Sozialhilfe und Gesundheit

FMH
Ausgabe
2021/36
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.20129
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(36):1159-1160

Affiliations
Wissenschaftlicher Mitarbeiter Abteilung Public Health FMH; Geschäftsführer Allianz Gesundheitskompetenz a.i.

Publiziert am 08.09.2021

Personen, welche Sozialhilfe beziehen, weisen deutliche gesundheitliche Beeinträchtigungen und risikoreichere Gesundheitsverhaltensweisen auf, wie eine neue Studie der Berner Fachhochschule (BFH) und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) aufzeigt.
Die im August 2021 publizierte Studie «Gesundheit von Sozialhilfebeziehenden» (siehe Infobox) bringt neue Erkenntnisse zum Gesundheitszustand, zur Gesundheitsversorgung und zur Bedeutung der Gesundheit für die Erwerbsreintegration von Sozialhilfebeziehenden. Die Forscher der BFH und der ZHAW stützen sich dabei auf eine einzigartige Datenbasis: eine Verknüpfung längsschnittlicher Gesamtbevölkerungsdaten aus der Sozialhilfeempfängerstatistik, den Individualkonten der AHV und dem IV-Rentenregister mit Befragungs­daten der Schweizerischen Gesundheits­befragung, der Erhebung zu den Einkommen und Lebensbedingungen und der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung. Mit dieser Datenbasis stehen bis zu einer halben Million Beobachtungen über den Zeitraum von 2007 bis 2018 zur Verfügung. Dieser ausserordentliche Datensatz ermöglicht es, Aussagen über die gesamtschweizerische Situation der Gesundheitsversorgung in der Sozialhilfe zu treffen.
Sozialhilfebeziehende weisen einen deutlich schlechteren Gesundheitszustand als die Restbevölkerung und auch als Personen in schwierigen finanziellen Verhältnissen auf. Dieser Unterschied macht sich nicht nur in objektiven Beobachtungen, sondern auch in der Selbsteinschätzung der Sozialhilfebeziehenden bemerkbar. Das individuelle Gesundheitsverhalten der Sozialhilfebeziehenden ist zudem deutlich risikoreicher als das der Restbevölkerung: sowohl beim Ernährungs- und Bewegungsverhalten als auch beim Rauchen zeigen sich deutliche Unterschiede. Der Gesundheitszustand von Sozialhilfebeziehenden verändert sich bei relevanten Übergängen, wie der Aussteuerung, dem Ein- und Austritt aus der Sozialhilfe, und im Verlauf der Sozialhilfebezugsperioden. Die grösste Verschlechterung des Gesundheitszustandes wird in der Regel bei Beginn der Bezugsperiode erreicht. Um den Austritt aus der Sozialhilfe werden wiederum deutliche Verbesserungen des Gesundheitszustandes festgestellt.
Die Häufigkeit, mit welcher Sozialhilfebeziehende Gesundheitsleistungen beanspruchen, und ob Hinweise für eine Fehl- oder Unterversorgung vorhanden sind, unterscheidet sich ebenfalls von den Vergleichsgruppen. Einerseits suchen Sozialhilfebeziehende Allgemeinärztinnen und Allgemeinärzte rund doppelt, Spezialistinnen und Spezialisten etwa viermal so häufig auf wie die Restbevölkerung und wie Personen in schwieriger finanzieller Lage. Dazu kommt, dass sie etwa doppelt so häufig auf Notfallstationen oder statio­när im Spital sind und fast fünfmal häufiger eine Behandlung aufgrund eines psychischen Problems beanspruchen. Andererseits werden Zahnarztleistungen oder gynäkologische Vorsorgeuntersuchungen von Sozial­hilfebeziehenden signifikant weniger oft in Anspruch genommen. Ob finanzielle und formale oder nicht-finanzielle Hürden bei der Inanspruchnahme gesund­heitlicher Dienstleistungen ein Rolle spielen, kann nicht beantwortet werden.
