Gedanken zum Jahresbeginn – utopisch, aber notwendig

Zukünftige Generationen und ihre Interessen vertreten

Zu guter Letzt
Ausgabe
2020/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18401
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(07):236

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 11.02.2020

Im Jahr 2019 hat die Lausanner Tageszeitung Le Temps immer wieder Umweltfragen thematisiert und ausgehend von Bürgerdebatten in mehreren Regionen eine «Charta für den ökologischen Wandel» [1] verfasst, deren wichtigste Argumente lauten: «Wenn nicht bald mutige Entscheidungen getroffen werden, sind die Grundfesten unserer Gesellschaft bedroht. Es ist zwingend notwendig, dass wir einen raschen Wandel hin zu einem nachhaltigen Gesellschaftsmodell in die Wege leiten» […]
Diese Charta wurde den Kandidatinnen und Kandi­daten für die Bundesversammlung mit der Bitte zu­gesandt, zu verschiedenen Themen jeweils drei Fragen zu beantworten. Eines dieser Themen, «Die Schweiz als Vorreiterin bei Bildung und Forschung», enthält den Vorschlag, «eine ausserparlamentarische Kommission zur Wahrung der Interessen zukünftiger Generationen» zu schaffen. Viele der ökologisch ausgerichteten Kandidatinnen und Kandidaten sprachen sich dafür aus [2].
Die Umsetzung eines solchen Vorschlags ist zwar mit gewaltigen Schwierigkeiten verbunden, die Idee selbst liegt aber schon seit Jahrzehnten in der Luft. Sie entspräche einer «dritten Kammer», wie es in Frankreich der Fall ist, wo der in der Verfassung von 1958 begründete Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrat mehr als 200 Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft zusammenbringt. Um erfolgreich arbeiten zu können, wäre ein kleineres Gremium allerdings sinnvoller. Der 2007 gegründete «World Future Council» ist aus einer im Jahr 2000 von Jakob von Uexküll vorgestellten Idee entstanden. Es handelt sich um eine unabhängige, interdisziplinäre Stiftung nach deutschem Recht, die 50 «Change Makers» vereint. Persönlich habe ich während der Arbeit des Waadtländer Verfassungsrats zusammen mit Kolleginnen und Kollegen die Gründung eines «Zukunftsrats» gefordert. Nach lebhaften Debatten wurde das Prinzip akzeptiert und in der Verfassung des Kantons von 2003 in Artikel 72 wie folgt formuliert: «Um für die Zukunft vorzusorgen, zieht der Staat ein Gremium für Zukunftsfragen bei». Dies ist nun bald zwanzig Jahre her … Man muss zugeben, dass die Umsetzung nur zögerlich erfolgt. Die Stiftung Zukunftsrat / Conseil de l’avenir mit Sitz in Cudrefin (VD) ist ebenfalls seit über zwanzig Jahren aktiv. Der Zukunftsdenker und Aktivist Robert Unteregger hat in verschiedenen Kantonen und Gemeinden entsprechende Initiativen angeregt und unterstützt, unter anderem in Schulen und bei Jugendlichen [3].
Natürlich erfordert die Umsetzung eines solchen Programms wichtige Veränderungen. Zukünftige Generationen sind heute keine Rechtssubjekte (und selbst wenn ihnen Rechte zugesprochen werden sollten, könnten sie diese nur durch Rechtsvertreter geltend machen). Zunächst müssen diejenigen, die uns eines Tages folgen werden, legitimiert werden, die Ausrichtungen und Entscheidungen von heute zu beeinflussen. Anschliessend muss über die Kriterien für ihre Repräsentation diskutiert werden: Sollen die aktuellen oder die zukünftigen regionalen Demografien massgeblich sein? Welcher Platz ist den verschiedenen kulturellen, b ürgerlichen, eventuell auch religiösen Traditionen einzuräumen? Sollte man zuallererst versuchen, die wachsende soziale Ungleichheit als grosse Geissel unserer Zeit zu bekämpfen? Schwierige Fragen! Dennoch muss etwas geschehen.
In diesem Zusammenhang lassen sich auch Entscheidungen einiger Länder sehen, Teilen der Natur – etwa bestimmten Gebirgen, Flüssen (in Neuseeland, in Indien dem Ganges – vgl. den Artikel von Victor David) [4] oder Wäldern – eine Rechtspersönlichkeit zuzusprechen. In Bolivien und Ecuador ist Mutter Erde als Rechtspersönlichkeit anerkannt. Dies stellt einen ­radikalen Bruch mit den bisher im Westen geltenden Regeln dar. In diesem Zusammenhang ist auch der ­Begriff des Ökozids zu sehen.
Die Forderung nach einer echten – und mit konkreten Schritten verbundenen – Repräsentation unserer Nachkommen ist zwar immer noch eine Utopie. Die Hoffnung ist aber, dass es einigen scharfsinnigen und kreativen Menschen gelingt, eine gesellschaftliche Debatte, einen Prozess, möglicherweise den Aufbau einer Struktur anzustossen, um die Interessen zukünftiger Generationen – und ihr Recht auf ein lebenswertes ­Leben – zu wahren. Manchmal tritt der Wandel auch überraschend schnell ein …
jean.martin[at]emh.ch