«Holen Sie sich Unterstützung»

Interview
Ausgabe
2022/42
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21112
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(42):18-21

Publiziert am 18.10.2022

COVID-19Mit Beginn der Pandemie waren klinische Ethikerinnen und Ethiker gefragt und gefordert wie kaum jemals zuvor. Die Ethikerin Caroline Brall erklärt, welche Themen stark diskutiert wurden – und welchen Rat sie für den kommenden COVID-Winter hat.
Caroline Brall, klinische Ethikerinnen und Ethiker aus dem ganzen Land haben sich seit März 2020 regelmässig per Videokonferenz über ethische Fragen rund um COVID-19 ausgetauscht. Worum ging es dabei?
Die Inhalte und die Art der Diskussion haben sich im Zeitverlauf verändert. Zuerst ging es um Beobachtungen, die klinische Ethikerinnen und Ethiker in der Praxis machten. Mit der Zeit kamen vertiefte ethische Diskussionen hinzu. Zu Beginn der Pandemie wurden die Umsetzungshinweise zur Triage der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW und der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin SGI diskutiert. Ausserdem waren die Herausforderungen in den Alters- und Pflegeheimen ein wichtiges Thema für die Ethiker und Ethikerinnen. Auch die Belastungssituationen in der Pflege und für die Ärzteschaft beschäftigten die Teilnehmenden immer wieder.
Welches Ziel hatten die nationalen Videokonferenzen?
Das war hauptsächlich ein Austauschgremium, um Erfahrungen und Beobachtungen von Ethikerinnen und Ethikern aus der klinischen Praxis zu teilen, Input für eigene Problemstellungen zu bekommen und ethische Fragestellungen zu diskutieren.
Sie haben 27 Videokonferenzen analysiert, die zwischen März 2020 und Januar 2022 stattfanden. In der Analyse, die mir vorliegt, heisst es, Mitarbeitende in Kliniken litten unter moral distress. Was heisst das?
Gesundheitsfachkräfte haben bei ihrer Arbeit oft eine klare moralische Vorstellung von ihrer Berufsrolle. Moral distress beschreibt das Leiden daran, dass man aufgrund institutioneller oder anderer externer Beschränkungen nicht gemäss dieser Vorstellung handeln kann. Ein Beispiel hierfür ist die Sicherstellung einer adäquaten medizinischen Versorgung bei begrenzten Ressourcen. Ein anderes Beispiel ist der Schutz vulnerabler Patienten durch geeignete Masken, die zu Anfang der Pandemie nicht überall ausreichend vorhanden waren. Weitere Herausforderungen waren veränderte Behandlungsroutinen, die erschwerte Planbarkeit und ganz allgemein die Betreuung von Risikopatienten. Solche Situationen können zu moralischen oder interprofessionellen Differenzen führen, auf persönlicher Ebene auch zu emotionalen und physischen Belastungen.
Jetzt haben Sie vor allem über die Pflege gesprochen.
Auch zum Beispiel Operateure hatten moral distress, vor allem wenn sie Operationen verschieben mussten und vor allem dann, wenn die Kriterien für diese Entscheidungen nicht von Beginn an ganz klar waren.
Wie haben Ethikerinnen und Ethiker von diesem Problemfeld erfahren?
Es wurden vielerorts Hotlines eingerichtet, über die sich belastete Fachkräfte melden konnten. Manche haben sich auch direkt an die Ethikerinnen und Ethiker gewandt.
Und wie haben sie geholfen?
An einigen Orten wurden Debriefing Sessions zu diesem Thema eingeführt, geleitet von Ethikerinnen und Ethikern. Bereits das Verbalisieren von moral distress war sehr positiv und entlastend für die Betroffenen, wie die Erfahrung gezeigt hat. Ausserdem wurden retrospektive Fallbesprechungen angeboten und es wurden gemeinsam Lösungsstrategien für künftige Situationen erarbeitet. Schliesslich halfen die klinischen Ethikerinnen und Ethiker auch dabei, Routinestrukturen für neue Abläufe zu finden, da sich dadurch unklare Situationen eher vermeiden lassen, wie zum Beispiel bei der Verschiebung von OPs.
In der Analyse heisst es, es habe im Januar 2021 einen grossen Bedarf an ethischer Unterstützung gegeben.
Seit Ende Dezember 2020 standen Impfungen zur Verfügung und die gesellschaftliche Diskussion zur Impfpflicht kam auf. Die Pandemie hielt seit fast einem Jahr an, alle waren erschöpft. Es herrschte der bereits erwähnte moral distress durch knappe Ressourcen unter Fachkräften. Da kam einiges zusammen, was die Anfragen an die Ethik verstärkt hat.
In den Diskussionen ging es auch um die Priorisierung geimpfter versus nicht geimpfter Patientinnen und Patienten. Was war da zu beobachten?
Von dieser Priorisierung wurde in den Videokonferenzen als drohender Gefahr berichtet, und es fand eine ethische Auseinandersetzung hiermit statt. Aber es wurde nicht berichtet, dass eine solche Priorisierung stattfand. Was hingegen beobachtet wurde, war ein gewisses Unverständnis gegenüber nicht geimpften Patientinnen und Patienten. Eine Priorisierung allein auf dem Kriterium des Impfstatus wäre ethisch nicht vertretbar und das wurde in den Videokonferenzen diskutiert. Das grundlegende Prinzip des Berufsethos ist, dass bedürftige Patientinnen und Patienten unabhängig von ihrer Persönlichkeit, ihrem Verhalten oder ihrer Moralität gleich behandelt werden müssen.
