Ein Bereich des Gesundheitswesens mit erheblichem Potenzial

Digitalisierung in Pandemiezeiten

Weitere Organisationen und Institutionen
Ausgabe
2021/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.19585
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(09):320-322

Affiliations
Dr. med., Leitender Arzt Medizin/Medizininformatik Spital Thun, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Medizinische Informatik SGMI

Publiziert am 03.03.2021

Wer kennt sie nicht, die täglichen Statistiken zur Covid-19-Situation. Seit Beginn der Pandemie ergeben sich dabei auch Fragen zu Entstehung, Kohärenz, Vollständigkeit und Vergleichbarkeit dieser Daten. Nicht nur bei der Datenauswertung ­verdeutlicht die Pandemie wie kaum ein Ereignis zuvor genutzte und verpasste Chancen im Bereich der Digitalisierung des Gesundheitswesens.
Das Gesundheitswesen steht aktuell im Fokus des In­ter­esses. Dass wir in der Schweiz von einer hervor­ragenden medizinischen Betreuung profitieren, ist ebenso bekannt wie die damit verbundenen Kosten. Im Gegensatz zur medizinischen Qualität hinken wir im ­internationalen Vergleich beim Bereich Digitalisierung allerdings hinterher – auch, wenn häufig ge­äusserte Vergleiche mit zentralistisch organisierten Ländern nicht immer adäquat sind. Hätten wir gerade in diesem Jahr allenfalls von einem höheren Digita­lisierungsgrad profitieren können? Welche jüngst erschaffenen Projekte sollten wir in die Zukunft retten?
Es stellen sich aber auch grundsätzlichere Fragen: «Die Digitalisierung hat enttäuscht. Das war schon vor ­Corona absehbar, aber die Pandemie hat es noch deutlicher offenbart» [1]. Diese ernüchternde Analyse von Stephan Siegrist wurde so ähnlich bereits früher geäussert [2]. Die Schweizerische Gesellschaft für Medizi­nische Informatik SGMI setzt sich seit Jahrzehnten für eine sinnvolle, effiziente und wirksame Digitalisierung im Gesundheitswesen ein, und es gibt durchaus Punkte, in welchen die Digitalisierung nicht enttäuschen dürfte. Die Digitalisierung per se darf aber kein Einzelziel im Gesundheitswesen sein. Um Erfolg zu haben, müssen die Prozesse im Grossen und Kleinen unter Berücksichtigung des sogenannt sozio-technischen Umfelds [3], also im Wesentlichen der Interaktion des Menschen mit den digitalisierten Systemen, abgebildet werden. Auch vor diesem Hintergrund lassen sich einige ausgewählte Themen betrachten.

Melde(ver)wesen in Pandemiezeiten

Zu den mitunter aufwendigeren Themen im schweizerischen Gesundheitswesen gehört das Meldewesen. Zahlreiche obligatorische und freiwillige Meldungen durchdringen unseren Alltag. Für jede Meldeart gibt es gesonderte Regeln, oft ein grosszügig definiertes ­Datenset (welches später nicht zwingend vollständig analysiert wird) und ein Online-Formular im PDF oder Websitestil, das es auszufüllen gilt (seit die Faxmeldung Geschichte wurde).
Auf der anderen Seite sind Primärsysteme (Klinikinformationssysteme in Spitälern, Praxisinformationssysteme, Laborinformationssysteme etc.) alle in der Lage – und müssen das in der heutigen Zeit auch sein –, automatisiert Daten zu erstellen. Eine De-Identifizierung im gewünschten Ausmass ist dabei ebenso selbstverständlich wie ein standardisiertes Format und eine gesicherte Übertragung der Daten. Es gilt nur noch, diese zu aggregieren und zu präsentieren. Damit ermöglicht man eine automatisierte Meldung in Echtzeit, die keine weiteren Arbeiten von Hand mehr ­erfordert: wirksam, zweckmässig, wirtschaftlich. In Deutschland wurde so in der ersten Pandemiephase ein Datensatz definiert und für Meldungen ans Robert Koch-Institut verwendet (GECCO-Datensatz [4]). Zeitverzögerte Meldungen oder Differenzen zwischen veröffentlichten Daten mehrerer offizieller Organe können so vermieden werden.
Die Digitalisierung mag Nachteile haben und nicht ­immer zeitsparend sein, aber gerade im zeitkritischen ­Covid-19-Kontext macht standardisierte Digitalisierung enorm viel Sinn. Ohne Zeitverzug und personalintensive Datenverarbeitung können jederzeit nachvoll­ziehbare und verlässliche Aussagen über Erkrankungs­häufigkeiten gemacht werden. Wir sollten mit einem pragmatischen, zeitnahen und gründlich entworfenen digitalen Modell das bisherige Meldewesen flächendeckend ablösen und in den nächsten Jahrzehnten davon profitieren.

