Weiterentwicklung der Invalidenversicherung (WEIV)

Was neu für sozialversicherungsrechtliche Gutachten gilt

FMH
Ausgabe
2021/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.20428
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(5152):1709-1712

Affiliations
a Dr. iur., Datenschutzberater der FMH; b Dr. iur., Rechtsdienst der FMH; c Dr. rer. nat., Stv. Abteilungsleiterin Digitalisierung/eHealth FMH; d Dr. rer. biol. hum., Abteilungsleiter Digitalisierung/eHealth FMH; e Dr. med. M.H.A., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Präsident Swiss Insurance Medicine, Praxisin, 8008 Zürich

Publiziert am 21.12.2021

Die Gesetzesrevision «Weiterentwicklung der Invalidenversicherung» (WEIV) [1] tritt am 1. Januar 2022 in Kraft. Im Zentrum stehen dabei Qualitätssicherung, Qualitätssteigerung und Transparenz in der medizinischen Begutachtung. Dieser Beitrag stellt insbesondere die wichtigsten Neuerungen der WEIV zu den Tonaufnahmen vor.
Die Verordnung über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSV) [2], welche Anfang 2022 im Rahmen der «Weiterentwicklung der Invalidenversicherung» (WEIV) in Kraft tritt, enthält neue inhaltliche Vorgaben für medizinische Gutachterinnen und Gutachter. Diese Vorschriften gelten nur für sozialversicherungsrechtliche Gutachten (der Invalidenversicherung, der Unfallversicherung und der Militärversicherung), aber nicht für Gutachten aus dem Gebiet des Privatrechts wie zum Beispiel Haftpflichtgutachten/Arzthaftungsgutachten und der beruflichen Vorsorge. Insbesondere die neu vorgesehenen Tonaufnahmen zeichnen sich als hochkomplexe Materie aus. Die Verantwortung für die lege artis durchgeführte Tonaufnahme liegt bei den einzelnen Gutachterinnen und Gutachtern.
Nach der einleitenden Vorstellung wesentlicher Neuerungen durch die WEIV setzt sich dieser Beitrag spezifisch mit dem Thema Tonaufnahmen auseinander. Aufgrund der Vorgaben durch die Verordnung, der zeitlichen Dringlichkeit und der hohen Komplexität der Materie, insbesondere was die technischen und datenschutzrechtlichen Anforderungen betrifft, lassen sich im Moment noch nicht alle offenen Fragen beantworten. Die weiteren problematischen Aspekte wird ein späterer Artikel in der Schweizerischen Ärztezeitung aufgreifen.
Die «Weiterentwicklung der Invalidenversicherung» (WEIV) enthält neue inhaltliche Vorgaben für medizinische Gutachterinnen und Gutachter.

Wesentliche Neuerungen

Neu wird z.B. für Neurenten in der Invalidenversicherung ein stufenloses System eingeführt. Weiterhin bleibt aber ab einem IV-Grad von 70 Prozent eine ganze Rente zugesprochen. Mit der WEIV werden neu klare Kriterien im Gesetz vorgegeben, ob ein Leiden als Geburtsgebrechen gilt oder nicht und hiermit die Invalidenversicherung diese Behandlungskosten übernimmt.
Bei der Vergabe von Gutachtensaufträgen einigen sich die Versicherung und die versicherte Person, wenn immer möglich einvernehmlich auf einen Auftragnehmer. Was heute schon für die polydisziplinären Begutachtungen gilt, wird nun auch bei den bidisziplinären Gutachten eingeführt: Neu werden sie nach dem Zufallsprinzip vergeben, und dies nur noch an Zweierteams oder zugelassene Gutachterstellen. Das heisst, dass zukünftig auch die Vergabe von bidisziplinären Gutachten über eine digitale Plattform nach dem Zufallsprinzip erfolgt. Damit soll die Unabhängigkeit im Auswahlverfahren gewährleistet werden.
Des Weiteren sieht die WEIV für Invalidenversicherung vor, dass die IV-Stellen eine öffentlich zugängliche Liste mit Angaben zu den von ihnen beauftragten Sachverständigen führen. Die IV-Stellen müssen Listen mit folgenden Angaben über die Sachverständigen veröffentlichen: Anzahl der getätigten Gutachten, die entsprechenden Vergütungen, die attestierten Arbeitsunfähigkeiten in den Gutachten sowie die Verlässlichkeit der Gutachten im Rahmen von Gerichtsentscheiden.

