Die Hoffnung leuchtet

Coverstory
Ausgabe
2022/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21343
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(5152):18-21

Publiziert am 21.12.2022

Jahresende Weihnachten ist das Fest der Hoffnung in schwierigen Zeiten. Auch in der Medizin gibt es viele Herausforderungen. Aktiv arbeiten Ärztinnen, Ärzte sowie andere Fachkräfte an Lösungen. Worauf sie hoffen – und ob sie zuversichtlich ins neue Jahr gehen.
Wer von Hoffnung spricht, hat oft den Glauben bereits verloren», schreibt Angelo Barrile, Präsident des Verbands Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte in seinem Text auf der folgenden Seite. «Am Ende dieses Jahres färbt sich die Hoffnung, die manchmal im Laufe der Tage schwindet, in hübsche Farben und leuchtet», schreibt hingegen Sophie Ley, Präsidentin des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner.
Der helle Kerzenschein symbolisiert die Zuversicht.
© D A V I D S O N L U N A / Unsplash
Wir haben sechs Personen um ihr Statement zum grossen Thema Hoffnung gebeten, entweder sehr persönlich gefärbt oder stark auf ihren Beruf bezogen. Die Aufgabe war: Nichts schönreden, gern auch Herausforderungen benennen, aber wenn es irgendwie geht, einen weihnachtlichen Hoffnungsschimmer durchscheinen lassen. Es ging.
Vier Ärztinnen und Ärzte, ein Medizinethiker und die Vertreterin des Pflegeverbands erzählen von kleinen und grossen Hoffnungen, von negativen Entwicklungen und der Notwendigkeit trotzdem – oder gerade deshalb – weiterzumachen. Übrigens: Auch Angelo Barrile hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sich die Arbeitsbedingungen für die Ärzteschaft verbessern können. Und Sophie Ley sieht nicht alles bloss rosarot, sondern macht auch auf die Herausforderungen aufmerksam, die ihren Berufsstand betreffen.

Hoffnung als Aufgabe

Während ich diese Zeilen schreibe, bin ich gerade auf der Rückreise aus Israel, eines der Länder, das fast schon symbolisch für Hoffnung stehen könnte. In Israel ist es unmöglich, der langen gemeinsamen Geschichte von Christentum, Islam und Judentum und deren Bedeutung für unser heutiges Weltbild auszuweichen. In dieser Geschichte liegen Hoffnung und Verzweiflung begründet, und lesen wir Nachrichten, obsiegt Letztere.
Dr. med. Yvonne Gilli ist Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin und Präsidentin der FMH.
Das liegt nicht nur daran, dass aufgrund von geopolitischen Auseinandersetzungen der Krieg näher zu uns gerückt ist. Es liegt auch daran, dass wir viel empfänglicher sind für negative Nachrichten als für positive. Wir verdanken diesen «Negativity Bias» unserem «Steinzeithirn», wie sich die Neurowissenschaftlerin Maren Urner in einem Interview [1] ausdrückte. Medien nutzen diese Eigenschaft für ihr Marketing und fokussieren auf negative Berichterstattungen. Verstärkt wird dieser Effekt durch die Informationsüberflutung, die wir mit den neuen digitalen Medien erfahren. Das zu reflektieren schenkt Hoffnung. Im modernen Journalismus hat diese Hoffnung einen Namen: «konstruktiver Journalismus» [2], was bedeutet, im Kontext von negativen Nachrichten auch positive Aspekte und Lösungsansätze zu beschreiben. Damit möchte ich überleiten zu einer Aufgabe, die wir in die Neugestaltung der Schweizerischen Ärztezeitung aufnehmen können. Es geht dabei nicht darum, die politische Mikroregulierung und den aufgeblähten Administrationsapparat schönzureden. Es geht darum, die eigene Perspektive kritisch zu reflektieren, mögliche positive Entwicklungen aufzuzeigen sowie Fragen zur eigenen Rolle bewusst zu stellen. In diesem Sinne schöpfe ich mit der «neuen» SÄZ Hoffnung, dass es dem Redaktionsteam und der FMH gelingt zu differenzieren, um Fakten von Meinungen und manipulativen Darlegungen zu unterscheiden. So gesehen, verstehe ich unter Hoffnung nicht eine positive Erwartung für die Zukunft, sondern eine Aufgabe, der zu stellen es sich lohnt, für die Standes- und Gesundheitspolitik wie auch für die Gesellschaft, ganz im Sinne des jüdischen Religionswissenschaftlers Ben-Chorin: «Es ist dir nicht gegeben, das Werk zu vollenden, aber du bist nicht davon befreit, es zu beginnen.» [3]

«Ich habe Hoffnung»

