«Man hat den Patientinnen nicht genug Gehör geschenkt»

Tribüne
Ausgabe
2022/3132
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20826
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(3132):996-997

Affiliations
Freie Journalistin

Publiziert am 03.08.2022

Jede zehnte Frau ist von Endometriose betroffen. Dennoch ist die Krankheit kaum bekannt und wird von Ärztinnen und Ärzten häufig bagatellisiert. Nicolas Vulliemoz, Chefarzt für Fertilitätsmedizin und gynäkologische Endokrinologie am Waadtländer Universitätsspital (CHUV), gibt Auskunft.
Herr Dr. Vulliemoz, was ist Endometriose?
Es handelt sich bei der Endometriose um eine chronisch-entzündliche Erkrankung, bei der endometrium-­ähnliches Gewebe ausserhalb der Gebärmutterhöhle ­vorkommt. Diese Gewebefragmente adhärieren an die Organe der Beckenhöhle, d.h. Peritoneum, Ovarien, Darm und Harnblase, wachsen weiter und besiedeln sie, so dass sich Gewebeherde bilden. Diese Endometrioseherde reagieren auf die Hormone, die während des weiblichen Monatszyklus gebildet werden. Zum Zeitpunkt der Regelblutung werden sie aktiviert und schmerzen. Sie werden über ein eigenes Blutgefässsystem versorgt und sind mit Nervenendigungen ausgestattet.
Bis vor kurzem wurde über diese Krankheit gar nicht gesprochen. Wie verbreitet ist sie?
Man schätzt, dass zwischen 5 und 10 Prozent der Frauen im reproduktionsfähigen Alter betroffen sind, was etwa 190 Millionen Fällen weltweit entspricht. Diese Zahl ­unterschätzt zweifelsohne die tatsächliche Dimension dieses noch allzu wenig bekannten Gesundheitsproblems. Man weiss auch, dass etwa 50 Prozent der Frauen mit Fruchtbarkeitsproblemen an Endometriose leiden.
Wodurch wird die Krankheit verursacht?
Die gängigste Theorie geht von der retrograden Mens­truation aus, wonach also während der Regelblutung aus dem Endometrium stammende Zellen durch die Eileiter zurück in die Bauchhöhle geschwemmt werden. Bei den meisten Frauen wird dieses biologische Material auf natürliche Weise beseitigt. Man vermutet, dass bei Frauen mit Endometriose diese Reinigungsfunktion aufgrund von Anomalien ihres Immun­systems gestört ist. Genetische Faktoren spielen hier zweifellos eine Rolle, denn es ist bekannt, dass die Krankheit oft familiär gehäuft auftritt.
Wie äussert sich die Krankheit?
Manche Frauen haben auch in fortgeschrittenen Endometriosestadien keinerlei Beschwerden. Die symptomatische Form manifestiert sich mit starken Schmerzen, die entweder nur während der Menstruation oder aber auch während des gesamten Zyklus auftreten können. Die Schmerzen strahlen vom Unterleib ausgehend bisweilen in den Rücken und die Oberschenkel aus und können extrem beeinträchtigend sein. Manche Patientinnen geben eine Schmerzintensität von bis zu 10 von 10 an. Andere beschreiben Schmerzen beim Stuhlgang oder beim Wasserlösen sowie beim Geschlechtsverkehr oder klagen über chronische Müdigkeit.
Woran erkennt man eine Endometriose?
Ein systematisches Screening gibt es nicht. Meistens kommt eine Patientin wegen Schmerzen in die Sprechstunde, und es wird schliesslich mittels Schweregrad­bestimmung anhand einer Skala von 1 bis 4 eine ­Endometriose diagnostiziert. Bis vor kurzem war eine Laparoskopie erforderlich, um einen Herd zu entnehmen und daran zu untersuchen, ob es sich um Gewebe mit endometrialem Ursprung handelt. Das ist ein ­relativ schwerer Eingriff. Dank der Fortschritte in der medizinischen Bildgebung konnte jedoch ein weniger invasives diagnostisches Verfahren entwickelt werden, das sich auf die Anamnese stützt. In Kombination mit den neuen Visualisierungsmöglichkeiten rekonstruieren wir mit der Patientin zusammen ihre Krankheitsgeschichte.
Wie kann den Patientinnen nach der Diagnose­stellung geholfen werden?
Es erfolgt eine symptomatische Behandlung der Schmerzen, und zwar unabhängig vom Grad des Krankheitsfortschritts, da eine Endometriose im ­Stadium 4 nicht unbedingt mit Schmerzen einhergehen muss, während andererseits eine Endometriose im Stadium 1 bereits schmerzhaft sein kann. Zunächst verabreicht man eine Hormontherapie in Form einer Verhütungspille mit Östrogen-Gestagen-Kombination, einer reinen Gestagen-Pille oder einer Hormon­spirale. Damit soll der Menstruationszyklus zum Stillstand gebracht werden, so dass die Endometrioseherde ebenfalls zur Ruhe kommen und, so die Hoffnung, ­atrophieren. In ­einigen Fällen, beispielsweise wenn ein Endometrioseknoten die Harnwege komprimiert oder bei einer verdächtigen Zyste an den Eierstöcken, ist ein laparo­skopischer Eingriff erforderlich. Dieser birgt wie jede Operation Risiken und kann schmerzhaft sein. Ausserdem können Endometrioseherde rezidivieren und so einen weiteren Eingriff erforderlich machen.