Qualitätssicherung

Medizinische Sachverständige, die für die Sozialversicherungen medizinische Gutachten erstellen, müssen per 1.1.2022 die in der Verordnung ATSV vorgesehenen fachlichen Anforderungen erfüllen. Sie sollen in ihrem Fachgebiet über die fachlichen Qualifikationen verfügen, die sie auch als Fachärztinnen und Fachärzte für die selbständige Berufsausübung als Ärztin oder Arzt benötigen, wobei ein eidgenössischer Facharzttitel vorausgesetzt wird. Sie müssen ferner über eine kantonale Berufsausübungsbewilligung und über mindestens fünf Jahre klinische Erfahrung verfügen.
Zudem müssen Fachärztinnen und Fachärzte, die in den Gutachtensdisziplinen Innere Medizin, Psychia­trie und Psychotherapie, Neurologie, Rheumatologie sowie orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates tätig sind, über das Zertifikat der Swiss Insurance Medicine (SIM) verfügen. Ausgenommen sind Chefärztinnen und Chefärzte sowie leitende Ärztinnen und Ärzte in Universitätskliniken. Es gilt eine Übergangsfrist von 5 Jahren, für diejenigen Fachärztinnen und Fachärzte, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Bestimmung noch nicht im Besitz des SIM-Zertifikats sind.
In Art. 7 m Abs. 4 der ATSV ist vorgesehen, dass mit der Einwilligung der versicherten Person von einzelnen Anforderungen abgesehen werden kann, sofern dies sachlich notwendig ist. Zusätzlich wurde die Grundlage für eine unabhängige ausserparlamentarische Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung geschaffen.

Tonaufnahmen

Ein weiterer inhaltlicher Brennpunkt sind die neuen Vorgaben seitens des Gesetzgebers zu den Tonaufnahmen in der medizinischen Begutachtung. Artikel 44 Abs. 6 ATSG sieht in genereller Form vor, dass die «Interviews» zwischen der versicherten Person und den Sachverständigen in einer Tonaufnahme festzuhalten und in den Akten des Versicherungsträgers aufzubewahren sind. Die ATSV konkretisiert diese Vorgabe, ohne aber alle für die Praxis relevanten Fragen zu klären.
Artikel 7 k Abs. 1 ATSV hält fest, dass das «Interview» respektive die Tonaufnahme das gesamte Untersuchungsgespräch zu umfassen hat. Dies beinhaltet die Anamneseerhebung und die Beschwerdeschilderung durch die versicherte Person, nicht jedoch den testpsychologischen Begutachtungsteil bei psychiatrischen, neurolo­gischen und neuropsychologischen Untersuchungen.
Die versicherte Person wird vom Versicherungsträger über die Tonaufnahme informiert. Sie kann vor der Begutachtung oder bis zehn Tage nach dem Interview mittels einer schriftlichen Erklärung den Verzicht auf eine Tonaufnahme respektive deren Vernichtung verlangen. Dieser Verzicht kann vor dem Interview durch die versicherte Person widerrufen werden. Die Gutachterinnen und Gutachter werden hierüber vom Versicherungsträger informiert.
Die Tonaufnahmen dürfen nur während hängiger Verfahren von der versicherten Person, vom Versicherungsträger oder von der Entscheidungsinstanz abgehört werden (Art. 7 l ATSV). Darüber hinaus kann die erwähnte Kommission für Qualitätssicherung in bestimmten Fällen die Tonaufnahmen konsultieren. Nach dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens, für welches das Gutachten in Auftrag gegeben wurde, kann die Tonaufnahme durch den Versicherungsträger mit dem Einverständnis der versicherten Person vernichtet werden.
Die ATSV weist die Gutachterinnen und Gutachter an, die Tonaufnahmen mit einfachen Vorgaben technisch korrekt zu erstellen und in gesicherter elektronischer Form an den Versicherungsträger zu übermitteln. Die Versicherungsträger haben dazu in den Aufträgen ­einheitliche Vorgaben zu machen. Angedacht ist für Gutachten der Invalidenversicherung eine Lösung mit einer App, die sowohl auf Apple- als auch Android-­Smartphones funktionieren soll. Ab Mitte Dezember stehen hierzu auf der Website www.eahv-iv.ch/iva weitere Informationen wie Benutzerhandbuch und -dokumentation oder Schulungsvideos zur Verfügung.
Aus der Sicht der Gutachterinnen und Gutachter gibt es allerdings unabhängig von diesen Einzelheiten ­einige rechtliche Vorgaben zu beachten, die mit entsprechenden organisatorischen und technischen Massnahmen umzusetzen sind.
Tonaufnahmen von Untersuchungsgesprächen gelten nach dem Datenschutzgesetz (DSG) als besonders schützenswert. Die Gutachterinnen und Gutachter ­unterliegen einer allgemeinen Dokumentations- und Aufbewahrungspflicht, die auch die Tonaufnahmen betreffen. Bis zur und mit der Übermittlung, aber auch für die Aufbewahrung im Praxissystem bleiben die Gutachterinnen und Gutachter für den Schutz und die Sicherheit der Aufnahmen verantwortlich.
Des Weiteren ist bei zahlreichen Rahmenbedingungen des Datenschutzes zurzeit nicht klar, wie sie umgesetzt werden, insbesondere auch, wie die Persönlichkeitsrechte der Gutachterinnen und Gutachter oder der Dolmetschenden gewahrt werden. Hier geht es nicht nur darum, dass keine verbindliche Löschung der Tonaufnahmen vorgesehen ist, sondern auch um die Modalitäten des Auskunftsrechts der versicherten Person, die grundsätzlich jederzeit eine Kopie der Aufnahme verlangen kann. Diese Fragen werden mit den Sozialversicherungsträgern so rasch wie möglich zu klären sein.