Es finden sich Hinweise darauf, dass ein schlechter Gesund­heitszustand die Wahrscheinlichkeit einer Erwerbsreintegration empfindlich vermindert. Fünf Jahre nach Bezugsbeginn hat von den Personen ohne schlechten Gesundheitszustand ein deutlich höherer Anteil den Wiedereinstieg in die Erwerbstätigkeit geschafft. Nicht-erwerbstätige Sozialhilfebeziehende weisen in den Bereichen subjektives Wohlbefinden und Depressionen erhöhte Belastungen auf, wobei nicht beurteilt werden kann, ob diese Ursache oder Folge der Nichterwerbstätigkeit sind.
Gesundheitswirksame Entscheidungen treffen zu können beeinflusst sowohl die wahrgenommene und objektive Gesundheit als auch das individuelle Risiko­verhalten [1]. Viele der in der Studie beschriebenen Probleme lassen sich durch eine gesteigerte Gesundheitskompetenz positiv beeinflussen [2]. Eine Verbesserung der Gesundheitskompetenz lässt sich einerseits durch Interventionen bei den Sozialhilfebeziehenden selbst und andererseits durch Information der involvierten Fachpersonen erreichen. Handlungsempfehlungen und Beispiele von Projekten, welche die Stärkung der Gesundheitskompetenz anstreben, sind im Praxisleitfaden und Action Guide der Allianz Gesundheitskompetenz zusammengefasst (siehe Infobox).
Die Bedeutung der Sozialhilfebeziehenden als Zielgruppe gesundheitspolitischer Massnahmen wird durch die Studie deutlich aufgezeigt. Sowohl das individuelle Verhalten als auch formelle und informelle Hürden beeinträchtigen den Zugang zur Gesundheitsversorgung von Sozialhilfebeziehenden. Durch eine Aufklärung der betroffenen Personen, der Institutionen der Sozialversicherung und der behandelnden Ärzteschaft kann das Ausmass der Beeinträchtigung verringert werden. Die involvierten Parteien sollten die besonderen Eigenschaften der Sozialhilfebeziehenden als vulnerable Gruppe anerkennen und berücksichtigen. Der schlechtere Gesundheitszustand, das risiko­reichere individuelle Gesundheitsverhalten und eine mögliche Unterversorgung tragen zur schwierigen Situation der Sozialhilfebeziehenden bei. Eine frühzeitige und adäquate Versorgung mit Gesundheitsleistungen, die Stärkung der Gesundheitskompetenz und individuelle Verhaltensanpassungen können die festgestellten Verschlechterungen des Gesundheitszustandes und die Abhängigkeit von Sozialhilfe möglicherweise abschwächen und dazu die Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit positiv unterstützen.

Studie Gesundheitliche Chancengleichheit BAG

STUDIE
Dorian Kessler, Marc Höglinger, Sarah Heiniger, Jodok Läser und Oliver Hümbelin (2021). Gesundheit von Sozialhilfebeziehenden – Analysen zu Gesundheitszustand, -verhalten, -leistungsinanspruchnahme und Erwerbsreintegration. Schlussbericht zuhanden Bundesamt für Gesundheit. Bern/Winterthur: Berner Fachhochschule und Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
LINKS
Gesundheitsversorgung für Armutsbetroffene (bag.admin.ch)
Publikationen – Allianz Gesundheitskompetenz (allianz-gesundheitskompetenz.ch)
KONTAKT
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Sektion Gesundheitliche Chancengleichheit
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1 Bundesamt für Gesundheit: Schlussbericht Bevölkerungsbefragung «Erhebung Gesundheitskompetenz 2015». gfs Bern 2016.
2 Weltgesundheitsorganisation WHO, Regionalbüro für Europa. Gesundheitskompetenz. Die Fakten.Zürich: Kompetenzzentrum Patientenbildung, Careum Stiftung; 2016.