierung im Bereich Heilmittel die Produktion für alle mittleren und kleineren Hersteller zunehmend unrentabel macht. Dies sehen wir nicht nur bei Schmerzmitteln und Antibiotika, sondern auch im Bereich der komplemetärmedizinischen Heilmittel.
Fazit
Zusammenfassend kann man sagen: In der Schweiz praktizieren Ärztinnen und Ärzte selbstverständlich zu ihrer Facharztausbildung Komplementärmedizin. Im stationären Bereich gibt es zunehmend Abteilungen und Zentren für Integrative Medizin. Der Verband «integrative-kliniken.ch» hat acht Mitglieder. Es gibt durchgehende stationäre integrative Angebote in den Spitälern Klinik Arlesheim, Gesundheitszentrum Fricktal, Klinik Schützen, clinica curative in Scuol und im Kantonsspital Fribourg. Ambulante und stationär tätige Zentren gibt es im Kantonsspital St. Gallen, im Spital Bethanien in Zürich und im CHUV. Die Vision des Verbands ist, dass alle Patientinnen und Patienten in der Schweiz einen Zugang haben zu einer integrativen stationären Behandlung. Dazu sind noch grosse Anstrengungen nötig, insbesondere in der stationären Tarifierung.
Trotz der insgesamt steigenden Anzahl von Angeboten übersteigt die zunehmende Nachfrage der Bevölkerung nach komplementärmedizinischen Behandlungen die ärztliche Abdeckung um ein Vielfaches. Immer wieder sehe ich es als Internistin und Integrativmedizinerin mit Sorge, dass sich Patientinnen und Patienten alternativen Wegen in der Medizin zuwenden, wenn sie sich mit ihren Bedürfnissen und Fragen in der konventionellen Medizin nicht wahrgenommen fühlen. Die in der Medizin zunehmend patientenzentrierte Sichtweise sollte uns anspornen, weiter in die Forschung sowie Aus- und Weiterbildung der Integrativen Medizin zu investieren. Damit wir im Sinne unserer Patientinnen und Patienten auch dieses Feld aus ärztlicher Sicht mitgestalten.