FAQ von Gutachterinnen und Gutachtern

Welche Möglichkeiten habe ich, um eine Tonaufnahme zu erstellen und bei der IV-Stelle einzureichen?
Sie haben zwei Möglichkeiten. Entweder verwenden Sie die durch den Verein eAHV/IV im Auftrag der IV-Stellen-Konferenz (IVSK) zur Verfügung gestellte Mobile-App [3], oder Sie nutzen Ihr eigenes Gerät inkl. Software (z.B. Diktiergerät, Smartphone) und laden die Tonaufnahme auf der Webplattform für die IV-Stellen [3] hoch. Bei beiden Möglichkeiten sind eine Registrierung, die Freigabe durch die verantwortliche IV-Stelle und ein Login notwendig. Für alle Funktionen in der Mobile-App von eAHV/IV und der Webplattform für die IV-Stellen, die das Anhören von Tonaufnahmen oder das Anzeigen von Personendaten ermöglichen, ist die Authentisierung mittels eines zweiten Faktors notwendig. Dieser Faktor wird während des Login-Prozesses als SMS versendet.
Was muss ich beachten, wenn ich mein privates Gerät inkl. Software (z.B. Diktiergerät, Smartphone) für die Tonaufnahme verwenden möchte?
Wenn Sie einen direkten Auftrag der IV-Stelle für ein Gutachten erhalten haben, können Sie Ihr eigenes Gerät inkl. Software für die Tonaufnahme verwenden. Hierbei müssen technische und organisatorische Massnahmen getroffen werden. Insbesondere sind die Empfehlungen der FMH zur Verwendung von privaten Endgeräten (z.B. Smartphone) zu beachten («Minimalanforderungen IT-Grundschutz für Praxisärztinnen und Praxisärzte» [4]). Bitte achten Sie darauf, dass der Zugriffsschutz auf das verwendete Endgerät gewährleistet ist, weil ggf. die Speicherung der Anmeldedaten auf der verwendeten Software (z.B. App) möglich sein kann. Zudem müssen nach der Ausserbetriebnahme und vor der Entsorgung die lokal gespeicherten Tonaufnahmen vom verwendeten Endgerät vollständig und unwiderruflich gelöscht werden.
Was muss ich bei der Übermittlung der Tonaufnahme an die IV-Stelle beachten, wenn ich mein eigenes Gerät inkl. Software verwende?
Die Tonaufnahme kann in den Formaten aac, mp3, dss auf der Webplattform der IV-Stellen [3] hochgeladen werden. Dabei ist zu beachten, dass Gutachterinnen und Gutachter bis zum Zeitpunkt der erfolgreichen Übermittlung an die IV-Stelle für die Sicherheit und den Schutz der Tonaufnahme verantwortlich sind. Im Gegensatz zur Mobile-App-Lösung von eAHV/IV ver­fügen Gutachterinnen und Gutachter in diesem Falle auch über eine physische Audiodatei der Tonaufnahme (z.B. Dokumentations- und Aufbewahrungspflicht [s. Abschnitt Tonaufnahmen]).
Kann mir die IV-Stelle vorschreiben, wie ich die ­Tonaufnahme zu erstellen habe?
Die Gutachterinnen und Gutachter sind bei direkten Aufträgen von der IV frei, die für sie passende Lösung zu wählen. Erfolgt ein Auftrag von der Gutachterstelle, dann gibt diese vor, wie die Tonaufnahmen zu erstellen und zu bearbeiten sind.
Was muss ich beachten, wenn ich die Mobile-App [3] von eAHV/IV verwende?
Für das Funktionieren der Mobile-App von eAHV/IV ist auf dem dafür verwendeten Gerät eine iOS-Version ab 14 oder Android-Version ab 8 notwendig. Mit Hilfe dieser Mobile-App kann die Tonaufnahme erstellt, angehört und an die IV-Stelle übermittelt werden. Das Hochladen der Audiodatei auf die Webplattform der IV-Stellen [3], d.h. auf den Server von eAHV/IV, erfolgt, sobald eine Internetverbindung besteht. Das bedeutet, dass so bald wie möglich die physische Audiodatei vom Gerät entfernt wird, um Datenverlust oder -diebstahl zu vermeiden. Die Gutachterin oder der Gutachter hat bis zum Einreichen die alleinige Kontrolle und Zugang zur Tonaufnahme. Nach dem Einreichen haben die Gutachterinnen und Gutachter noch 90 Tage Zugriff auf die Tonaufnahme, um eventuelle Nachfragen der IV-Stelle zu beantworten. In den gesetzlich vorgesehenen Fällen können berechtigte Personen Zugriff erhalten. Nach dieser Frist wird die Tonaufnahme nur noch durch die IV-Stelle verwaltet. Zu beachten ist, dass die Gutachterinnen und Gutachter einer allgemeinen ­Dokumentations- und Aufbewahrungspflicht unterliegen, die auch die Tonaufnahmen betreffen. Eine Kopie (z.B. Dokumentations- und Aufbewahrungspflicht [s. Abschnitt Tonaufnahmen] der Gutachterin / des Gutachters) der Tonaufnahme kann bei der Nutzung der Mobile-App nicht angefertigt werden, da es zu keinem Zeitpunkt möglich ist, die Audiodatei herunterzuladen. Zurzeit wird abgeklärt, wie mit dieser Lösung (Mobile-App von eAHV/IV) die Dokumentations- und Aufbewahrungspflicht der Gutachterinnen und Gutachter gewährleistet werden kann. Wir werden darüber sobald als möglich informieren. Die Mobile-App erlaubt es, die Anmeldedaten für die App auf dem verwendeten Gerät (z.B. Diktiergerät, Smartphone) zu speichern. Es liegt deshalb in der Verantwortung der Gutach­terin / des Gutachters, darauf zu achten, dass der Zugriffsschutz (z.B. Passwort, Biometrie) auf das verwendete Endgerät gewährleistet ist.
Wie müssen Beginn, Ende und Unterbrechungen auf der Tonaufnahme dokumentiert werden?
Beide, Gutachterin und versicherte Person, müssen den Beginn, das Ende und allfällige Unterbrechungen der Tonaufnahme mit Angabe der Uhrzeit bestätigen.
Kann die versicherte Person eine Kopie der Ton­aufnahme verlangen?
Grundsätzlich ja. Die Persönlichkeitsrechte der Gutachterin / des Gutachters sind zu beachten.
Kann die versicherte Person das Gespräch parallel (z.B. Smartphone) aufnehmen?
Dies ist nur mit ausdrücklicher Zustimmung der Gutachterin oder des Gutachters möglich.

