Die Definition des Menschen als «animal rationale», als Verstandes- und Vernunftwesen, geht auf Aristoteles zurück. Hinsichtlich unserer rationalen Fähigkeiten wurde schon von den antiken Denkern zwischen blossem Wissen und der umfassenderen Weisheit unterschieden. Immanuel Kant (1724–1804) hat diese Abstufung weiter vertieft. Er trennt den Verstand als kognitiv-intellektuelle, in der Wissenschaft sich bewährende Leistungsfähigkeit streng von der Vernunft ab, dem universelleren Vermögen, verstandesmässige Erkenntnisse richtig einzuordnen und als unter allgemeinen Prinzipien stehend zu denken. Der Verstand, so sicher er uns auch durch unseren Alltag führt, gerät bei kniffligeren Fragen, etwa zur Freiheit des Willens, zum Wesen der Welt, zum sinnvollen Aufbau der Natur oder zur Beschaffenheit und eventuellen Unsterblichkeit unserer Seele, bald in Bedrängnis und verharrt bei solchen Problemstellungen auf festgefahrenen, sich widersprechenden Standpunkten. Auch die Vernunft hilft da aber nicht unbedingt weiter, sie befähigt uns wohl zu Überlegungen, die über die verstandesmässige Sackgasse hinausreichen, liefert aber leider zu obgenannten Themen nur unbeweisbare Prinzipien und mögliche Arbeitshypothesen. Solche reinen Gedankenkonstrukte mögen unseren Drang zu umfassenderer Erkenntnis leiten und befördern, können uns aber weder eindeutige Lösungen noch gesicherte Fakten anbieten. So greift also Kants Vernunftbegriff wahrscheinlich zu kurz, um entschiedene Bewegung in die oben ausgeführte, verkrustete Impfdebatte zu bringen. An dieser Aussage hätte sicher Friedrich Hegel (1770–1831) seine helle Freude gehabt. Dieser glaubte nämlich, er habe Kant übertroffen, und meinte in der Vernunft, so wie er sie im Rahmen seines idealistischen Denkens auffasste, den Schlüssel zur Auflösung aller im Verstandesgebrauch auftretenden Widersprüche gefunden zu haben. So beanspruchte er mit seiner Philosophie, auf jedem Gebiet endgültiges Wissen zu erlangen. Den Weg dazu erläutert er mittels seiner berühmten Dialektik, von deren oftmals etwas abenteuerlich erscheinenden Gedankengängen wir vielleicht behalten könnten, dass zumindest in komplexeren Themenkreisen ein rein logisch-intellektuelles, verstandesmässiges Denken nicht ausreicht. Zu wahrem Wissen und echter Wissenschaft bedarf es zusätzlich der Vermittlung unserer die Gegensätze aufhebenden und alles ordnenden Vernunft. Die Letztere, wie Hegel sie versteht, ist aber viel mehr als nur ein Vermögen unseres rationalen Denkens. Sie begründet und leitet als eine Art von Weltgeist die ganze Wirklichkeit, und so finden wir sie überall wieder, beispielsweise im Aufbau und in der Entwicklung der Natur und auch im Fortgang unserer Geschichte, im Bereich der Kultur, im Rechtssystem und im Staatswesen. Im Letzteren meint Hegel ein ganz besonders wertvolles Vernunftprodukt gefunden zu haben, es ist für ihn der Ort höchster Sittlichkeit und echter Verwirklichung der menschlichen Freiheit. Nicht nur diese Staatsverherrlichung hat ihm Kritik eingebracht, sondern die Kritik zielte vor allem auf seinen überspannten Vernunftbegriff, nach dem alles Wirkliche auch vernünftig sein soll. Eine solche Philosophie lädt geradezu ein zu Missbrauch und Schindluderei. In diesem Sinne wurde Hegels Denken denn auch wiederholt zu einer Art Selbstbedienungsladen, wo sich für fast jeden Zweck eine passende Rechtfertigung finden liess. So könnten, um zu unserem Thema zurückzukommen, die Impfbefürworter vom Begriff der Freiheit ausgehen, dessen endgültige Verwirklichung unser Philosoph als das exquisite Ziel der Menschheitsgeschichte erachtet. So wäre es eigentlich unlogisch, unsere Befreiung vom Joch bedrohlicher Infektionskrankheiten von diesem Prozess auszunehmen. Die Ausmerzung, beispielsweise der Masern, als geschichtlich begründeter emanzipatorischer Akt? Es dürfte nicht leicht sein, sich einem solchen Gedanken dauerhaft zu entziehen. Die Gegner einer präventiven Immunisierung könnten im Gegenzug die infektiösen Kinderkrankheiten ebenfalls mit Hegel begründen, als eine verstandesmässig dem Gesundheitsbegriff zwar widersprechende, weltvernünftig betrachtet aber ihm zugehörige, notwendige Durchgangsphase. Um beim selben Beispiel zu bleiben: das Masernvirus also quasi als Bedingung zu voller Gesundheit? Das klingt zwar paradox, wäre aber schon Thema wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Wird doch unser Immunsystem allgemein als lernfähig angesehen und könnte aus dem Sieg über eine Krankheit durchaus im Hinblick auf künftige Leiden gestärkt hervorgehen. Was ist nun Fake und was ist Fakt? Was ist schlussendlich Sache im Impfgerangel?