«Wir müssen von allen verfügbaren Daten lernen»

Tribüne
Ausgabe
2022/2728
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20901
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(2728):920-921

Affiliations
Stellvertretende Chefredaktorin der Schweizerischen Ärztezeitung

Publiziert am 05.07.2022

Komplikationen bei Operationen werden bisher nicht systematisch erfasst – weder in der Schweiz noch international. Das soll sich ändern. Wie das gelingen könnte, war Inhalt der Konsensuskonferenz Outcome4Medicine in Zürich. Die Organisatoren Pierre-Alain Clavien und Milo Puhan erklären im Interview, weshalb Schweizer Chirurginnen und Chirurgen von internationalen Standards profitieren können.
Pierre-Alain Clavien, regelmässig kommt es nach Opera­tionen zu Komplikationen. Machen Chirurginnen und Chirurgen zu viele Fehler?
Clavien: Ich würde nicht von Fehlern sprechen, wenn es um postoperative Komplikationen geht. Ich denke, dass jede Chirurgin und jeder Chirurg das Beste gibt, um Komplikationen zu verhindern. Leider kann dies aber nicht zu 100 % vermieden werden. Wichtig ist zu erkennen, wann und wieso diese Fehler passieren, damit daraus gelernt werden kann. Nicht zuletzt, weil es weltweit enorm hohe Gesundheitskosten generiert, wenn ein Patient oder eine Patientin unter Komplikationen leidet.
Milo Puhan, im Juni fand in Zürich die Konsensuskonferenz Outcome4Medicine statt, die Sie gemeinsam mit Prof. Clavien organisiert haben. Das Ziel war, internationale Standards zur Messung und Verbesserung von Operationsergebnissen zu definieren. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse der Konferenz?
Puhan: Die Empfehlungen werden noch bearbeitet und erst in ein paar Monaten publiziert. Aber so viel kann ich sagen: Es wurde bei der Konferenz deutlich, dass man Komplikationen von unterschiedlichen Perspektiven systematisch erfassen und interpretieren muss, um die Qualität der Versorgung und die Lebensqualität von Patienten langfristig zu verbessern.
Können Sie das präzisieren?
Puhan: Es bestand ein klar erkennbarer Konsens darüber, dass man neben medizinischen Aspekten auch ethische, finanzielle und gesellschaftliche Aspekte berücksichtigen muss. Diese ganzheitliche Sicht hat uns gefreut.
Milo Puhan ist Professor für Epidemiologie und Public Health am ­Institut für Epidemiologie, ­Biostatistik und Prävention der Universität Zürich.
Prof. Dr. med. Pierre-Alain Clavien ist Direktor der Klinik für Viszeral- und Transplantationschirurgie des Universitätsspitals Zürich.
Gibt es ein spezielles Beispiel für eine Empfehlung, die wahrscheinlich formuliert wird?
Puhan: Ein kleines praktisches Beispiel ist die Empfehlung für bezahltes Datenpersonal in allen Spitälern. Denn ein sehr wichtiger Aspekt bei der Messung von Operationsergebnissen ist die Qualität und Verlässlichkeit bei der Eingabe der Daten, damit überhaupt valide internationale Vergleiche angestellt werden können. Bisher jedoch werden Daten meist spitalintern ohne externe Kontrolle generiert.
Herr Clavien, wieso braucht es überhaupt internationale Standards, um das Outcome von Operationen in der Schweiz zu messen?
Clavien: Wenn man die Versorgung verbessern möchte, sollte man neben den so wichtigen landes­eigenen Daten auch internationale Daten herbeiziehen. Das ist grundlegend fürs Benchmarking, also die vergleichende Analyse, und für die Definition von Prozessen zur Qualitätsverbesserung. Wir müssen von allen verfügbaren Daten lernen. Dafür ist es essenziell, dass die Ergebnisse und wichtige Faktoren, die zu den Ergebnissen führten, standardisiert erfasst werden.
Wieso gab es solche Richtlinien bisher nicht? Und welche Folgen hatte das?
Clavien: Bisher konzentrierten sich einzelne Akteure auf bestimmte Aspekte der chirurgischen Versorgung und auf die Analyse von Operationsergebnissen in einzelnen Spitälern. Es gab noch keine Anstrengung, diese Silosicht zu verlassen. Die Folge ist, dass es bisher keine gute Datengrundlage gibt, um die Versorgung systematisch zu verbessern, zum Beispiel mittels vergleichender Analyse oder mithilfe einer systematischen Erfassung der Patientensicht auf das Operationsergebnis.
Wer durfte an der Konsensuskonferenz in Zürich mitdiskutieren?
Puhan: Wir haben im Vorfeld neun Expertengruppen gebildet, die basierend auf der wissenschaftlichen Literatur und ihrer Expertise Fragen zu verschiedenen Aspekten vorbereitet haben. Die Gruppen waren international und interdisziplinär zusammengesetzt. So gab es Chirurginnen, Internisten, Pflegefachleute, Ethikerinnen, Gesundheitsökonomen, Epidemiologinnen und Juristen.
Immer wieder kommt es nach Operationen zu Komplikationen. Internationale Standards sollen helfen, die Ergebnisse von chirurgischen Eingriffen zu messen und zu verbessern.

Operationen und Komplikationen in der Schweiz

Jährlich werden laut Bundesamt für Statistik bei rund 400 000 hospitalisierten Personen in der Schweiz chirurgische Eingriffe vorgenommen [1]. Dazu kommen laut Prof. Clavien und Prof. Puhan noch rund 800 000 ambulante Operationen pro Jahr. Je nach Operationsart erleiden in der Schweiz bis zu 20 Prozent der Patientinnen und Patienten nach operativen Eingriffen zum Beispiel eine postoperative Wundinfektion. Zu den Folgen gehören längere Spitalaufenthalte, höhere Kosten und im schlimmsten Fall der Tod [2]. Wie viele Komplikationen es insgesamt gibt und wie sie sich auf die Gesundheitskosten auswirken, wird in der Schweiz allerdings bisher nicht erfasst. Auch international mangelt es an Daten. Das soll sich ändern. Mitte Juni fand die Konsensuskonferenz Outcome4Medicine in Zürich statt, bei der Empfehlungen für internationale Standards zur Messung und Verbesserung von Operationsergebnissen diskutiert wurden. Weitere Informationen unter: www.outcome4medicine.ch.
Darüber hinaus haben auch Laien teilgenommen, die sogar die Empfehlungen formulieren werden, richtig?
Puhan: Wir haben eine Jury bestimmt, die nun nach der Konferenz unvoreingenommen Empfehlungen verfassen wird. Die Mitglieder der Jury sind keine zufällig ausgewählten Personen aus der Allgemeinbevölkerung, wie es im sogenannten dänischen Modell gemacht wird, sondern Personen mit grosser Erfahrung in bestimmten Bereichen, zum Beispiel Qualitätsverbesserung in der Hotellerie. Dieses sogenannte Danish-Zurich-Modell funktioniert sehr gut. Wir haben das schon zu früheren Zeitpunkten verwendet und würden es auf jeden Fall wieder verwenden.
Herr Clavien, welche Folgen wird diese Konferenz langfristig für die Arbeit von Schweizer Chirurginnen und Chirurgen haben?
Clavien: Das ist schwierig vorauszusehen, aber wir hoffen, dass wir einen Grundstein legen können, der von Patienten bis zu Chirurgen und Hausärzten alle motiviert, mit einem standardisierten, patientenorientierten Ansatz die Versorgung zu verbessern.