Wie jedes Jahr hatte die Heilsarmee gesungen, es roch nach Glühwein und gerösteten Marroni. Gieri stampfte in seinen Stulpenstiefeln zufrieden durch das Gedränge in der Bahnhofstrasse. Einmal im Jahr schlüpfte er in den extra langen Kapuzenmantel mit den weissen Plüschborten und tiefen Taschen. Sehr tiefen Taschen, mit einem Klettverschluss, der sich schnell öffnen und schliessen liess. Das klassische Rot passte gut zum weissen Rauschebart und dem schwarzen Gürtel, an dessen Schnalle die Weihnachtsglocke befestigt war. Ein Tag, an dem er zu Hochform auflief. Bald würde sich der leere Jutesack wieder füllen, der noch schlaff an seiner Hand baumelte. Bimmelnd bahnte er sich einen Weg durch das Gewühl. Vollgepackte Kinderwagen waren eine leichte Beute. Er steckte ein unbeaufsichtigtes Päckchen unter seinen Mantel, tätschelte einen Kinderkopf und liess die gestrickte Mütze in der Tasche verschwinden. Die Mütter waren überall mit ihren Smartphones beschäftigt. Übungshalber nahm er eine volle Einkaufstasche mit. Doch sein Schlaraffenland waren die Kaufhäuser. Früher hatte er einmal aushilfsweise im Jelmoli und im Globus als Nikolaus gearbeitet, hatte listig durch seine leere Messingbrille geblinzelt, die Kinderchen ermahnt und sich die Gesichter der vielen Hausdetektive gemerkt. Er wusste genau, was die Überwachungskameras abdeckten und was nicht. Gieri bediente sich gezielt aus den vollen Regalen. Allmählich füllte sich der Sack. Das meiste würde er später in einer gemieteten Garage stapeln. Es gab Abnehmer, die schon darauf warteten. Auf Sportsachen und Elektronik waren sie besonders scharf. Sein grösster Coup war der Besuch einer Oberstufe. Unangemeldet hatte er den Klassenraum betreten und mehrere Päckchen auf die vorderste Pultreihe verteilt. Dann hielt er eine kleine Ansprache und zog zwei geklaute Smartphones aus seinen Flanelltaschen. Wer diese neusten Dinger wollte und ein reines Gewissen hatte, musste nur sein altes Modell in den Sack legen. Gleich würde er zu seinem Esel gehen und sie alle umtauschen. Alle kicherten und tuschelten aufgeregt, selbst die Lehrerin wollte sich das Schnäppchen nicht entgehen lassen. Sollte sie ruhig. Dann liess er alle eine Kerze anzünden und verschwand. Wenn sein Sack gefüllt war und ihm der Einkaufstrubel zu lästig wurde, verzog er sich in die Aussenquartiere. Dort war ein Klaus selten gesehen. Am liebsten läutete er die grossen Wohnblocks ab. Namen, die exotisch klangen überging er. Womöglich kannten diese Leute die christlichen Gebräuche nicht. Unglaublich, wie viele Türöffner da summten. Wo sein Gebimmel erklang wurde er freudig empfangen. Den einsamen Seelen brachte er das Weihnachtsglück in die gute Stube. Waren Kinder da, legte er wahllos einige Päckchen auf den Tisch, brabbelte Glückwünsche und Ermahnungen und fuhr gleich weiter zum nächsten Stock. Es gab genug Weibchen jeden Alters, die beim Klang seiner tiefen Stimme glückselig zu kleinen Mädchen schrumpften. Er nahm die schwarze Fitze demonstrativ aus dem Sack oder las ihnen die Leviten aus seinem goldenen Buch. Gieri war da sehr anpassungsfähig. Er liess sich verwöhnen, lobte die Küche, wagte nach einem Sprüchlein zu fragen, scherzte und polterte ganz nach Bedarf. Er erzählte vom strengen, einsamen und ach so kalten Waldleben, setzte sich ächzend auf die Couch, liess sich die Stiefel ausziehen und die Füsse massieren. Sie waren so grenzenlos überwältigt, befühlten seinen langen Bart und waren ihm in allem zu Diensten. Denn er weckte in ihnen das Heimweh nach den Weihnachtsliedern und dem geschmückten Tannenbaum ihrer Kindheit.
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