Prämienaufschlag im Wahlkampf: eine toxische Kombination

Prämienaufschlag im Wahlkampf: eine toxische Kombination

Leitartikel
Ausgabe
2023/41
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.22237
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(41):28-29

Publiziert am 11.10.2023

Wahlkampf Es ist nichts Neues, dass rund um die Prämienverkündung des Bundesrats kommunikativ schwere Geschütze aufgefahren werden. Wenn aber ein grösserer Prämienaufschlag mitten in den Wahlkampf fällt, siegen Ideologie und Schuldzuweisungen über Sachlichkeit und Lösungsorientierung.
Wahlkampf ist manchmal schwer zu ertragen und besonders für das Gesundheitswesen eine schwierige Zeit. Wenn es um die Zukunft der Patientenversorgung geht, verteufeln die einen den Wettbewerb, die anderen den Staat, die nächsten die Leistungserbringer. Es werden Systemwechsel gefordert, die im Ausland nachweislich keine Kosten gespart, aber Qualität reduziert haben. Die Politik scheint bereit, eines der besten Gesundheitssysteme der Welt zu risikieren.

Desaströse Bilanz braucht Schuldige

Der jüngst verkündete erneute Prämiensprung verleiht der Wahlkampfrhetorik zusätzlichen Schub. Zu offensichtlich ist das Scheitern der Gesundheitspolitik der letzten Jahre. Trotz unzähliger Parlamentsgeschäfte zur Kostendämpfung, trotz vieler neuer Verwaltungsmitarbeitenden, neuer Regulierungen und Bürokratie steht man nun vor einem noch nie dagewesenen massiven Fachkräfte- und Medikamentenmangel – und einem neuen Prämienschub. Es braucht Schuldige – im Wahlkampf mehr denn je – und diese sollten in jedem Fall, die jeweils «anderen» sein.

Patientenversorgung unter Verdacht

Die Leistungserbringer bieten sich als Schuldige an: Wer mit der Behandlung von Patientinnen und Patienten seinen Lebensunterhalt verdient, gerät heute schnell in die Defensive. Ohne ausreichende politische Mikroregulierung könnte er ja zu viel tun, zu viel verdienen und falsch behandeln. In der Medienkonferenz wies der Bundespräsident die Verantwortung von sich und zeigte auf die Ärzteschaft, die zu wenig kompromissbereit sei. Nun, Gesetze werden im Parlament, Verordnungen im Bundesrat beschlossen, und nicht am Verhandlungstisch mit der FMH. Somit ist auch klar, wer für die steigenden Prämien begleitet von wachsenden Problemen in der Patientenversorgung in der Verantwortung steht. Die Politik möchte aber nur dort verantwortlich sein, wo es Positives zu vermelden gibt: Der durchschnittlich geringere Prämienanstieg der letzten Jahre zeige, dass die Massnahmen etwas gebracht hätten. Dass dieser Trend in fast allen westlichen Industrieländern seit 15 Jahren völlig unabhängig vom Gesundheitssystem zu beobachten ist, verschweigt man lieber.
So steht die Schweiz im internationalen Vergleich beim Verhältnis der Gesundheitsausgaben zum Bruttoinlandprodukt da.
© BFS 2023; Datenquellen: BFS – Kosten und Finanzierung des Gesundheitswesens (COU); OECD, Health Statistics 2023

Low hanging fruits ignoriert…

Obwohl so viele gesundheitspolitische Geschäfte behandelt wurden wie noch nie, hat die Politik das Wichtigste versäumt. Und das liegt sicher nicht an einer fehlenden Kompromissbereitschaft der Akteure. Diese drängen zum Beispiel seit Jahren auf die wichtigste Reform zur Entlastung der Prämienzahlenden und Kostendämpfung: die einheitliche Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen (EFAS). Andere Lösungsvorschläge wie die neue Tarifstruktur Tardoc haben Akteure des Gesundheitswesens nach engen Vorgaben des Bundesrats unter hohem Ressourceneinsatz ausgearbeitet, um vom zuständigen Bundesamt verzögert zu werden. Statt solche «low hanging fruits» zu ernten, wurde beständig mehr Mikroregulierung vorangetrieben.

… und Grosses nicht angegangen

Wirklich grosse Projekte ist man nicht einmal ernsthaft angegangen: Eine Digitalisierung, die dank interoperablen Datenaustauschs echten Nutzen bringt, liegt immer noch in weiter Ferne. Eine Entflechtung der Mehrfachrolle der Kantone, die zum Beispiel Spitäler besitzen und subventionieren, die Spitalleistungen planen, beauftragen und finanzieren, die Tarife genehmigen oder festsetzen und sowohl ihre eigenen Leistungserbringer als auch ihre Konkurrenz regulieren, wurde nicht einmal versucht.

