Kostensenkung im Rahmen der ambulanten Wende: Kantone profitieren!

Kommentar
Ausgabe
2022/44
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21210
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(44):26-27

Publiziert am 01.11.2022

KostendämpfungViele Patientinnen und Patienten freuen sich, wenn Eingriffe ambulant erfolgen. Im Vergleich zu den Gesamtkosten des Gesundheitswesens fallen die Kosteneinsparungen jedoch eher bescheiden aus. Profitieren können allerdings die Kantone, die sich zu diesem Thema sonst lieber bedeckt halten; schliesslich sinkt ihr Anteil an der Finanzierung der stationären Leistungen.
Die Schweiz wird regelmässig als Schlusslicht bei der ambulanten Wende dargestellt. Damit ist gemeint, dass ein hoher Anteil der chirurgischen Eingriffe statt im Rahmen eines stationären Krankenhausaufenthalts auch ambulant durchgeführt werden könnte [1-3].
Philippe Eggimann
Dr. med., Vizepräsident der FMH sowie Departementsverantwortlicher Dienstleistungen und Berufsentwicklung
Im Jahr 2015 wurde die Entwicklung ambulanter Operationen im Zeitraum 2007 bis 2013 genauer analysiert. Dabei ergab sich, dass zum Anstieg dieser Eingriffsform insbesondere der damit einhergehende Komfort für die Patientinnen und Patienten, der Fortschritt bei den chirurgischen und anästhesiologischen Techniken sowie die entsprechende Infrastruktur und Organisation von Spitälern/Kliniken beigetragen hatten [3]. Erfolgen Eingriffe stationär, so werden sie über die DRG-Fallpauschalen abgerechnet (55 Prozent zulasten der Kantone, 45 Prozent zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung [OKP]). Erfolgen sie ambulant, ist dies kostengünstiger. In einem solchen Fall geht die Finanzierung jedoch vollständig zulasten der OKP. Da die Zahl der Eingriffe in vielen Bereichen stetig zunimmt, konnten die Autoren allerdings nicht schlussfolgern, welche finanziellen Auswirkungen die Umstellung auf ambulante Versorgung haben würde.
Eine 2016 von PwC veröffentlichte, oft zitierte Studie [4] weist für eine Gruppe von 13 gängigen chirurgischen Eingriffen ein Einsparungspotenzial von 251 Millionen Franken bis 2030 aus. Die Autoren extrapolieren ein Einsparungspotenzial von 1075 Millionen Franken, sollte die Gesamtquote der ambulanten chirurgischen Eingriffe bis zu diesem Zeitpunkt 60 bis 70 Prozent erreichen.
Um unter Verweis auf das jährlich erzielbare Einsparungspotenzial – angeblich ohne Kostenverlagerung auf die Krankenversicherer – den Trend hin zur ambulanten Behandlung zu fördern, haben mehrere Kantone daraufhin die Vergütung eines Teils der chirurgischen Eingriffe davon abhängig gemacht, dass diese ambulant durchgeführt werden (LU ab Juli 2017, mit einer erwarteten Einsparung von 3 Millionen Franken [5]; ZH ab Januar 2018: 9,4 Millionen Franken [5]; VS ab Januar 2018: 1,5 Millionen Franken [6]; JU ab Juli 2018: 0,5 Millionen Franken [7]).
Unter Bezugnahme auf eine vom BAG in Auftrag gegebene Analyse [8], die ein jährliches Verlagerungspotenzial von 33 ​000 gängigen chirurgischen Eingriffen [9] mit einer erwarteten Einsparung von rund 90 Millionen Franken hin zu einer ambulanten Versorgung sah, hat der Bundesrat die Vergütung ab Januar 2019 von deren ambulanter Durchführung abhängig gemacht [10]. In seinen Schlussfolgerungen stellte das Obsan fest: «Im Bereich der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) hätte diese Verlagerung kaum finanzielle Auswirkungen. Für die Krankenversicherer entstünden weder Einsparungen noch Mehrkosten. Die Kantone hingegen könnten mit einem Kostenrückgang von rund 90 Millionen Franken rechnen.»
Verteilung der Kosten nach Finanzierern, für neun Gruppen von Interventionen, Schweiz, 2015-2020. Quelle: BFS – Medizinische Statistik der Krankenhäuser, SASIS AG – Tarifpool.
© Obsan 2021

Begrenzt in die richtige Richtung

Ein Jahr nach der Einführung dieser eidgenössischen Liste von Eingriffen, die ambulant durchgeführt werden müssen, stellt ein Bericht des Obsan fest, dass die Kantone 34 Millionen Franken eingespart haben, während die Kosten für die OKP um 0,6 Millionen Franken gestiegen sind. Die Rate stationärer Behandlungen ging in den Kantonen, die bereits vergleichbare Bestimmungen eingeführt hatten, weniger stark zurück [11]. Die ebenfalls vom BAG in Auftrag gegebene Aufdatierung für das Jahr 2020 fällt recht enttäuschend aus [12]. Sie zeigt Gesamteinsparungen von 59 Millionen Franken seit 2019: 48 Millionen für die Kantone, 11 Millionen für die OKP. Die Autoren weisen darauf hin, dass die Zahlen für 2020 stark von der Aussetzung dringender Eingriffe in den ersten Wellen der Pandemie beeinflusst wurden und es schwierig ist, endgültige Schlussfolgerungen zu ziehen. Sie empfehlen, das Monitoring fortzuführen und auf andere Eingriffe auszuweiten, die ebenfalls ambulant durchgeführt werden können. Insgesamt sind diese Einsparungen jedoch sehr bescheiden: Wenn man sich vor Augen führt, dass im Jahr 2020 für das Gesundheitswesen insgesamt 83 ​311 Millionen Franken ausgegeben wurden, wovon 31 ​563 Millionen zulasten der OKP gingen, machen sie von diesem Betrag gerade einmal 1 Promille aus.

