Offener Austausch in der ReMed-Coaching-Gruppe

«Ängste gehören zum Arztberuf»

FMH
Ausgabe
2017/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05330
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(04):96–97

Affiliations
Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Leitungsausschuss ReMed

Publiziert am 24.01.2017

Versagensängste können Ärzte stark belasten. Diese Ängste werden im Berufsalltag meistens hinter der Maske professioneller Souveränität versteckt, wie ein Gynäkologe im Folgenden schildert.1 In der Coaching-Gruppe von ReMed2, dem Unterstützungsnetzwerk für Ärztinnen und Ärzte, kann er sich offen mit Kollegen austauschen. Und so Angst nicht als Zeichen von Inkompetenz, sondern als Signal ärztlichen Verantwortungsbewusstseins verstehen.
Der Grund, weshalb ich den Kontakt mit ReMed aufnahm, war keine Angststörung, anderweitige psychische Problematik oder Instabilität. Vielmehr wollte ich das Schweigen und Alleine-gelassen-Sein mit meinen täglichen Ängsten und Sorgen als Arzt durchbrechen. Auf meinem langjährigen Berufsweg habe ich beobachtet, dass dieses Phänomen nicht nur mich betrifft. Wenn wir Ärzte etwas nicht wissen, unsicher oder überfordert sind und eigentlich Unterstützung bräuchten, halten wir eine Fassade aufrecht, die vermittelt: Ich habe alles im Griff. Ein fatales Resultat unserer So­zia­lisierung zum Arzt. Haben Sie schon einmal Ängste von Ärzten gegoogelt? Im Netz kommt es nicht vor. Anstelle dessen erscheinen zahlreiche Treffer zu Ängsten vor Ärzten. Dies widerspiegelt die Aktualität des Tabu­themas anschaulich – und zwar mit reichlich schwarzem Humor.
Die ReMed-Coaching-Gruppe bietet einen stärkenden Rahmen für den freimütigen ­Austausch unter Arztkolleginnen und 
-kollegen. (Symbolbild)

ReMed ist für Sie da

Brauchen Sie oder jemand aus Ihrem Umfeld professionelle Hilfe? Wenden Sie sich an ReMed: Das Unterstützungsnetzwerk für Ärztinnen und Ärzte respektiert das Arztgeheimnis und berät Sie kompetent. Auch bei anderen beruflichen und persönlichen Krisen kann ReMed Ihnen Lösungswege aufzeigen. Dieses Angebot ist auch für Personen aus dem Umfeld von Ärztinnen und Ärzten da, 24 Stunden am Tag; das Beraterteam meldet sich ­innerhalb von 72 Stunden: www.swiss-remed.ch, help[at]swiss-remed.ch, Tel. 0800 0 73633.

Mit Pokerface zum Facharzttitel

Die Ängste vor dem eigenem Versagen, davor, durch Fehler einem Patienten gravierenden Schaden zuzufügen, für unnötige Schmerzen und im schlimmsten Fall sogar für den Tod eines Menschen verantwortlich zu sein, begleiten mich genau genommen seit dem klinischen Teil unserer medizinischen Ausbildung. Das Schlüsselerlebnis hatte ich wenig später als frischgebackener Assistenzarzt auf der Medizin. Während ich zusammen mit meinem Oberarzt einer jungen Patientin erklärte, dass wir bei ihr eine Liquorpunktion vor­nehmen müssen, tönte sein Piepser. Noch bevor er am ­Telefon geklärt hatte, warum er gesucht wurde, lief er abrupt davon und meinte auf nonchalante Weise: «Mach du dann das hier, ich muss in den Notfall runter.» Mir blieben die Worte im Halse stecken, ich zitterte, bekam einen Schweissausbruch, mir wurde schwindlig und übel. Am liebsten hätte ich mich auf der Stelle in Luft aufgelöst – ich war noch nie bei einer Lumbalpunktion dabei gewesen. Ich fühlte mich total überrumpelt und überfordert. Doch das Schlimmste war das Gefühl, dass meine Unerfahrenheit mein eigener peinlicher und schwerwiegender Fehler sei.
Keinesfalls hätte ich mir erlaubt, mir eine Blösse zu ­geben und jemanden zu suchen, der mir hätte helfen können. Zu gross war die Angst, inkompetent zu wirken, nicht ernst genommen und langfristig als nicht konkurrenzfähig aus dem System hinauskatapultiert zu werden. Ich musste also lernen, in solchen Situationen eine Fassade aufzusetzen, die nicht verriet, was wirklich in mir vorging. Die Strategie dazu beherrsche ich inzwischen so gut, dass ich Unsicherheiten und Angst oft gar nicht mehr wahrnehme.