Wenig Appetit auf App

Bereits zu Beginn der ersten Welle war klar, dass das von Menschen gesteuerte Contact Tracing neben Vorteilen auch gewichtige Nachteile hat. Ein Skalieren der personalintensiven Nachverfolgung beim Überschreiten einer gewissen Anzahl Infizierter ist nicht vernünftig möglich, ein 7 × 24-Stunden-Betrieb steht ausser Diskussion, Aufwand und Kosten sind enorm, die direkte Erreichbarkeit der Patienten ist oft nicht gegeben. Darüber hinaus erinnert sich längst nicht jede Person an potenzielle Risikokontakte. Genau diese Lücken füllt die SwissCovid-App, und sie wird das noch viel effizienter machen, wenn neue Virusvarianten zu noch höheren Ansteckungsraten führen. Natürlich hat die App gewisse Einschränkungen, natürlich ist sie auch abhängig vom Goodwill des Nutzers und ist nicht in jeder Hinsicht perfekt. Das muss sie aber auch nicht sein, eine hervorragende Ergänzung zu Bestehendem ist sie allemal. Die App wurde in vielerlei ­Hinsicht sehr gut gestaltet, und es ist schade, wenn sie durch parallel zu diesem Goldstandard entworfenen ­Papierlisten und ­Eigenkreationen von Apps, zum Beispiel in (damals noch geöffneten) Restaurants, konkurriert wird.
Zudem kann die Vernetzung dazu beitragen, dass automatisierte Meldungen der positiven Befunde vom ­Laborgerät quasi direkt beim betroffenen Patienten landen und dieser extrem zeitnah alle betroffenen Kontakte alarmieren kann. Damit entfaltet die Digitalisierung ihre unschlagbaren Vorteile: in der Automatisation und in der Geschwindigkeit. Weitere ­pandemieähnliche Szenarien werden uns auch in ­Zukunft beschäftigen, diese digitale Form der Eindämmungsunterstützung sollten wir dann rasch und standardmässig zur Verfügung haben. An diesen ­Aussagen ­ändern auch die kürzlich publik gewordenen, kriminell ausnutzbaren Sicherheitslücken bei den grossen Anbietern (Google, Apple) nichts Grundsätzliches.
Die SwissCovid-App wird noch wichtiger werden, wenn neue Virusvarianten zu deutlich höheren Ansteckungsraten führen.

Zentralistischer Föderalismus

Der Föderalismus mit seinen Vorteilen hat im Zusammenhang mit der Digitalisierung etliche Nachteile. Gerade im Kontext des elektronischen Patientendossiers zeigen sich die Schwierigkeiten und Zusatzaufwände der verteilten Vorgehensweise. Die Koordinationsaufwände sind enorm, die architektonischen Sicherheitsschlaufen manchmal an der Schmerzgrenze. Aber es zeigen sich auch die Vorteile der dafür nötigen, konsequenten Nutzung existierender Standards. Bis hin zum System der primären Datenerfassung durchgesetzt, kann das Schweizer Gesundheitswesen so trotz vielfältiger Landschaft der Softwarelösungen von der Digitalisierung profitieren. Am Ende möchte man damit eine semantische Interoperabilität erreichen: Unterschiedliche Ansprechpartner im Gesundheitswesen tauschen nicht nur Daten miteinander aus, sondern diese ­können aufgrund ihres hohen Standardisierungs­grades und der festgelegten Übertragungsprotokolle ­direkt vom Zielsystem aufgenommen, interpretiert und ­korrekt integriert werden. Effizienz wird sich so zwangsläufig einstellen und die Investition auszahlen. Eine zentrale Koordination für föderale Strukturen ist ­dabei hochwillkommen.