Wichtig zu wissen

• Gilt für alle Begutachtungstermine, die nach dem 1.1.2022 stattfinden.
• Gilt grundsätzlich, ausser die versicherte Person lehnt die Aufnahme ab.
• Gilt für das Interview, unter dem Anamneseerhebung und Beschwerdenerfassung verstanden werden, nicht Untersuchungen und Testungen. Es werden versicherte Person, Gutachter/-in und dolmetschende Person aufgenommen.
• Die Gutachter/-innen sind verpflichtet:
– die Tonaufnahmen zu erstellen, d.h., auch die Tonqualität angemessen sicherzustellen und die Vorgaben zur Datensicherheit einzuhalten;
– die Tonaufnahmen sicher zu speichern und die gesetzlichen Aufbewahrungspflichten einzuhalten;
– die Tonaufnahmen sicher zu übermitteln.
Dr. iur. Iris Herzog-Zwitter
Abteilung Rechtsdienst FMH
Nussbaumstrasse 29
Postfach 300
CH-3000 Bern 15
iris.herzog[at]fmh.ch
2 AS 2021 706 – Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV) (www.fedlex.admin.ch/eli/oc/2021/706/de).
3 www.eahv-iv.ch/de/iva (Stand: 3.12.2021).
4 IT-Grundschutz | FMH (www.fmh.ch/dienstleistungen/e-health/it-grundschutz.cfm) (Stand: 3.12.2021).

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