Medizin-ethische Richtlinien der SAMW in der Vernehmlassung

Zusammenarbeit von medizinischen Fachpersonen mit der Industrie

Weitere Organisationen und Institutionen
Ausgabe
2021/48
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.20343
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(48):1610-1612

Affiliations
a lic. iur, MAE, Medizin & Ethik & Recht, Basel, wissenschaftliche Begleitung der Subkommission; b Prof. Dr. med., Vizepräsident SAMW, ­­­
Vorsitz der ­Subkommission

Publiziert am 30.11.2021

Interessenkonflikte kommen auch in der medizinischen Wissenschaft und Praxis vor, und es braucht Mechanismen, mit diesen Konflikten umzugehen. Die Grundlage ist Transparenz. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) behandelt diese Thematik in den Richtlinien «Zusammenarbeit Ärzteschaft–Industrie» von 2013. Diese wurden aktualisiert, und der Entwurf der neuen Richtlinien steht vom 29. November 2021 bis zum 25. Februar 2022 zur ­öffentlichen Vernehmlassung.
Die Zusammenarbeit von medizinischen Fachpersonen mit der Industrie ist seit langem etabliert. Sie liegt grundsätzlich im Interesse einer guten Gesundheitsversorgung und trägt zur Mehrung des Wissens, zur Entwicklung innovativer Therapien und insgesamt zum medizinischen Fortschritt bei. Gleichzeitig kann sie Abhängigkeiten mit sich bringen und zu Interessenkonflikten führen. Im Bewusstsein um dieses Spannungsverhältnis veröffentlichte die SAMW 2002 die «Empfehlungen zur Zusammenarbeit Ärzteschaft –­ ­Industrie». Diese wurden 2006 in Richtlinien überführt und 2013 revidiert [1]. Neue Vorschriften im Umgang mit Heilmitteln in der Verordnung über Integrität und Transparenz (VITH) und revidierte Kodizes der Indus­trie erforderten eine erneute Aktualisierung der Richtlinien. Die Zentrale Ethikkommission (ZEK) hat deshalb eine breit abgestützte Subkommission mit der Über­arbeitung beauftragt.

Transparenz als Leitprinzip

Medizinisches Handeln orientiert sich stets am Pa­tientenwohl und an den Interessen der Gesellschaft. Wenn medizinische Fachpersonen und Gesundheitsorganisationen mit der Industrie zusammenarbeiten, ­können Eigeninteressen und Interessenkonflikte das professionelle Verhalten beeinflussen und die Glaubwürdigkeit von medizinischen Fachpersonen und das in sie gesetzte Vertrauen beeinträch­tigen. Der Begriff medizinisch wird von der SAMW in einem umfassenden Sinn verwendet. Als medizinische Fachpersonen gelten alle Personen, die ärztliche, pflegerische, therapeutische oder pharmazeutische Aufgaben übernehmen, sei es im Zusammenhang mit der Behandlung und Betreuung von Patientinnen und Pa­tienten, in der spezifischen Aus-, Weiter- und Fortbildung oder in der Forschung und Experten­tätigkeit. Die vorliegend verwendete Definition unterscheidet sich beispielsweise von jener im Bundes­gesetz über die universitären Medizinalberufe vom 23. Juni 2006.

