Schweizerische Gesellschaft für Rheumatologie und Schweizerische Gesellschaft für Orthopädie und Traumatologie

Neue Leitlinien zur medizinischen Begutachtung

Organisationen der Ärzteschaft
Ausgabe
2017/17
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05534
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(17):525–526

Affiliations
Dr. med., Leiter der Arbeitsgruppe Versicherungsmedizin der Schweizerischen Gesellschaft für Rheumatologie MEDAS, Zentralschweiz, Mitglied FMH

Publiziert am 26.04.2017

Psychische Erkrankungen und Erkrankungen des Bewegungsapparates führen weltweit wie auch in der Schweiz am häufigsten zu Behinderungen und zu ­Erwerbsausfällen.1 Rheumatische Erkrankungen verursachen nicht nur grosses Leid, sondern auch erheb­liche Kosten für Diagnostik, Behandlung und die Abgeltung von Erwerbsausfällen. Die Schweizerische Gesellschaft für Rheumatologie ist sich der gros-
sen ­sozialmedizinischen Bedeutung dieser Tatsache bewusst. Als zweite medizinische Fachgesellschaft 
der Schweiz hat die Schweizerische Gesellschaft für Rheumatologie 2007 Leitlinien für die Begutachtung von Menschen mit rheumatischen Erkrankungen verfasst.
Die Deutsche Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaft­lichen Medizinischen Fachgesellschaften AWMF umschreibt die Bedeutung von Leitlinien wie folgt: «Die Leitlinien der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften sind systematisch entwickelte Hilfen für Ärzte zur Entscheidungsfindung in spezifischen ­Situationen. Sie beruhen auf aktuellen wissenschaft­lichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren und sorgen für mehr Sicherheit in der Medizin, sollen aber auch ökonomische Aspekte berücksichtigen. Die Leitlinien sind für Ärzte rechtlich nicht bindend und haben daher weder haftungsbegründende noch haftungsbefreiende Wirkung.»2
Arbeitsfähigkeit ist letztlich ein Rechtsbegriff und wird abschliessend vom Rechtsanwender beurteilt. ­Dabei ist der Rechtsanwender auf eine seriöse medi­zinische Grundlage angewiesen. Leitlinien können ­wesentlich mithelfen, die Qualität der Begutachtung zu verbessern. Bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit eines Menschen bleibt aber ein Ermessensspielraum des Experten bestehen. Eine gewisse Varianz der Beurteilungen wird nie ganz eliminiert werden können. Deshalb werden mit der Begutachtung «Experten» beauftragt, nämlich Ärztinnen und Ärzte, welche ein hohes Mass an Wissen und Berufserfahrung aus dem klinischen Kontext mitbringen. Es sind genau ­dieses Wissen und die Erfahrung, welche der Rechtsanwender nicht selber hat und die er sich beim Experten holt.
Damit ein hohes Mass an Transparenz, Korrektheit und Verteilgerechtigkeit erreicht werden kann, müssen Recht und Medizin eng zusammenarbeiten. So hat das Bundesgericht in seiner Neufassung der Rechtsprechung zu den psychosomatischen Erkrankungen (BGE 141 V 281 vom 3.6.2015) appellativ festgehalten: «Die zuständigen medizinischen Fachgesellschaften werden den aktuellen Stand der Erkenntnisse zuhanden der gutachterlichen Praxis in Leitlinien fassen.» Das Bundesgericht hat nun ein Leiturteil gefällt, das einem modernen Verständnis von Krankheit und Behinderung folgt, wenn es schreibt: «Arbeitsunfähigkeit leitet sich gleichsam aus dem Saldo aller wesentlichen Belastungen und Ressourcen ab.»
