Ethik-Wissen für Angeber

Zu guter Letzt
Ausgabe
2022/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20602
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(12):410

Affiliations
Prof. Dr., Medizinethik und ärztliche Weiterbildung, Insel Gruppe, Inselspital Bern

Publiziert am 22.03.2022

Der Frühling kommt, die Masken fallen. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden wir bald wieder zu Firmenfeiern, medizinischen Fachtagungen, Kongressen, aber auch zu anderen sozialen Events wie Geburtstags­feiern, Apéros, Vernissagen etc. eingeladen. Aber nach zwei Jahren Pandemie sind wir das ja gar nicht mehr gewöhnt. Kommunikation machen, Menschen direkt ins Gesicht sehen – sehr ungewohnt. Small Talk – wie ging das eigentlich nochmal? Zur Erleichterung möchte ich Ihnen ein paar tolle und ungewöhnliche Ethik-Begriffe vorstellen. Die lassen sich gut im Small Talk verwenden, vielleicht um zu zeigen, wie schlau man ist, vielleicht aber auch um ein ungutes Gespräch schnell zu beenden, denn fast kaum jemand wird mit diesen Begrifflichkeiten wirklich etwas anfangen ­können. Legen wir los: Ethik-­Wissen für Angeber, zur eigenen Anwendung und Austestung in sozialen Kontexten:
1. Implizite Normativität: Eine super Begriffsbildung, wie ich finde. Versteht tendenziell niemand, hat aber einen starken Hauch von Intellektualität und vermeintlicher Selbstreflexion. Kurz zur Erklärung: Normativ bedeutet, dass man eine sehr starke ­Regel vorgibt, z.B.: «Du musst heute Abend um 18 Uhr beim Konferenzdinner dabei sein.» Das implizit bedeutet, dass man die starke Regel in ein anderes neutraleres Gewand kleidet, sozusagen vordergründig abschwächt, z.B.: «Das Konferenzdinner beginnt um 18 Uhr.» Auch bei diesem Satz will man (vielleicht) sagen, dass das Gegenüber um 18 Uhr gefälligst da zu sein hat, aber man sagt es halt im Gewand der impliziten Normativität. Diese wunderbare Begriffsbildung lässt sich im Small Talk auch gut auf die Corona-Pandemie anwenden, z.B.: «Die Corona-Massnahmen waren ja durchtränkt von impliziter Normativität.» Oder: «Die ­implizite Normativität der Impfdebatte hat mich gestört.» Einen starken selbstreflektorischen Touch kann man zustande bringen, wenn man die Begriffsbildung direkt auf sich selbst oder Aspekte des eigenen Lebens bezieht, als Arzt z.B.: «Die implizite Normativität meines weissen Arztkittels scheint meine Patienten zu verunsichern.»
2. Epistemologie, epistemologisch: Dieses Wort ist ­sicherlich mein Lieblingswort. Es ist der Philosophie entliehen und bedeutet, dass man sich auf die Grenzen und Chancen unseres menschlichen Wissens ­bezieht. Man kann es auch mit erkenntnistheoretisch übersetzen. Man denkt also darüber nach, wie verlässlich unsere Erkenntnis ist. Dieses Nachdenken kann sich auf biologische Faktoren beziehen, z.B. können wir ja im Gegensatz zu Fledermäusen Ultraschallwellen weder sehen noch hören. Das Nachdenken über Erkenntnis kann sich aber auch auf unsere soziale Lebenswelt beziehen. Wenn ich z.B. so privilegiert aufgewachsen bin, dass ich noch niemals in meinem ganzen Leben eine Toilette selber putzen musste, dann entziehen sich Toilettenreiniger im Supermarkt ganz sicherlich meiner Erkenntnis. Sie merken schon, es ist ein tolles Wort. Im Small Talk – insbesondere im akademischen Small Talk – ist es ­eigentlich in jedem Satz als Verstärkung der eigenen Meinung einsetzbar, z.B.: «Das Thema Ihres Vortrages hat mich epistemologisch immer schon fasziniert.» Vorsicht nur, das Wort ist ein echter Zungenbrecher. Bevor mal es verwendet, sollte man es ein paar Mal für sich selbst laut aufsagen, sonst verhaspelt man sich vielleicht in der Erstanwendung.
3. Tugendethik, tugendethisch: In der Verwendung des Wortes zeigt sich jetzt das ganz grosse Ethik-Wissen. Die Tugendethik ist die Ethik-Lehre des Aristoteles. Ihm ging es darum – und das ist nicht in einem Satz leicht zu erklären –, dass Menschen nur glücklich werden können, wenn sie ein tugendhaftes Leben führen. Tugendethik ist meiner Meinung nach deshalb so ein schöner Begriff, weil eine gewisse Romantik im Wortteil der Tugend mitschwingt, z.B.: «Aus ­tugendethischer Sicht würden wir auf das Fleisch bei unserer Firmenfeier heute besser verzichten.»
Alles in allem sind das ja nur Vorschläge für Sie, dabei augenzwinkernd die Geisteswissenschaften auf den Arm nehmend. Aber die ganz Verwegenen unter Ihnen können je nach Anlass und Stimmung ja sogar die drei Begrifflichkeiten auch mal ganz frech kombinieren, z.B.: «Epistemologisch steckt in der Tugendethik viel implizite Normativität.» Viel Erfolg dabei.
Der vorliegende ironische Text wurde geschrieben, als noch nicht klar war, dass sich jede aktuelle Unterhaltung im Moment wahrscheinlich am ehesten auf die schwierige Situation in der Ukraine beziehen wird.
rouven.porz[at]insel.ch