Positive und negative Auswirkungen

Im Hinblick auf eine globale Kostendämpfung im Gesundheitswesen ist die ambulante Wende vor allem für die Kantone positiv: Sie müssen eine geringere Anzahl stationärer Eingriffe mitfinanzieren. Bei den Prämien sind die Auswirkungen weniger klar. Zudem wird nicht berücksichtigt, dass die Patientinnen und Patienten ja einen ambulanten Selbstbehalt und den Anteil unterhalb der Franchise aus eigener Tasche finanzieren und somit einen grösseren Teil tragen müssen.
Die Analyse der Entwicklung der Kostenverteilung für diese Eingriffe zwischen 2015 und 2020 bestätigt, dass die Kantone am meisten von der Umstellung auf ambulante Versorgung profitieren [12].
Die Gesamtkosten für die stationären und ambulanten Eingriffe sanken um 34 Prozent – von 422 auf 278 Millionen Franken. Die Belastung der Kantone sank sogar um 60 Prozent (von 167 auf 66 Millionen Franken). Wie erwartet stiegen die Kosten der OKP im ambulanten Bereich um 26 Prozent (von 118 auf 158 Millionen Franken). Dieser Anstieg wird jedoch durch den Rückgang im stationären Bereich mehr als ausgeglichen, sodass die finanzielle Belastung insgesamt um 17 Prozent (von 255 auf 212 Millionen Franken) sinkt.

Gegen monistische Finanzierung?

Die von den Kantonen erzielten Einsparungen laden zu Fragen ein. Im Einklang mit anderen Vorstössen, die mehr Transparenz bei der Analyse der Gesundheitskosten fordern, verlangt Nationalrat Philippe Nantermod, Mitglied der SGK-N, vom Bundesrat Auskunft über das Ausmass der infolge der ambulanten Wende von den Kantonen erzielten Einsparungen und die Auswirkungen auf die OKP-Prämien [13].
Er verlangt zudem, dass der Bundesrat die mit Inkrafttreten der einheitlichen Finanzierung der stationären und ambulanten Leistungen möglichen Kosteneinsparungen abschätzt – eine Reform, die von den Tarifpartnern vorgeschlagen und vom Nationalrat angenommen wurde, aber von den Kantonen seit mehreren Jahren blockiert wird. Die Darlegung dieser Kostenverlagerung könnte vielleicht dazu beitragen, dass die Kantone ihren Widerstand aufgeben. Sie könnte auch eine Debatte über mögliche Auswirkungen auf die Finanzierung von Leistungen im öffentlichen Interesse und die Subventionierung von OKP-Prämien anstossen.
1 www.pwc.ch/de/publications/2016/ambulant_vor_stationaer_de_16_web_final.pdf
2 www.oecd-ilibrary.org/sites/de1f3576-fr/index.html?itemId=/content/component/de1f3576-fr
3 OBSAN Rapport 68 (2015) Virage ambulatoire, transfert ou expansion de l’offre de soins? (Publikation auf Französisch mit deutscher Zusammenfassung) www.obsan.admin.ch/sites/default/files/obsan_68_rapport.pdf
5 NZZ, 15. Juni 2017
6 Seize opérations en mode ambulatoire (Sechzehn ambulante Operationen) – Le Nouvelliste, 01.12.2017.
7 Seize opérations en mode ambulatoire (Sechzehn ambulante Operationen) – Le Quotidien Jurassien, 02.06.2018.
8 OBSAN Dossier 63 (2918), Le potentiel de transfert du stationnaire vers l’ambulatoire (Verlagerungspotenzial von stationär zu ambulant, Publikation auf Französisch mit deutscher Zusammenfassung) www.obsan.admin.ch/sites/default/files/obsan_dossier_63_1.pdf
9 Kniearthroskopie, Meniskektomie, Eingriffe an Tonsillen, Gebärmutterhals, Ausschabung, Untersuchung der Gebärmutter, Krampfadern, Inguinalhernie, Hämorrhoiden
10 Verordnung des EDI über Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (Krankenpflege-Leistungsverordnung, KLV, Änderung vom 7. Juni 2018) www.fedlex.admin.ch/eli/oc/2018/339/de
11 OBSAN Rapport 14 2020 – L’ambulatoire avant le stationnaire (Publikation auf Französisch mit deutscher Zusammenfassung) www.obsan.admin.ch/sites/default/files/obsan_14_2020_rapport_0.pdf
12 OBSAN Rapport 08 2021 – L’ambulatoire avant le stationnaire (Publikation auf Französisch mit deutscher Zusammenfassung) www.obsan.admin.ch/sites/default/files/2021-12/Obsan_08_2021_RAPPORT_0.pdf
13 www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20223968