Im 19. Jahrhundert war Baden-Baden die Sommerhauptstadt Europas, ein souveräner Staat, Hochburg des Liberalismus, Treffpunkt der fine fleur, wie Ivan Turgenev (1818–1883) die promenierenden Gäste auf der Lichtentaler Allee nannte. Die Parkanlage hat alle Kriegswirren überstanden, heute eine Museumsmeile mit einer hervorragenden Ausstellung zum 200. Geburtstag des Schriftstellers, der sieben Jahre im Bäderort verbrachte. Russland in Europa – Europa in Russland feiert den grossen Kulturvermittler zwischen Ost und West. Was ihn heute erstaunlich aktuell erscheinen lässt, ist das überlieferte Streitgespräch zwischen ihm und Fjodor Dostojewski (1821–1881). Nachgespielt als Film, geht es um den ewigen Gegensatz von Westlern und Slavophilen. Hier der eine, der die heilige, russische, messianische Seele scharf vom dekadenten Westlertum abgrenzt, dort der andere, der sich etwas von der Erfindungsgabe und Dynamik Europas für seine Heimat wünscht. Beide Autoren hatten die Weltausstellung von 1851 in London besucht. Für Turgenev war es ein vorbildlicher Höhepunkt menschlichen Erfindergeistes, seinem Kontrahenten machte sie Angst, er sah darin das biblische Babylon, die verwirklichte Apokalypse. Unversöhnliche Positionen mit persönlichen Ausfällen der Streitenden, die einander Spielschulden (Dostojewski) oder mangelnde Bucherfolge (Turgenev) vorwarfen. Turgenev hat die Hälfte seines Lebens in Europa verbracht. In seinem Roman aus Baden-Baden mit dem Titel Rauch schildert er gnadenlos seine kurenden Landsleute als Versager, Diebe, Betrüger, Parasiten und katzenbuckelnde Aristokraten, die zu Hause auf ihren Gütern die Leibeigenen prügeln. Sein vorletzter Roman, teilweise seine eigene Liebesgeschichte, war zunächst ein Misserfolg und in Moskau für einige Jahre verboten. Das Buch wurde Anfang der 1990er Jahre im gleichen Modeort der Belle Époque verfilmt. Beste Reklame für eine Tradition, die selbst zu Sowjetzeiten nie ganz abbrach.
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