Handelt es sich dabei um eine komplizierte Operation?
Wenn es sich um eine Endometriose im Stadium 4 handelt, kann das der Fall sein. Die Operation muss dann an einem Fachzentrum durchgeführt ­werden, das über ein multidisziplinäres Team verfügt, bestehend aus einer Fachperson für Reproduktions­medizin, einer für gynäkologische Chirurgie, einer für Urologie und einer für Radiologie sowie einer Spezialistin oder einem Spezialisten für Kolorektalchirurgie.
Birgt die Endometriose noch andere Risiken?
Sie erhöht erheblich das Risiko von Unfruchtbarkeit – zum einen, weil sie zu einer Verstopfung der Eileiter oder einer Verzerrung der Beckenhöhle führen und ­damit ein mechanisches Hindernis schaffen kann. Zum anderen, weil sie eine Entzündung hervorruft, die sich ungünstig auf die Befruchtung der Eizelle und die Implantation des Embryos auswirken kann. In diesen Fällen kann auf einen laparoskopischen Eingriff oder auf die medizinisch unterstützte Fortpflanzung zurückgegriffen werden. Die Prognose hängt vom Alter der Frau und von ihrer ovariellen Reserve ab; prinzi­piell sind die Erfolgsaussichten jedoch gut.
Was sind die neuesten Entwicklungen bei der Endometriosebehandlung?
Es wurden Versuche mit einem diagnostischen Speicheltest bei Endometriose durchgeführt; dabei handelt es sich allerdings um eine kleine Studie, die noch ­reproduziert werden muss. Ferner werden derzeit neue Wirkstoffe untersucht, die insbesondere an den Schmerzmechanismen ansetzen. Daraus müssen jedoch zuverlässige Therapeutika entwickelt werden, die nebenwirkungsfrei und überdies erschwinglich sind, da die Patientinnen sie über Jahre hinweg einnehmen.
Lange Zeit wurde dieser Krankheit keine Beachtung geschenkt. Warum eigentlich?
Endometriose ist schwer zu diagnostizieren und verläuft nicht tödlich. Daher war das medizinische Interesse daran relativ gering, mit der Folge, dass die Krankheit nach wie vor kaum erforscht ist. Sie gehört zu den chronischen Krankheiten, die traditionell stiefmütterlich behandelt werden, da sie auf keine eindeutige Ursache zurückgehen und es keine spezifische Behandlung dafür gibt. Stattdessen braucht es einen auf Versuch und Irrtum beruhenden Ansatz, der oftmals nicht mit gebührender Konsequenz verfolgt wird.
Ausserdem handelt es sich um eine Frauenkrankheit ...
Ja, das spielt eine Rolle. Beschwerden, die nur Frauen ­betreffen – vor allem, wenn sie mit der Menstruation ­zusammenhängen –, wurden von der Ärzteschaft lange bagatellisiert. Man hat den Patientinnen nicht genug ­Gehör geschenkt und ihre Schmerzen unterschätzt. Zu mir kommen regelmässig Frauen, die jeden Monat vor Schmerzen ohnmächtig wurden und denen gesagt wurde, dass Bauchschmerzen während der Menstruation normal seien. Oder Mütter, die mit ihren Töchtern erscheinen und berichten, dass sie selbst immer unter unbehandelten schmerzhaften Regelblutungen gelitten haben und ihrer Tochter ein ähnliches Schicksal ersparen möchten. Ich hatte eine Patientin, die sich gegen die Schmerzen Wärmflaschen mit kochend heissem Wasser auf den Bauch legte und sich dabei Verbrennungen zufügte.
Hat sich das Bewusstsein für die Krankheit in den letzten Jahren verändert?
In den letzten zehn Jahren ist das Bewusstsein für Endometriose enorm gewachsen. Dazu beigetragen haben die Einrichtung spezifischer Sprechstunden, die Aufnahme dieser Krankheit in die Ausbildung von Medizinerinnen und Medizinern sowie das Wegfallen bestimmter Tabus. Mütter suchen heute vermehrt das Gespräch mit ihren Töchtern – auch über Themen, die man früher eher gemieden hat, wie etwa die Menstruation.
Dr. med. Nicolas Vulliemoz absolvierte seine Ausbildung in Gynäkologie und Geburtshilfe am CHUV und erwarb 2010 den Facharzttitel FMH. Er spezialisierte sich auf Reproduktionsmedizin und gynäkologische Endokrinologie an der Universität Oxford, im Rahmen des offiziellen Ausbildungsprogramms des Royal College of Obstetricians and Gynaecologists, zu dessen Schwerpunkten auch die integrierte medizinisch-chirurgische Behandlung der Endometriose gehört. Im Jahr 2012 absolvierte er erfolgreich die entsprechende Abschlussprüfung in der Schweiz. Seit 2015 ist Nicolas Vulliemoz als verantwortlicher Arzt für Fertilitätsmedizin und gynäkologische Endokrinologie am CHUV tätig, wo er eine multidisziplinäre Endometriose-Sprechstunde zur individuellen Betreuung der Patientinnen ins Leben gerufen hat.
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