Was das konkret bedeutet

Es ist unerlässlich, bei einer Zusammenarbeit mit der Industrie mögliche Interessenkonflikte zu erkennen und mit diesen transparent und proaktiv umzugehen. Grundsätzlich sollen Interessenkonflikte wenn immer möglich vermieden werden. Die Richtlinien halten beispielsweise fest, dass Geschenke in einer professionellen Beziehung nicht angebracht sind, und bezeichnen einen Grenzwert für sogenannte Vorteile von bescheidenem Wert (z.B. Ausbildungsmaterialien, Arzneimittelmuster).
Wie bereits in der Fassung von 2013 halten die Richt­linien konkrete Prinzipien fest, die handlungsleitend für den Umgang mit Interessenkonflikten sind:
– Transparenzprinzip: Interessenbindungen und damit verbundene mögliche Interessenkonflikte sind offenzulegen. Geldwerte Leistungen oder Vorteile müssen offengelegt werden, und der Umfang der erhaltenen Leistungen sollte öffentlich zugänglich sein.
– Trennungspflicht: Medizinisches Handeln muss den Patientinnen und Patienten gegenüber unbeeinflusst sein von versprochenen oder erhaltenen Leistungen oder Vorteilen. Die entsprechenden Vorgänge und Abläufe sind klar voneinander zu trennen.
– Äquivalenzprinzip: Damit keine Anreize geschaffen werden, die Interessenkonflikte überhaupt entstehen lassen, müssen Leistungen und Gegenleistungen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Geschenke sind in einer professionellen Beziehung nicht angebracht.
– Vier-Augen-Prinzip: Weitreichende Entscheidungen sollten nicht von einer Person allein getroffen werden, insbesondere wenn diese von einem möglichen Interessenkonflikt betroffen ist. Ziel ist es, das Risiko von Missbräuchen zu reduzieren. Alle Verträge über finanzielle Transaktionen mit der Indus­trie werden von zwei Personen pro Institution unterzeichnet.
– Dokumentationsprinzip: Abmachungen sind vertraglich festzuhalten, so dass nachvollziehbar ist, welche Leistungen konkret erbracht und wie sie abgegolten werden. Betreffen die Vereinbarungen Mitarbeitende von Gesundheitsorganisationen, so sind sie von deren Vorgesetzten zu genehmigen.
– Kontentrennungsprinzip: Sämtliche Unterstützungsbeiträge an Forschung, Lehre sowie Aus-, Weiter- und Fortbildungen werden aus Gründen der Transparenz auf ein separates Konto verbucht und ordentlich revidiert.
– Prinzip der Aussenwahrnehmung: Um Interessenkonflikte möglichst erkennen zu können, ist selbstkritische Reflexion über Abhängigkeiten und Eigeninteressen unerlässlich. Bei der Abschätzung, ob im Einzelfall ein Interessenkonflikt vorliegen könnte, ist stets die Sicht von Aussenstehenden mit einzubeziehen und in der eigenen Abwägung zu berücksichtigen.

Wichtigste Neuerungen auf einen Blick

Nachfolgend werden die wesentlichen Änderungen kurz vorgestellt.

Weiter- und Fortbildung

Die Richtlinien fordern, dass das heutige System der Finanzierung der Weiter- und Fortbildung längerfristig durch neue Finanzierungsmodelle abgelöst wird, die die Risiken für Interessenkonflikte senken. Sie weisen darauf hin, dass Budget und Rechnung gegenüber der Industrie auf Anfrage offengelegt und allfällige Überschüsse zweckgebunden verwendet werden müssen. Auf von der Industrie unterstützte Rahmenprogramme muss verzichtet werden. Vertiefter als in den bisherigen Richtlinien wird die Basis-Ausbildung thematisiert (inkl. Stiftungsprofessuren).
Neu behandeln die Richtlinien zudem Anwendungsschulungen, virtuelle Veranstaltungen, den Verkauf von (virtuellen) Werbeflächen und die Vermietung von Stand­flächen.

Forschung und Entwicklung

Im Bereich der Forschung sind heute viele Aspekte, die in den bisherigen Richtlinien geregelt wurden, durch das Humanforschungsgesetz und dessen Ausführungsverordnungen abgedeckt. Die revidierten Richtlinien verweisen auf diese Regelungen. Als neues Thema behandeln sie Forschungspartnerschaften, Start-ups und Spin-offs sowie Lizenzvereinbarungen und thematisieren mögliche Interessenkonflikte bei der Entwicklung und Erprobung neuer Medizinprodukte oder Verfahren. Dazu halten sie fest, dass eine intellektuell beteiligte und/oder finanziell interessierte Person oder Gruppe zwar an der Erarbeitung der Indikations- und Kontraindikationskriterien mitwirken kann. Es muss jedoch ausgeschlossen sein, dass sie bei der Indikationsstellung zum Einsatz des Produkts oder Verfahrens bei einer Patientin bzw. einem Patienten beteiligt ist.

