Der einzige Sohn, ein betagter, wortkarger Junggeselle, bewohnte mit seiner pflegebedürftigen Mutter das baufällige Haus. Die Grossmutter war eine über die Kantonsgrenzen hinaus bekannte Hellseherin und Naturärztin gewesen, die Vieh und Menschen half. Volle Buchregale im Webkeller zeugten auch nach ihrem Tod von ihren breiten Interessen, die neben der Imkerei Kräuterbücher, Gesundheitsratgeber, Astrologiekalender und Esoterikliteratur umfassten. Neben ihrer Plattstichweberei fand sie Zeit, telepathisch beim Auffinden verlorener Gegenstände mitzuwirken, Salben herzustellen und eigene Rezepturen zu entwickeln. Die Tochter hatte vieles von der mütterlichen Tradition übernommen, wobei die moderne Zeit ihr entgegenkam, indem sie ihre hellsichtigen und geistheilenden Botschaften telefonisch verstärkt verbreitete. Wer mit einer Grossportion Urin aus Zürich herreiste oder das Kleidungsstück eines reiseunfähigen Familienmitgliedes mitbrachte, nahm auf einer abgewetzten Couch im Wohnzimmer Platz. Während sie in der Küche hantierte, gab es hier genug zu sehen, um sich die Wartezeit zu verkürzen. Stapelweise lagen Bücher auf Fenstersimsen. Mit Spiritus gefüllte Einmachgläser, in denen Kröten, Eidechsen und undefinierbares Getier in allen Zerfallsstadien verbleichten, standen auf einer Kommode. Wild geformtes Wurzelwerk und getrocknete Kräuterbündel hingen an Schnüren von der Decke herab. Auch gab es da aufgerissene Kartons voller Medizinfläschchen und Korkpfropfen, in die sie ihre Mixturen abfüllte. Viele Gerätschaften wie Mörser, Waagen und ein unvollständiger Destillierapparat waren verstaubt und blieben ungebraucht, nur noch als Blickfang nützlich. Die Herstellung von Salben hatte sie altershalber aufgegeben, zu mühsam war das Aufkochen von Dachsenschmalz, das Erhitzen von Öl und Wachs, das Filtrieren der Kamillen- und Ringelblumenextrakte. Ihr Sohn, ein frühzeitig gealterter Rentner, ging ihr zur Hand, so gut er es konnte. Ihm fehlte das Geschick seiner weiblichen Vorfahren. Lieber sammelte er die gewünschten Kräuter und Pilze, schoss ein paar Krähen, Füchse oder Dachse, als dass er sich um die zahlreichen Klienten kümmerte, die immer noch auf der Suche nach einem Parkplatz umherirrten, bevor sie mit ihren vielseitigen Anliegen über den schmalen Wiesenweg stapften. Wenn ihm der Rummel zu viel wurde, verschwand er wortlos hinter dem Haus oder ging zum nahen Bach, hackte Holz und büschelte Äste zu brennbaren Bündeln. Seine mangelnde Begabung machte ihn zu ihrem Sorgenkind. Sie tat sich schwer damit, dass er weder ein Heiler noch ein Hellseher war. Dass er stundenlang am Stubentisch sass und zeichnete, zählte nicht. Freihändig mit Bleistift auf Papier und Karton entwarf er Maschinen mit Zahnrädern und Kolben, komplizierte, uhrenähnliche Apparaturen mit hingekritzelten, unleserlichen Gebrauchsanweisungen. Für seine Entwürfe und Tabellen benützte er die Astrologiebücher der Grossmutter, deren Abbildungen er zu einer geheimnisvollen Mechanik erweiterte, allerdings ohne das Gezeichnete jemals als Modell zu realisieren. Es blieb bei den zusammengerollten Konstruktionsplänen, die er in seinem Zimmer in einen Schrank einschloss.