Die Impffrage haben Fachkräfte also wirklich nicht in ihre Überlegungen einbezogen?
Was tatsächlich in den Kliniken passiert ist, haben wir nicht analysiert. Wie erwähnt, wurde in den Videokonferenzen das Spannungsfeld zwischen geimpft und ungeimpft intensiv diskutiert. Dabei wurden unterschiedliche ethische Argumente und Positionen erörtert, aber es handelte sich letztlich nicht um die Beschreibung der tatsächlichen klinischen Praxis. Massgebend im medizinischen Alltag waren sicher die Umsetzungshinweise von SAMW und SGI, die festhalten, dass der Impfstatus per se kein Kriterium bei Triage-Entscheidungen ist.
Es gab Ihrer Beobachtung nach auch Druck auf nicht geimpftes Personal. Erklären Sie das bitte genauer.
Es wurde in den Videokonferenzen berichtet, dass im Herbst 2021 Unverständnis zwischen geimpftem und nicht geimpftem Personal zu beobachten war. Zum Beispiel weil Geimpfte Schichten von Nicht-Geimpften übernehmen mussten, beispielsweise bei der Behandlung oder Pflege von immunsupprimierten Patientinnen und Patienten.
Das Interesse an der klinischen Ethik ist laut Caroline Brall gestiegen.
© Nicolas Zonvi
Welche Position bezogen die Ethikerinnen und Ethiker dabei?
Sie haben auch über eine Impfpflicht beim Personal diskutiert. Dazu gab es verschiedene Stimmen. Im Endeffekt gab es in der Schweiz hierzu eine produktive Meinungsvielfalt. Letztlich hat man sich darauf geeinigt, zu einer moralischen Impfpflicht aufzurufen, zugleich aber keine rechtliche Impfpflicht zu empfehlen.
Ist der Impfstatus auch jetzt noch ein grosses Thema?
Unsere Analyse fokussierte sich auf den Zeitraum bis Januar 2022. Aber seitdem kommen ja auch Diskussionen darüber auf, wie gut die Impfung wirklich hilft. Die Meinungsvielfalt bleibt also bestehen.
Gibt es Fachrichtungen, die sich seit Beginn der Pandemie besonders für die Zusammenarbeit mit der Ethik interessierten? Etwa die Intensivmedizin?
Ja, das ist tatsächlich eine der Fachrichtungen, denn drohende Triage-Entscheidungen spielten für sie eine besonders grosse Rolle. Aber es gab auch sehr viele generelle Themen wie Teamprozesse und Teamkonflikte, die häufig und über alle Fachrichtungen hinweg vorkamen.
In den Videokonferenzen wurde auch über den Schutz vulnerabler Gruppen gesprochen. Welche waren das?
Das waren vor allem die Patientinnen und Patienten in Alters- und Pflegeheimen, aber auch bestimmte Bevölkerungsgruppen, die vielleicht aufgrund eines geringeren Bildungsgrads oder weniger Informationsquellen durch die Pandemie vulnerabel wurden. Auch Kinder oder alleinerziehende Eltern haben die Ethikerinnen und Ethiker als vulnerable Gruppen identifiziert, die durch die Pandemie besonders getroffen wurden. Die Ethik hat den Blick auf sie gelenkt, als sie noch nicht im öffentlichen Bewusstsein standen.
Wurden klinische Ethikerinnen und Ethiker während der Pandemie zu gefragten Gesprächspartnerinnen und -partnern des klinischen Personals?
Sie wurden sicher zu sehr gefragten Gesprächspartnern. Sie konnten definitiv bei der Reflexion und Argumentation helfen. In Lausanne, wo wir auch tätig sind, stiegen die Anfragen an die klinische Ethik seit Pandemiebeginn deutlich. Es kamen ausserdem viel mehr Anfragen zu Fortbildungen im Bereich der klinischen Ethik.
Ist die klinische Ethik also relevanter denn je?
Die Ethik ist seit über 2000 Jahren relevant. Ich denke aber, dass die aktuelle Disziplin der Medizinethik durch die Pandemie wirklich an Relevanz dazugewonnen hat. Von Anfang an waren medizinethische Themen im klinischen Alltag, in der Politik, in Zeitungen und heimischen Diskussionen allgegenwärtig. Die Ethik ist also sehr relevant geworden und seit der Pandemie stärker im Bewusstsein der Menschen.
Was macht die Ethik denn so relevant? Wie kann sie konkret helfen?
Die Ethik hilft bei der Reflexion und dem Dialog. Denn manchmal gibt es den Hang zum irrationalen Moralisieren. Die Ethik unterstützt dabei, nicht bloss ein Urteil auf Basis von Intuition zu fällen, sondern einen Perspektivwechsel vorzunehmen, um unterschiedliche Herangehensweisen zu beachten.
Konnten die Ethikerinnen und Ethiker auch für sich bestimmte Lehren aus der Pandemie ziehen?
Als positiv betrachten wir die Professionalisierung durch das nationale Austauschformat. Das wird sicher bestehen bleiben. Durch den Austausch in den Videokonferenzen ist auch deutlich geworden, dass es Aufgabe der klinischen Ethik ist, auf Themen hinzuweisen, die relevant in der Praxis sind, aber in der Öffentlichkeit noch wenig Beachtung finden, – und einen gewissen Handlungsbedarf einzufordern.
Welchen Rat haben Sie an die Ärzteschaft, der für den anstehenden COVID-Winter nützlich sein könnte?
Scheuen Sie sich nicht, sich einzugestehen, dass Unsicherheit bestehen kann, und zwar in Bezug auf Fragen ganz unterschiedlicher Natur. Holen Sie sich Unterstützung bei Ethikerinnen und Ethikern, wenn Sie sie brauchen und reflektieren Sie Ihre Arbeit und Erlebnisse gemeinsam im Team. So kann man mit Empathie und Wertebewusstsein die eigenen Teams noch besser führen.

