… Nédjmeddine Bendimerad, Psychiater in Yverdon und Cartoonist

«Ich übersetze seriöse Tatsachen mit Humor»

Horizonte
Ausgabe
2018/3031
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.06777
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(3031):999-1001

Affiliations
Freier Journalist und Fotograf, Medientrainer, Bern

Publiziert am 24.07.2018

Zur Person

Nédjmeddine Bendimerad wurde 1964 in Tlemcen in Algerien geboren. 1986 bis 1993 studierte er dort Medizin. In der gleichen Zeit begann er, zu zeichnen und seine – auch politischen – Zeichnungen Zeitungen zu verkaufen. Dies trug ihm insbesondere in islamistischen Kreisen Probleme ein. Er wurde sogar mit dem Tod bedroht. 1994 floh er nach Lausanne, wo bereits sein Bruder wohnte. In den ­Kliniken von Genolier und Cery fand er Stellen in der Alters­psychiatrie. 11 Jahre lang arbeitete er am Spital Neuenburg, seit 2016 ist er in einer psychiatrischen Gruppenpraxis in Yverdon tätig. Seit Januar 2017 erscheinen seine Cartoons auch in der SÄZ. Nédjmeddine Bendimerad ist verheiratet und Vater von drei Kindern im Teenager-Alter. Er lebt mit seiner Familie in ­Neuenburg.
Wenn er zeichnet, werden komplexe Dinge einfach und verständlich. Jetzt zum Beispiel skizziert Nédjmeddine Bendimerad ein zweimotoriges Flugzeug. «Der Körper ist die Medizin, die Psychiatrie», erklärt er. «Ein Motor sind meine Zeichnungen, und der zweite ist die Fliegerei. Das hält mich in der Luft und im Gleichgewicht.»

Von Algerien in die Schweiz

Schon vor dieser Begegnung wird klar: Eine der Spezialitäten von Nédjmeddine Bendimerad ist es, immer ­wieder für eine Überraschung zu sorgen. So findet ihn, wer ihn via Internet sucht, unter anderem beim «Cercle des pilotes virtuels», bei den virtuellen Piloten also. Fliegen am Computer-Simulator und die Modell-Fliegerei sind seine grossen Hobbies. Cartoons zeichnen ist mehr, das ist professionelles Handwerk und einzigartige Kunst. Seine Geschichten, die er mit wenigen Strichen und ganz wenigen Worten erzählt, leben unter anderem von den Überraschungen.
Sein Beruf ist die Psychiatrie. Seit rund zwei Jahren ist er Teil einer Gruppenpraxis etwas ausserhalb von Yverdon. Die Praxis liegt im Parterre eines schmuck­losen, kleinen Fabrikgebäudes an der grossen Ausfahrtsstrasse, sein Zimmer verrät seine Heimat Nordafrika auf den ersten Blick: typische kleine Teppiche schmücken die Wände, ein Bild mit einem Kamel in der Wüste, die Fotografie eines heiligen muslimischen Ortes. «Nach meiner Flucht aus Algerien war die Ankunft in der Schweiz für mich damals zuerst einmal eine totale Entwurzelung», erinnert sich Bendimerad. «Eigentlich wollte ich nur etwa zwei oder drei Jahre lang bleiben.» Es sind bisher über 20 daraus geworden. Politischer Flüchtling sei er nicht, sagt er, «ich wollte mich ja nicht vor dem Staat verstecken, sondern vor den Terroristen, die mich bedrohten, auch mit dem Tod.»
Und jetzt benutzt er, der Psychiater, für sich erstmals ­einen Begriff, dem er bei seinen Patientinnen und ­Patienten immer wieder begegnet: «Ja, ich hatte Angst», sagt er. Und: «Hier hat man mir nicht den roten Teppich ausgerollt.» Es war schwierig, in der Schweiz als Arzt eine Stelle zu finden, «die ersten zwei Jahre hielt ich mich mit Zeichnen über Wasser.» Er zeichnete einzelne Blätter, kopierte und heftete sie, und verkaufte sie als Kalender für 20 Franken.
Vom Zeichnen hatte er bereits während seines Medizinstudiums in Algerien leben können, seine «dessins ­politiques» entstanden oft ganz kurzfristig, aufgrund aktueller Ereignisse, und sie wurden beispielsweise im «Quotidien d’Algérie» veröffentlicht. «Damals wurde ich mir bewusst, welche Wirkung eine Zeichnung haben kann», erinnert sich Nédjmeddine Bendimerad. Eine Wirkung, die ihm ans Existentielle ging, damals.