Stressbarometer Privatleben

Inzwischen bin ich 44 Jahre alt und ganz erfolgreich als Oberarzt auf der Gynäkologie und Geburtshilfe an einem mittelgrossen Spital tätig. Mit der zunehmenden Erfahrung und Kompetenz auf meinem Gebiet haben die Ängste aber nicht wie erwartet abgenommen. Mit zunehmender Verantwortung haben sie sich eher noch ausgebreitet. Neu plagen mich auch Unsicherheiten und ethische Bedenken im Zusammenhang mit Fallzahlen, Casemix-Indices und schwer erreichbaren Zielvereinbarungen. Ferner kommt die Angst hinzu, als Dienstleister wirtschaftlich zu versagen, wenn ich gute, sorgfältige Medizin machen will.
Es hat Jahre gedauert und letztlich die Konfrontation im privaten Leben gebraucht, bis ich realisierte, dass meine gut trainierte Emotionsabwehr, meine souverän wirkende Selbstbeherrschung andere sehr belastet: Meine Kinder sagen mir, ich sei immer gestresst, würde ihnen nicht richtig zuhören und das sei echt mühsam mit mir.

Die Angst nutzbar machen

Als ich mich bei ReMed meldete, wollte ich wissen, was die Coaching-Gruppen genau anbieten. Immer wieder mal hatte ich hierzulande vergeblich Ausschau gehalten nach einem Angebot, wo sich Ärzte offen und ehrlich austauschen können, ohne dabei als wenig belastbar oder anderweitig auffällig beurteilt zu werden. So etwas wie die Schwartz Rounds™ suchte ich, die es in den USA gibt und Caregivern eine Plattform bieten, um sich ohne Angst, freimütig und verantwortungsbewusst auszutauschen. Was sich in der Qualität ihrer Arbeit niederschlägt, nota bene ohne Kosten zu generieren.
Bei ReMed stiess ich auf offene Ohren und fühlte mich auch richtig wahrgenommen. Ich erfuhr, dass 2016 gleich an den drei Standorten Bern, Zürich und Chur neue Coaching-Gruppen entstanden sind. Sie bieten genau den bestärkenden Rahmen für sämtliche Kollegen und Kolleginnen aller Fachrichtungen und Erfahrungsstufen, wie ich ihn suchte. Sehr gerne mache ich von diesem Angebot Gebrauch und lege es auch meinen engagierten und kompetenten Assistenzärzten nahe, denn ich erachte es als wertvoll investierte Zeit. So können sie gleich zu Beginn ihrer Laufbahn lernen, dass Unsicherheiten und Ängste zum Arztberuf gehören, mitnichten ein Ausdruck für Unfähigkeit sind und wie die Pest gemieden werden müssen. Im Gegenteil: Angst und Unsicherheit sind wichtige Signale, die uns Orientierung geben in einem verantwortungsvollen Job. Die ReMed-Coaching-Gruppe vermittelt einen unverkrampften Umgang damit.

Intervisionsgruppen: Termine 2017

ReMed initiierte 2009 kollegiale Intervisionen, auch auf Wunsch von Kolleginnen und Kollegen. Seither organisiert das Unterstützungsnetzwerk regelmässig Peer-Groups (6–10 Teilnehmer, 2–3-mal/Jahr). Die Teilnehmenden erarbeiten gemeinsam ihre Fall­fragen zu Mentoring, Coaching, Beratung, Therapie und anderen Aspekten kollegialer Begleitung (juristisch, versicherungsrechtlich usw.). Setzen Sie sich mit uns in Verbindung, nehmen Sie an einer Sitzung teil und lernen Sie unsere Arbeit kennen. Kontakt: Peter Birchler, Tel. 044 342 09 10 oder peter.birchler[at]hin.ch. Die Treffen finden jeweils donnerstags von 14 bis 18 Uhr in Zürich statt. Nächste Daten: 30. März, 26. Oktober und 16. November ­sowie 8. Juni, 15. Juni und 9. November.
mirjam.tanner[at]hin.ch