Ideologie statt Lösungen

Wie erklärt man ein solch dürftiges Ergebnis, wenn man gerade um das Vertrauen der Wähler und Wählerinnen wirbt? Im Wahlkampf ist es leider undenkbar, ausbleibende Erfolge zum Anlass zu nehmen, die eigene Strategie zu überdenken. Wer gewählt werden möchte, erklärt besser, dass es nicht weniger, sondern natürlich mehr von den eigenen Rezepten bräuchte. Dabei besinnt man sich auf seinen ideologischen Markenkern und präsentiert Lieblingsrezepte und Lieblingsfeinde – völlig unabhängig davon, ob die etwas mit der Kostensteigerung zu tun haben: Die einen fordern eine Minimalversorgung für Asylbewerber, die anderen eine Einheitskasse, manche möchten Spezialisten strikt regulieren, andere die Alternativmedizin streichen, die nächsten die Versicherungspflicht abschaffen oder ein finsteres Lobbyisten-Kartell bekämpfen – nichts davon berührt einen relevanten Faktor der Kostensteigerung. Bevorzugt verspricht man dem Wählenden schmerzfreies Sparen: er soll immer mehr gut zugänglichen medizinischen Fortschritt erhalten - ohne einen nennenswerten Preis.

Versorgung kostet Geld

Solche Versprechen sollten stutzig machen. Auch wenn es Effizienzpotenziale gibt, die genutzt werden können und müssen, bleibt die unbequeme Wahrheit: Eine gute Versorgung hat ihren Preis. Gesundheitsdienstleistungen werden «von Mensch zu Mensch» erbracht. Das Gespräch mit einer Ärztin oder einem Arzt oder die Körperpflege eines Menschen sind nicht industriell automatisier- und skalierbar. Kostendruck im Gesundheitswesen trifft darum zuerst die Fachpersonen: Er zwang die Pflege in eine Volksinitiative, treibt aktuell die Physiotherapeutinnen und -therapeuten aus dem Beruf und befördert den Ärztemangel. Dies schadet letztlich den Patientinnen und Patienten.
Und auch eine andere Wahrheit wird dem Wählenden selten mitgeteilt: Der Preis unserer Gesundheitsversorgung ist nicht so hoch wie oft behauptet. Anteilig vom Bruttoinlandsprodukt geben wir weniger aus als fast alle unsere Nachbarländer, darunter Länder, die ihre Versorgung stark staatlich regulieren. Länder mit «Kostenbremsen» oder «Zielvorgaben» erreichen eine weniger gute Versorgungsqualität. Wer trotzdem solche Massnahmen fordert, ist entweder schlecht informiert, von Ideologie getrieben – oder im Wahlkampf.

Kompromiss als Stärke

Die aktuelle Polarisierung und Ideologisierung abseits sachlicher Auseinandersetzungen ist gefährlich, denn sie riskiert eine unserer grössten sozialpolitischen Errungenschaften: An kaum einem Ort auf der Welt wird der gesamten Bevölkerung ein so guter Zugang zu so umfassenden qualitativ hochstehenden Gesundheitsleistungen geboten. Dieses Erfolgsmodell ist komplex und lebt von Ausgleich und Kompromiss. Unser regulierter Wettbewerb gibt beiden Seiten Raum: Der Staat setzt aus sozialpolitischer Sicht einen klaren regulatorischen Rahmen für einen Wettbewerb, der gleiche Leistung gleich vergüten und der Bevölkerung die Wahl zwischen Versicherungen, Versicherungsmodellen und Leistungserbringern bieten soll. Unser System lebt genau davon, dass es eben nicht den einen steuernden Piloten gibt, nach dem einige gerade rufen. Der Erfolg unseres Systems basiert auf dem Gleichgewicht vieler Akteure mit viel Sachkenntnis, die miteinander ringen und beständig mit hohem Einsatz Lösungen erarbeiten – allen Unkenrufen zum Trotz. Verbesserungen eines gut austarierten Systems gelingen nur mit Augenmass und Expertise – nicht mit populistischen Worthülsen.

Rückkehr der Vernunft?

«Kompromisse sind dann vollkommen, wenn alle unzufrieden sind» lautet ein bekanntes Zitat. Für gute Kompromisse muss jede Seite Abstriche machen. Gerade im Wahlkampf wird jedoch genau diese Differenz zur eigenen Maximalforderung als Grund aller Probleme präsentiert und die Schuld bei allen anderen gesucht. Es ist zu hoffen, dass nach dem Wahlkampf wieder Vernunft einkehrt –und mit ihr die Wertschätzung von Ausgleich und Kompromissen als grosse Stärke unseres Gesundheitswesens. Auch wenn es zwischen Katastrophenszenarien und Schuldzuweisungen vielfach vergessen geht: Wir reden hier über eines der besten Systeme der Welt – die Schweiz hat sehr viel zu verlieren.
Yvonne Gilli
Dr. med., Präsidentin der FMH