Erste Erfahrungen mit ST Reha 1.0 im Klinikalltag

«Der Tarif darf nicht die Rehabilitation definieren»

FMH
Ausgabe
2022/19
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20720
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(19):620-622

Affiliations
Dr. phil., Experte, Abteilung Stationäre Versorgung und Tarife, FMH

Publiziert am 10.05.2022

Nach SwissDRG und TARPSY kommt seit Beginn dieses Jahres mit ST Reha 1.0 auch in der stationären Rehabilitation ein schweizweit einheitliches, leistungsbezogenes Tarifsystem zur Anwendung. Rolf Stebler und Hansueli Tschanz, langjährige Mitglieder der FMH-Begleitgruppe ST Reha, berichten über die Herausforderungen, die mit der Einführung der neuen Tarifstruktur im klinischen Alltag einhergehen.
Herr Tschanz, Herr Stebler, welche Aspekte möchten Sie im Zusammenhang mit der Einführung von ST Reha 1.0 in Ihrer Klinik spontan hervorheben?
Hansueli Tschanz: Positiv ist, dass sich die Vorbereitungen weitgehend bewährt haben. Einzelne Fragen in der Anwendung der Basiskodes, insbesondere der dafür notwendigen Basisleistungen, sind noch unklar. Was, wenn ein Patient oder eine Patientin z.B. gewisse «obligatorische» Leistungen nicht will oder nicht sinnvoll absolvieren kann (z.B. Schulungen bei fremd­sprachigen oder schwerhörigen Patienten und Patientinnen)?
Rolf Stebler: Es waren intensive Vorbereitungen nötig, um die Leistungserfassung zu optimieren. Dies be­inhaltete beispielsweise die Einführung der neuen Therapieplanung mit entsprechender Software-Unterstützung. Zudem erfolgte eine Anpassung des Austrittsberichts, um die Kodierung der erbrachten Leistungen zu erleichtern. Alles in allem hatten wir einen guten Start, auch wenn der administrative Aufwand insbesondere für die Kaderärzte erhöht war. Ein wichtiger Problemkreis betrifft nach wie vor die Unsicherheit bezüglich der Anrechenbarkeit von gewissen Leistungen bei den BA-CHOP-Kodes (siehe Box).
Wie sind die Reaktionen der Ärztinnen und Ärzte, Therapeutinnen und Therapeuten sowie der Pflegenden? Wie waren Sie selbst betroffen?
Tschanz: In unserem Haus beklagen viele Mitarbeitende den grösseren Aufwand bei der Dokumentation, teilweise auch das nicht patientenfreundliche Anpassen des Rehabilitationsprogramms aufgrund der Tarifvorgaben. Beispielsweise kann das Medizincontrolling nicht nachvollziehen, wie im entsprechenden BA-CHOP-Kode für internistische Reha-Patienten die Auswahl der Therapien zustande kam, die als obligatorisch ­deklariert sind. Hier gibt es einen gewissen Klärungs- und Nachbesserungsbedarf.
Stebler: In unserer Klinik sind die Reaktionen gut. Ich kann mir aber vorstellen, dass für kleinere Kliniken die Umsetzung von ST Reha schwieriger ist. Der Ausbau bei der Kodierung und im Medizincontrolling hat mich stark in Beschlag genommen. Als ärztlicher Leiter stehe ich an der Schnittstelle zwischen Kodierung und medizinischem Alltag. Dies bedeutet einen gros­sen Zeitaufwand, fördert aber eine geeignete Umsetzung der Vorgaben.
Was sind die wichtigsten Herausforderungen, denen Sie im Hinblick auf die Dokumentation und die Kodierung der erbrachten Leistungen bisher begegnet sind?
Stebler: In erster Linie ist dies die bereits erwähnte ­Anpassung des Austrittsberichts, der so verfasst sein muss, dass er sowohl für die Kodierung als auch den nachbehandelnden Arzt verständlich ist. Auch die ­bestehende Unsicherheit bei der Anrechenbarkeit von Therapieleistungen an die in den BA-CHOP-Kodes de­finierten Mindestminuten ist hier zu nennen.