Zeichnender Psychiater

Heute zeichnet Bendimerad regelmässig vor allem für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften in der Schweiz, so seit Januar 2017 auch für die SÄZ. Oft sei er erstaunt, sagt er, welche Reaktionen seine Zeich­nungen auch dann hervorrufen würden, wenn sie ­eigentlich nur als Unterhaltung, als Belustigung ­gedacht gewesen wären. Eindrücklich sei beispielsweise gewesen, wie vehement Berufskollegen auf ­einen Cartoon reagiert hätten, der zwei Psychiater vor einem EKG zeigte. «Eine Doppelblindstudie», sagt auf der Zeichnung ein Beobachter zum andern. «Geschmacklos» und «Geringschätzung der Psychiater» schrieb ein Psychiater in einem Leserbrief. Ob er wusste, dass der Cartoonist selber Psychiater ist, ist nicht bekannt.
Klar ist für Nédjmeddine Bendimerad dies: «Jede medizinische Spezialität hat ihre spezifischen Kompetenzen. Die Interpretation eines EKGs gehört nicht zu den Kernkompetenzen eines Psychiaters. So wie das Erkennen ­einer Depression nicht die primäre Aufgabe eines Kardiologen ist». Vor allem aber: «Eine Reaktion ist ­immer ein Kompliment. Und in diesem Fall ein Zeichen dafür, dass ich offenbar eine empfindliche Stelle getroffen habe.» Im Übrigen sei gerade diese Zeichnung ein gutes Beispiel für eines seiner Credos als ­Cartoonist: «Besonders gern mache ich mich über mich selber lustig».
Personen seien nie seine Zielscheiben, «es geht um das, was Personen machen oder nicht machen». Thematisch gebe es da keine Grenzen – fast keine. «Über Religion mache ich mich nicht lustig». Wobei es grundsätzlich keineswegs negativ sei, über etwas Ernsthaftes zu lachen. «Wenn ich mich mit meinen Cartoons über ­etwas lustig mache, bedeutet dies: Ich übersetze seriöse Tat­sachen mit Humor.» Einfach und verständlich.
Wobei mit «übersetzen» auch «überspitzen» gemeint ist. Oder «sichtbar machen». Und dafür braucht es ein Auge, ein Gespür für das entscheidende Detail. Etwas, das den Zeichner mit dem Arzt verbindet, wie anderes auch.
Zum Beispiel: Auch in seiner Praxis setzt Bendimerad bisweilen den Zeichenstift ein, um komplexe Themen einfach darzustellen. Gesagt, getan: «Stellen sie sich ­einen Patienten mit einer Depression vor, sagt er, und zeichnet mit dem Bleistift ein Loch, in dem jemand sitzt. «Das ist ihre Depression», kommentiert er – und skizziert umgehend eine Leiter, über die das Männlein aus dem Loch gelangen kann. «Eine Sprosse sind unsere Gespräche, eine weitere verkörpert die ­Medikamente. Andere Sprossen symbolisieren den Ehepartner, die Familie, die Arbeit.» Et voilà.
Der Patient merkt, dass ihm geholfen werden kann. Und Fachleute merken, dass bei diesem Psychiater der systemische Ansatz im Vordergrund steht. «Ich betrachte den Menschen in seiner Umgebung, seinem ­sozialen Umfeld». Falls nötig, kommen Medikamente zum Einsatz. Eine Schachtel Antidepressiva liegt auf dem Pult, neben dem Behälter mit den vielen Blei- und Tuschstiften.

Fliegen – virtuell und richtig

Und die virtuelle Fliegerei? Welche Bedeutung hat sie im Leben dieses vielbeschäftigten Mannes? «Vielleicht ist es das Kind in mir, das sich hier manifestiert», sagt Nédjmeddine Bendimerad, und seine Augen leuchten. Und sein Gegenüber stellt sich vor, wie er zuhause an seinem Computer sitzt und ein Verkehrsflugzeug von Genf-Cointrin nach Lyon pilotiert. Oder wie er mit seinen ­Kollegen auf einer Wiese zwischen Yverdon und Neuenburg steht und sein Modellflugzeug durch die Lüfte steuert. «Ja, manchmal fühle ich mich wie ein Kind in einer Erwachsenenwelt», ergänzt der eher kleingewachsene Mann mit der Glatze. «Ich brauche diese Naivität – auch wenn ich zeichne».
Bemerkenswert ist, dass Bendimerad als Passagier in ­einem richtigen Flugzeug kaum fliegt. Einmal, erzählt er, habe er einen Aeroclub besucht und sich in ein ­kleines Passagierflugzeug setzen dürfen. Der Fluglehrer nebenan habe bald bemerkt, dass er, der Psychiater, die Instrumente des Flugzeugs und die Vorgehensweisen ­eines Piloten sehr genau kenne. «Mach’s», habe der Fluglehrer gesagt. Und er habe es gemacht. Habe den Motor gestartet, sei zur Piste gerollt – und gestartet. «Natürlich war der Profi am zweiten Steuerknüppel», erklärt er, «aber ich habe geschwitzt». Und, zum zweiten Mal: «Ja, ich hatte Angst».
Einem Patienten würde er das nicht sagen, ergänzt Bendimerad, aber es sei ihm wichtig, nicht nur die ­anderen, sondern immer wieder auch sich selber ins Visier zu nehmen, sich selber kritisch und offen zu betrachten. «Und ich versuche, stets auch mit meinen Gefühlen zu sprechen. Denn das bedeutet: Vertrauen zu schenken».
Übrigens: Ideen für seine Zeichnungen sammle er immer und überall, sagt Bendimerad: in der Presse, beim Tennisspielen, bei den virtuellen Piloten, den Ärztekollegen oder seinen Patientinnen und Patienten.
Gut möglich also, dass auch diese Begegnung dereinst in einem Cartoon ihren Niederschlag finden wird.
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