Aktion statt Reaktion

In den vergangenen Monaten wurden in manchen Teilen des Gesundheitswesens neue Prozesse definiert, wurden Personen auf für sie fremden Stationen und Fachbereichen eingesetzt, mussten stetig und rasch wechselnde Informationen unter alle im Einsatz stehenden Fachpersonen gebracht werden. Es galt, das hohe Patientenaufkommen noch effizienter bewältigen und dokumentieren zu können. Ohne digital unterstützte Prozesse, ohne rasch fliessende Informationen wäre das schwerlich denkbar gewesen. Wenn zudem die Überlastung der unermüdlich arbeitenden Pflegenden sowie Ärztinnen und Ärzte teilweise dank Digita­lisierung verhindert werden konnte, ist das eine Erfolgsgeschichte. In etlichen Leitungsgremien wurde diesem Umstand Rechnung getragen. Im Gegensatz zu früher, wo man in Krisenzeiten nicht selten nur auf lang Bewährtes zurückgriff, wurden konsequent auch digitale Lösungsoptionen und Bewältigungsstrategien diskutiert und evaluiert.
Das Spezialisten-Know-how wurde so nicht nur bei Epidemiologen, Public-Health-Experten, Ärztinnen und Ärzten eingeholt, sondern ganz explizit auch bei Experten auf dem Gebiet der digitalen Prozesse. Im ­Gesundheitswesen werden das primär Medizininformatiker sein, die sowohl Erfahrung in klinischen als auch in digitalen Prozessen aufweisen. Dadurch muss es gelingen, die Potenziale der Digitalisierung zu nutzen, wertvolle Zeit zu gewinnen und administrative Arbeiten zu reduzieren, ohne analoges Denken einfach digital abzubilden. Die Ausbildung entsprechender Spezialisten in der Funktion als Brückenbauer zwischen klinischen, IT-technischen und administrativen Fragen wird weiterhin einen der wichtigen Aspekte im Bereich Digitalisierung im Gesundheitswesen bilden. Dieses Gebiet sollte die Ärzteschaft nicht ausschliesslich anderen Berufsgruppen überlassen.
Hunderttausende von in Echtzeit übermittelten SARS-CoV-2-PCR-Resultaten, über zwei Millionen Nutzer einer im Eilzugtempo unter Berücksichtigung höchster Problembereiche (wie dem Datenschutz) erstellten App, Zehntausende automatisiert erstellter Berichte in Notfallzentren und vieles mehr zeugen vom Nutzen der Digitalisierung und können die eingangs angesprochene Enttäuschung nicht unumwunden bestätigen. Unbestritten gibt es allerdings Probleme im Digita­lisierungsbereich selbst, darüber hinaus fehlt es an ­adäquater Finanzierung und an Ausbildung von Spe­zialisten. Es bleiben sehr viele Möglichkeiten, um das Potenzial einer sinnvollen Digitalisierung im Gesundheitswesen besser zu nutzen. Dieses Ziel zu erreichen wird auch in Zukunft eine der Hauptaufgaben der Schweizerischen Gesellschaft für Medizinische Informatik sein.

Das Wichtigste in Kürze

• Anders als bei der medizinischen Qualität hinkt die Schweiz im internationalen Vergleich im Bereich Digitalisierung hinterher.
• Besonders im Meldewesen bietet Digitalisierung Vorteile, da sie automatisierte Meldungen in Echtzeit ermöglicht. Das ist wirksam, zweckmässig, wirtschaftlich.
• Die SwissCovid-App ergänzt das klassische Contact Tracing.
• Eine zentrale Koordination für föderale Strukturen ist bei der Digitalisierung wünschenswert.
• Die Ausbildung medizinischer Spezialisten als Brückenbauer zwischen klinischen, IT-technischen und administrativen ­Bereichen ist ein wichtiger Aspekt der Digitalisierung im Gesundheitswesen.
Dr. med. Marc Oertle
Krankenhausstrasse 12
CH-3600 Thun
marc.oertle[at]spitalstsag.ch
1 Siegrist S. Was uns 2021 beschäftigen sollte. Neue Zürcher Zeitung am Sonntag. 3.1.2021, p. 16–17.
2 Rotman D. Why tech didn’t save us from covid-19. MIT Technology Review. 2020; June 17. www.technologyreviewcom/2020/06/17/1003312/why-tech-didnt-save-us-from-covid-19/
3 Berg M. Patient care information systems and health care work: a sociotechnical approach. Int J Med Inform. 1999;55(2):87–101.
4 Nationales Forschungsnetzwerk der Universitätsmedizin zu ­Covid-19. German Corona Consensus Data Set (GECCO). www.­bihealth.org/fileadmin/artikel/pressemitteilungen/dateien/­Bericht_Bundeinheitlicher_Datensatz_COVID-19.pdf