Tschanz: Die Leistungserfassung wurde bei uns bereits im Vorfeld verbessert. Das Controlling ist aufwendig. So müssen von allen Diensten Listen abgearbeitet werden mit nicht korrekt erfassten Assessment-Scores oder Leistungen. Ausserdem besteht für unser Medizincontrolling eine grosse Schwierigkeit darin, dass viele Anforderungen zwar umrissen, aber nicht ausreichend definiert sind. Bei der konkreten Umsetzung dieser Anforderungen werden Graubereiche offenbar, welche der Interpretation bedürfen. Der Kodierung fällt dann mit dem Entscheid zur Setzung eines BA-CHOP-Kodes die Verantwortung zu, über diese Unschärfen ein Urteil zu fällen. Diese Unschärfen bergen Potenzial für Konflikte zwischen Leistungserbringern und Kostenträgern im Rahmen von Abrechnungsüberprüfungen.
In der stationären Rehabilitation gibt es ein neues Tarifsystem.
Haben sich die Prozesse mit ST Reha verbessert oder verkompliziert?
Stebler: Verkompliziert. Die Therapieminuten müssen erfüllt werden, der Raum für individuelle Anpassungen des Therapieprogramms an den Patienten oder die Patientin wird eingeschränkt.
Tschanz: Durch die neu geschaffenen Strukturen und einheitlichen Definitionen bietet es sich an, etliche Prozesse zu überdenken. Die Behandlungspfade der Patienten und Patientinnen sind besser kontrollierbar. Andererseits sind individuelle Anpassungen schwie­riger.
Erfolgten die bisherigen Kostengutsprachen unter ST Reha unabhängig von der Rehabilitationsart, und wie gestaltet sich die Rechnungsstellung?
Tschanz: Eine von der Rehabilitationsart unabhängige Kostengutsprache war bisher eher die Ausnahme. Es wäre aber wichtig, dass die Kostengutsprache, wie bereits im Vorfeld von der Ärzteschaft gefordert, nicht mehr organspezifisch ausgestellt wird, um so allfälligen Unstimmigkeiten bei der Leistungsabrechnung mit den Kostenträgern vorzubeugen.
Stebler: Die Kostengutsprachen erfolgen nach wie vor grösstenteils nach Rehabilitationsart. Bei einigen Kliniken erweisen sich unspezifische und insbesondere unkoordinierte Rückfragen zum gleichen Patienten als aufwendig.
Welche Sorgen bereitet der Tarif im Hinblick auf Patientengruppen, deren Rehabilitation womöglich nicht leistungsgerecht vergütet wird?
Stebler: Patienten und Patientinnen mit einem hohen Pflegeaufwand oder einer Zustandsverschlechterung machen uns diesbezüglich Sorgen. Deshalb war es wichtig, dass für die Zukunft zwischen den Leistungserbringern eine Einigung gefunden werden konnte hinsichtlich der Abbildung solcher Fälle. Dies soll nun über eine beim Bundesamt für Statistik beantragte Dreiteilung der bestehenden BA-CHOP-Kodes erreicht werden. Diese Dreiteilung bildet zudem die Basis für die Abschaffung der behelfsmässigen und leistungs­unabhängigen Analogiekodierung und setzt somit ein zentrales ärztliches Anliegen um.
Tschanz: Es ist noch zu früh, das zu beurteilen. Je nach Rehabilitationsbereich dürften jedoch Patienten mit geringer Leistungsfähigkeit und hohem Pflegebedarf eher schlecht abgebildet sein. Diese Gruppe gilt es im Auge zu behalten. Ob sie mit den neuen pflegeorientierten Rehabilitationskodes besser abgebildet werden, wird sich zeigen.
Wo sehen Sie mit Blick auf den klinischen Alltag und die Weiterentwicklung von ST Reha den dringendsten Handlungsbedarf?
Tschanz: Es muss eine Lösung gefunden werden für Patienten und Patientinnen, die ein Standardprogramm nicht erfüllen können. Die erwähnte Dreiteilung der BA-CHOP-Kodes ist ein erster Schritt in diese Richtung. Zudem muss gut geprüft werden, ob die Staffelung nach Therapieminuten wirklich zu einer bes­seren Rehabilitation bzw. besseren Abgeltung einer aufwendigen Rehabilitation führt oder ob es zu Fehlanreizen kommt. Ein solcher Fehlanreiz bestünde z.B. bei einer guten Abgeltung für die Behandlung von gut leistungsfähigen, selbständigen Patienten einerseits und einer schlechten Abgeltung für schwache, ­betreuungsbedürftige Patienten andererseits.
Stebler: Aus meiner Sicht ist eine möglichst einfache Abbildung des patientenspezifischen Zusatzaufwands zentral. Es sind diesbezüglich bereits Bestrebungen im Gange, den bestehenden BB.1-CHOP-Kode, der den ­Zusatzaufwand in der Rehabilitation abbildet, anzupassen.