Medizinische Dienstleistung

Für dieses Thema wurden die Richtlinien um ein neues Kapitel ergänzt. Es erfasst Tätigkeiten, in denen medizinische Fachpersonen ihre Expertise zur Verfügung stellen, sei dies in der Behandlung von Patientinnen und Patienten, bei der Ausarbeitung von fachlichen Leitlinien, aber auch bei der fachlichen Mitarbeit in Beratungsgremien. Die Richtlinien zeigen auf, wie sichergestellt werden kann, dass Behandlungsentschei­dungen, insbesondere auch die Verordnung von Arzneimitteln, stets nach den anerkannten medizinischen (und pharmazeutischen) wissenschaftlichen Standards erfolgen.

Geltungsbereich

Je länger, je mehr stehen auch andere medizinische Berufsgruppen im Fokus für eine Zusammenarbeit mit der Industrie. Die revidierten Richtlinien wenden sich deshalb an alle medizinischen Fachpersonen, die Arzneimittel und Medizinprodukte verschreiben, anwenden, abgeben oder einkaufen, und an die Personen in Verantwortungsfunktionen, die diese beschäftigen. Unter den Begriff «Industrie» fallen neu auch die Medizintechnik- und IT-Industrie und kommerzielle me­dizinische Laboratorien.
Die Richtlinien stehen in Ergänzung zum verbind­lichen Gesetzesrecht und zu den Branchen- und Verbandsregelungen. Sie geben Leitlinien, bieten aber keine für alle Einzelfälle direkt anwendbaren Lösungen an. Sie sind in der Praxis von allen Beteiligten im Sinne ihres Geistes nach bestem Wissen und Gewissen an­zuwenden und einzuhalten.

Das Wichtigste in Kürze

• Die SAMW hat die Richtlinien «Empfehlungen zur Zusammenarbeit Ärzteschaft–Industrie» von 2013 überarbeitet und aktualisiert.
• Die Neuerungen betreffen den Geltungsbereich für die medizinischen Berufsgruppen, die Weiter- und Fortbildung, die Forschung und Entwicklung sowie die medizinischen Dienstleistungen.
• Die Richtlinien stehen vom 29. November 2021 bis zum 25. Februar 2022 in der öffentlichen Vernehmlassung.

Öffentliche Vernehmlassung

Der Richtlinienentwurf steht vom 29. November 2021 bis zum 25. Februar 2022 in der öffentlichen Vernehmlassung. Weitere Informationen dazu finden Sie unter: samw.ch/vernehmlassung-aerzteschaft-industrie
Mitglieder der Subkommission
Prof. Dr. med. Daniel Scheidegger, Arlesheim, Vizepräsident SAMW (Vorsitz); Dr. med. Werner Bauer, Küsnacht, Ärztliche Fort- und Weiterbildung (SIWF); Jörg Baumann, Bern, Swiss Medtech (bis Februar 2021); PD Dr. med. Peter Berchtold, Bern, Schweizerische Patienten­organisation (SPO) (ab Juni 2021); Prof. Dr. med. Thierry Buclin, Lausanne, klinische Pharmakologie; Prof. Dr. med. Sophie de Seigneux, Genève, Nephrologie; Susanne Gedamke, M.A., Zürich, Schweize­rische Patientenorganisation (SPO) (bis Mai 2021); Prof. Dr. med. ­Michele Genoni, Zürich, FMCH; lic. iur. RA Jürg Granwehr, Zürich, scienceindustries; Katja Grünenfelder, Zürich, Swiss Medtech (ab März 2021); Prof. Dr. med. Dr. phil. Paul Hoff, Zollikon, Präsident ZEK (ab Juni 2021); Dr. med. Christian Rohrmann, Oensingen, Hausarztmedizin; lic. iur. Michelle Salathé, MAE (wissenschaftliche Begleitung), ­Basel; Dr. phil. David Shaw, Basel, Ethik; lic. iur. Stéphanie Studer Scherl, Genève, Recht; Prof. Dr. pharm. Ursula von Mandach, Zürich, Perinatale Pharmakologie, SAPP und SAPhW; Yvonne Willems Cavalli, MsC, Bellinzona, Schweizerischer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK).
SAMW
Laupenstrasse 7
CH-3001 Bern
ethics[at]samw.ch