Analyse von 27 Videokonferenzen

Dr. Caroline Brall analysierte gemeinsam mit den Ethikern Prof. Rouven Porz und Prof. Ralf Jox Protokolle der Videokonferenzen klinischer Ethikerinnen und Ethiker während der Pandemie. Ziel war der Austausch zu Beobachtungen von Ethikerinnen und Ethikern aus der klinischen Praxis und die Diskussion von ethischen Fragestellungen. Die Inhalte der Videokonferenzen bilden nicht repräsentativ die tatsächliche klinische Praxis ab. Die Videokonferenzen wurden protokolliert und an die Teilnehmenden versandt. Zwischen März 2020 und Januar 2022 fanden 28 Videokonferenzen, meist im monatlichen Rhythmus, statt. Für die Analyse waren 27 Protokolle verfügbar. Die Studie ist Teil des Forschungsprojekts «Ethics, pandemic preparedness and policy responses: novel viruses, novel challenges. The case of Covid-19 revisited (a pilot study)», das vom Käthe-Zingg-Schwichtenberg-Fonds der SAMW gefördert wird. Die Analyse lag der Schweizerischen Ärztezeitung zur Interviewvorbereitung vor und befindet sich derzeit in einem Einreichungsprozess bei einer Fachzeitschrift.
Dr. Caroline Brall (33) war zum Zeitpunkt der Studie Principal Investigator eines Forschungsprojekts zu ethischen Herausforderungen der COVID-19-Pandemie am Institut für Humanities in der Medizin am CHUV, Lausanne. Seit August ist sie Co-Geschäftsführerin des Ethics and Policy Lab am Multidisciplinary Center for Infectious Diseases an der Universität Bern.
© Nicolas Zonvi