Zu den Personen

Dr. med. Rolf Stebler (Facharzt für Physikalische Medizin und Rehabilitation und Facharzt für Rheumatologie) ist ärztlicher Leiter und Chefarzt Muskuloskelettal, Klinik Adelheid, Unterägeri. Er ist aktives Mitglied der FMH-Begleitgruppe ST Reha und des FMH-Ausschusses ST Reha. Zudem ist er Vorstandsmitglied bei Swiss Reha.
Dr. med. Hansueli Tschanz (Facharzt für Allgemeine Innere Medizin und Facharzt für Kardiologie) ist Chefarzt Kardiovaskuläre Rehabilitation, Berner Reha Zentrum, Heiligenschwendi. Er vertritt die Schweizerische Gesellschaft für Kardiologie in der FMH-Begleitgruppe ST Reha und engagiert sich im FMH-Ausschuss ST Reha. Zudem hat er die Anliegen der FMH im Beratenden Ausschuss der SwissDRG AG zu ST Reha vertreten.
Was ist Ihr Zwischenfazit? Wird ST Reha die Reha­bilitation verändern, und welche Hoffnungen und Befürchtungen haben Sie im Zusammenhang mit deren Weiterentwicklung?
Stebler: Grundsätzlich ist die Rehabilitation in quali­tativ hochstehenden Kliniken gut definiert, und es bestehen bewährte Strukturen und Prozesse. Der Tarif soll dies abbilden und nicht umgekehrt der Tarif die Rehabilitation definieren. Der aktuelle Tarif basiert jedoch auf unvollständig erfassten Leistungs- und Kostendaten aus dem Jahr 2019 und ist ungenügend ausgereift. So können gegenwärtig über die Analogiekodierung auch ohne Erreichen der in den BA-CHOP-Kodes definierten Minimalanforderungen (z.B. Mindestminuten in der Therapie) recht hohe Vergütungen abgerechnet werden. Dies widerspricht dem Ziel einer leistungs­gerechten Vergütung. Die Fachgesellschaften haben in der Ver­gangenheit zusammen mit der Abteilung Sta­tionäre Versorgung und Tarife der FMH die Entwicklung der leistungsbezogenen CHOP-Kodes für die Rehabilitation vorangetrieben. Sie haben auch frühzeitig auf Schwächen bei der Einführungsversion von ST Reha aufmerksam gemacht und sich tatkräftig und ­erfolgreich für entsprechende Anpassungen eingesetzt. Dieses wachsame Auge und Engagement braucht es auch in Zukunft.
Tschanz: Ich hoffe, dass die Entwicklung in Richtung faire und aufwandgerechte Abgeltung für qualitativ gute und patientengerechte Rehabilitation weitergeht. Hierbei spielt die von der FMH von Beginn an ge­forderte Abschaffung der Analogiekodierung eine zen­trale Rolle. Die Diskussionen im Zusammenhang mit der Entwicklung von ST Reha haben zudem die Notwendigkeit einer Klärung des Rehabilitationsbegriffes auf nationaler Ebene verdeutlicht. Problematisch erscheint mir die Tendenz, dass der Tarif die Rehabili­tation vorgibt und schematischen Pfadbehandlungen Vorschub leistet. Dadurch geraten die individuellen ­Patientenbedürfnisse aus dem Blickfeld, und es wird die ärztliche Behandlungsfreiheit eingeschränkt. Auch sehe ich die Gefahr des Anreizes zu einer verstärkten Patientenselektion, wenn die Rehabilitation gewisser Patientengruppen nicht leistungsgerecht vergütet wird und der Kostendruck steigt.

Reha-spezifische CHOP-Kodes und «Analogiekodierung»

Für die Tarifentwicklung war die vorgängige Beschreibung und Kodierung der in der stationären Rehabilitation erbrachten Leistungen notwendig. Die FMH und die ihr angeschlossenen Fachgesellschaften waren massgeblich an der Erarbeitung diesbezüglicher CHOP-Kodes beteiligt [1]. Der BA.1-Kode beschreibt beispielsweise unter anderem die Mindestanforderungen betreffend Therapie und Schulung im Falle der neurologischen Rehabilitation. So sind mindestens 540 Minuten an Therapie und Schulung pro Woche zu erbringen, wobei Physiotherapie obligatorisch ist und weitere Therapieformen in patientenbezogener Kombination zur Anwendung kommen. Zusatzleistungen für besonders aufwendige Rehabili­tationsfälle können darüber hinaus als Teil des BB.1-CHOP-­Kodes abgebildet werden. Die Einführungsversion von ST Reha lässt es jedoch zu, dass Fälle auch ohne eine BA-Kodierung einer Rehabilitationskostengruppe zugeteilt werden können. Dies geschieht über die behelfsmässige und befristete «Analogiekodierung». Bestrebungen zur Ablösung der leistungsunabhängigen Analogiekodierung sind im Gange. Eine ausführlichere Beschreibung von ST Reha ist im Artikel der Schweizerischen Ärztezeitung «ST Reha 1.0: Das neue ­Tarifsystem der stationären Rehabilitation» zu finden [2].
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tarife.spital[at]fmh.ch
1 Meyer B. ST Reha: Richtungswechsel in der Tarifstrukturentwicklung. Schweiz Ärzteztg. 2018;99(30–31):966–7.
2 Trezzini B, Meyer B. ST Reha 1.0: Das neue Tarifsystem der statio­nären Rehabilitation. Schweiz Ärzteztg. 2021;102(17):563–6.