Von persönlicher Erfahrung genährte Praxis

Zu guter Letzt
Ausgabe
2021/43
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.20204
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(43):1426

Affiliations
Prof. Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 27.10.2021

In der klinischen Praxis spielt sich die Begegnung mit Patientinnen und Patienten oft in einem Spannungsfeld von Wissen und Unsicherheit, von Objektivität und Subjektivität ab. Bekanntermassen wird Gesundheit nicht nur von wissenschaftlich belegten biologisch-medizinischen Faktoren, sondern auch stark von psychosozialen, kontextuellen und kulturellen Aspekten bestimmt. Somit kommt den Geisteswissenschaften eine Schlüsselrolle zu, wenn es darum geht, bei der Ausbildung und Ausübung der medizinischen Berufe ein Gegengewicht zu der im Westen üblichen Dominanz von Technik und Standardisierung zu schaffen. Tatsächlich sind sie heute besser eingebunden denn je. Sie helfen nicht nur im Umgang mit den Fragen und Erwartungen unserer Patientinnen und Patienten, sondern erleichtern uns auch die Lösung komplexer Probleme. Ein aktuelles Beispiel wäre etwa die Impfberatung einer skeptischen Person, in die neben biologisch-epidemiologischen Evidenzen auch pädagogische, kommunikative, psychologische und ethische Aspekte einfliessen sollten.
Der narrative Ansatz, der insbesondere in Anlehnung an die Arbeiten von Rita Charon, Ärztin und Leiterin des Programms für narrative Medizin an der Columbia University, entwickelt wurde, nutzt das reflektierende ­Schreiben als Instrument, um sich der gelebten Erfahrung von Patientinnen und Patienten, die mit einer Krankheit konfrontiert sind, zu nähern [1]. Diese werden dazu aufgefordert, ihre Geschichte zu erzählen, ihre ­Gefühle und ihre Sorgen zu schildern. Der subjektive Nutzen dieses Ansatzes im Zusammenhang mit unterschiedlichsten Erkrankungen ist inzwischen gut belegt und wurde in führenden Fachzeitschriften untersucht [2]. Der Ansatz stärkt auch die Anerkennung der Patientinnen und Patienten als Individuen und kommt der wertvollen therapeutischen Allianz zugute. Inspiriert von diesem Modell bat unser Team einer Rehabilitations-Abteilung des Universitätsspitals Genf, stark ein­geschränkte ­ältere Patientinnen und Patienten auf­zuschreiben, wie sie sich ihre Rückkehr nach Hause vorstellten. Die älteren Menschen, mit denen wir sprachen, schilderten uns trotz ihrer schweren Beeinträchtigungen hoffnungsvolle und freudige Pläne, etwa die Reise zu Verwandten, die Wiederaufnahme lieb­gewonnener sozialer Aktivitäten oder einfach die Rückkehr in ihr Zuhause, das sie als einen Ort des Wohlbehagens und der Ruhe empfanden. Von den Befürchtungen und dem Pessimismus ihrer Betreuer waren diese Schilderungen weit entfernt. Uns ermöglichten diese Schilderungen von Wünschen und Träumen, den Blick dieser Menschen auf sich selbst besser zu verstehen. Die Gespräche haben dazu beigetragen, die gegenseitige Bindung in der Pflege zu stärken. Diese Geschichten haben uns sehr berührt. Narrative Ansätze können Empathie wecken und den Pflegenden ein Gefühl für die persön­liche und menschliche Dimension der Patientinnen und Patienten geben [3]. Wir wissen, dass Empathie ein wesentlicher Bestandteil der Begegnung ist. «Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar», sagte der kleine Prinz von Saint-Exupéry.
Wenn in der Pflegebeziehung der menschliche Aspekt gestärkt werden soll, bieten reflektierende Ansätze sehr bereichernde Perspektiven. Sie verdeutlichen, dass Erfahrung durch Praxis, aber auch durch kritisches Hinterfragen der eigenen Handlungen und Emotionen entsteht. So ist es bemerkenswert, wie Studierende der Medizin durch das Verfassen eines Reflexionsberichts ihre Sicht auf sich selbst und andere erweitern. In der klinischen Praxis, wenn die Beziehung zwischen Arzt und Patient schwierig ist, kann es besonders fruchtbar sein, sich eigener Erfahrungen bewusst zu werden und diese in die Begegnung einzubringen. Ebenso sinnvoll kann es sein, das eigene Unwissen einzugestehen und die Position der Kontrolle zugunsten gemeinsamen Fragens aufzugeben [4].
Angesichts ihres Nutzens für die berufliche Entwicklung und die Beziehung zu den Patientinnen und ­Patienten sollten die narrativen und reflektierenden Fähigkeiten, die Rita Charon als eine «von persönlicher Erfahrung genährte Praxis» bezeichnet, systematischer in die Ausbildungspläne aufgenommen werden.
afallaz[at]bluewin.ch
1 Charon R, Hermann N. A Sense of Story, or Why Teach Reflective Writing? Acad Med. 2012;87:5–7.
2 Fioretti C, Mazzocco K, Riva S, et al. Research studies on patients’ illness experience using the Narrative Medicine approach: a systematic review. BMJ Open. 2016;6:e011220. doi:10.1136.
3 Baarts C, Tulinius C, Reventlow S. Reflexivity – A strategy for a patient-centred approach in general practice. Family Practice. 2000;17:430–4.
4 Widmer D, Allaz AF. Outils pour la réflexivité en psychosomatique: Qu’est-ce qui a changé en 30 ans? Rev Med Suisse. 2017;13:189.