Für die Schweizerische Gesellschaft für Rheumatologie bestand somit ein doppelter Anlass, die Leitlinien aus dem Jahre 2007 zu überarbeiten: Die Erstauflage war bereits 8 Jahre alt, und die Neufassung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung hat vorab im Bereich der Beurteilung von Menschen mit chronischen Schmerzen direkt Einfluss auf rheumatologische und ortho­pädische Gutachten.
Im Auftrag der SGR hat die Arbeitsgruppe Versicherungsmedizin die Leitlinien überarbeitet. Die Arbeitsgruppe setzte sich wie folgt zusammen:
– Dr. med. Walter Kaiser, Thalwil, Präsident SGR 2012–2016
– PD Dr. med. Andreas Klipstein, Zürich, Präsident SIM, Vorstandsmitglied SGPMR
– Dr. med. Isabelle Gabellon, Vevey, Präsidentin ARPEM, Vorstandsmitglied SGR
– Prof. Dr. med. Peter Villiger, Bern, Vorstandsmitglied SIM, Präsident SGR 2004–2008
– Dr. med. Pius Brühlmann, Zürich
– Dr. med. Dieter Frey, Basel
– Dr. med. Jörg Jeger, Luzern (Leitung)
Wie schon bei der Erstauflage 2007 hat uns auch diesmal Bundesrichter Prof. Dr. iur. U. Meyer, Bundes­gericht Luzern, juristisch beraten, wofür wir ihm herzlich danken.
Bei der Aktualisierung wurden etwa 2/3 des Textes aus der Auflage 2007 übernommen. Ein wesentlicher Grundgedanke war, dass die Leitlinien vor allem den Lernenden (Ärzte und Ärztinnen in der Weiterbildung und Fachärzte, die sich neu in die Begutachtung ein­arbeiten) eine Hilfestellung bieten sollen. Gestärkt wurde das Denken in Anlehnung an die Classification of Functioning, Disability and Health (ICF). Wichtig war uns die Umsetzung der Anliegen von BGE 141 V 281, ­soweit die rheumatologische Begutachtung davon betroffen ist: Kriteriengestützte Herleitung der Diagnosen, Einschätzung des Schweregrades der Erkrankung, Beweis der Behinderung, Konsistenzprüfung, Beurteilung der Ausschlussgründe. Zudem wurde das Glossar erheblich ausgebaut. Die Arbeit an der Berührungs­fläche von Recht und Medizin bedeutet für den Arzt, dass er oft mit Begriffen des Rechts in Kontakt kommt, die ihm aus dem klinischen Kontext nicht geläufig sind. Erwähnt werden soll auch die Zusammenarbeit mit der Association Romande des Praticiens en Expertises ­Médicale (ARPEM), der Interessegemeinschaft Swiss ­Insurance Medicine (SIM) und der Schweizerischen Gesellschaft für Physikalische Medizin und Rehabilitation.
Die Neufassung der Leitlinien wurde vom Vorstand der Schweizerischen Gesellschaft für Rheumatologie am 2.6.2016 genehmigt und an der Jahresversammlung vom 25.8.2016 in Interlaken den Mitgliedern vorgestellt. Sie wurde im September 2016 auf der Homepage der SGR (www.rheuma-net.ch) in deutscher und in französischer Sprache veröffentlicht und kann ohne Zugangsbeschränkung eingesehen und herunterge­laden werden.
Die Schweizerische Gesellschaft für Orthopädie und Traumatologie (swiss orthopaedics) hat diese Leit­linien zum Vorbild genommen und dort gewisse Adaptationen vorgenommen, wo sie sich vom Fachgebiet her aufdrängen. Die Leitlinien der orthopädischen Fachgesellschaft wurden am 15.2.2017 auf der Homepage (www.swissorthopaedics.ch) aufgeschaltet.
Es stehen nun in weiten Teilen einheitliche Leitlinien zur medizinischen Begutachtung von Erkrankungen und Unfallfolgen des Bewegungsapparates zur Ver­fügung.
Leitlinien in Papierform allein garantieren noch keine Verbesserung des Begutachtungsprozesses. Wichtig sind eine Anwenderschulung und eine konsequente Beachtung im gutachterlichen Alltag. Erste Workshops wurden bereits durchgeführt.
Dr. med. Jörg Jeger
Leiter der Arbeitsgruppe Versicherungsmedizin
der Schweizerischen Gesellschaft für Rheumatologie
MEDAS Zentralschweiz
Hirschengraben 33
CH-6003 Luzern
joerg.jeger[at]medaslu.ch