Wer von Hoffnung spricht, hat oft den Glauben bereits verloren. Die Hoffnung stirbt schliesslich zuletzt, hoffen kann man immer – zum Beispiel auf ein Wunder. Mir geht es glücklicherweise anders. Es gibt Dinge, die mir Hoffnung machen, die mich glauben lassen, dass sich in den nächsten Monaten und Jahren Ziele erreichen lassen, die vor nicht allzu langer Zeit unerreichbar schienen.
Angelo Barrile ist Präsident des Verbands Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte (vsao).
Konkret meine ich die Arbeitsbedingungen der Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte an Schweizer Spitälern und vor allem die bessere Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf. Zu meiner Zeit als Assistenzarzt war es noch üblich, 60, 70, 80 oder mehr Stunden pro Woche im Einsatz zu sein. Seit 2005 wären Arbeitszeiten von mehr als 50 Stunden pro Woche verboten. Tatsächlich sind sie aber immer noch eher die Regel als die Ausnahme. Der vsao fordert die 42-Stunden-plus-Woche, mit 42 Stunden Dienstleistung an Patientinnen und Patienten und vier Stunden strukturierter Weiterbildung. Dazu soll flächendeckend Teilzeitarbeit möglich sein. Nun scheint sich etwas zu bewegen. Verschiedene Kantone oder auch einzelne Spitäler arbeiten an der Umsetzung dieser Ziele. Unterstützt oder je nach Sichtweise erzwungen werden diese Bemühungen durch äussere Umstände. Die Bevölkerung wächst und wird älter. Es gibt einen Mangel an Fachkräften in der Pflege, auf den die Gesundheitsinstitutionen mit verbesserten Arbeitsbedingungen reagieren müssen. Die Generation Z der ab 1997 Geborenen kommt in den nächsten Jahren in den Spitälern an. Sie hat – so liest man es – noch stärker als die vorherige Generation der Millennials den Willen, eigene Bedürfnisse zu verfolgen, ist noch weniger bereit, alles dem Beruf und der Karriere unterzuordnen. Ebenso klar ist die Tendenz, dass der Arztberuf weiblicher wird. Das alles weckt in mir die Hoffnung, dass wir mit unseren Anliegen Rückenwind erhalten, der stärker wird. Wenn es uns gelingt, die Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf im Gesundheitswesen zu verbessern, schaffen wir einen Mehrwert an Lebensqualität und Gesundheit nicht nur für die Ärzteschaft, für Pflegende und andere mit dem Gesundheitswesen verbundenen Berufe, sondern auch für die Patientinnen und Patienten.

«Mehr Weisheit statt Information»

Ich erhoffe mir für das Jahr 2023 für uns alle etwas mehr Wille zur Weisheit und weniger Fokus auf reiner Informationsvermittlung. Mehr Weisheit, weniger Information. Wie meine ich das genau?
Prof. Dr. Rouven Porz ist Medizinethiker an der Insel Gruppe, Inselspital Bern.
© Monika Kugemann
Der – nicht ganz unkritisch rezipierte – Entomologe Edward O. Wilson soll als berühmtes Zitat gesagt haben: «We are drowning in information, while starving for wisdom.» Also, wir ertrinken in Informationen, während wir nach Weisheit hungern. Das fasst aktuell ganz gut meine Gefühlslage zusammen, wenn ich die Nachrichten über die Welt anschaue. Minütliche Berichte über den Angriffskrieg in der Ukraine im Live-Ticker, endlose Diskussionen über den Sinn und Unsinn von Katar als Austragungsort eines Sportereignisses, die sozialen Medien berichten unisono über die Proteste im Iran, ein Elternteil unserer Whatsapp-Gruppe der Schule schreibt unentwegt über Läuse und die Notwendigkeit von Haarwaschmitteln in der Schule unserer Tochter. Donald Trump will wieder kandidieren. Der Pflegemangel nimmt zu grosse Ausmasse an. Ich verliere den Überblick. Jeder Blick auf mein Handy füttert mich mit immer mehr Informationen. Aber was ist hier wichtig? Ich kann vieles verstehen, aber nur ganz wenig begreifen.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich würde gerne mehr wissen, mehr verstehen, ich möchte mitdenken können, aber die Komplexität übersteigt oft meine Fähigkeiten. Kann ich Kriege verstehen, ohne jemals eigene Erfahrungen mit Krieg gemacht zu haben? Kann ich Proteste in Kontexten verstehen, deren Kultur ich kaum kenne? Ich befürchte, nein. Trotzdem müssen wir irgendwie Stellung beziehen, uns positionieren, Solidarität zeigen. Ich will keinen Krieg und auch keine undemokratischen Staaten. Das ist schon mal relativ klar. Und etwas anders weiss ich hundertprozentig sicher. Mit dem Haarshampoo-Papa zeige ich keine Solidarität. Mit allen anderen Themen muss ich mir etwas mehr Zeit lassen. Das hoffe ich für uns alle: nicht immer so schnell urteilen. Mehr Weisheit, nicht nur Informationen.

«Wir kämpfen um Anerkennung»

Notfallmedizin für Erwachsene ist eine der spannendsten Fächer, die ich mir vorstellen kann. Sie ist so breit und so tief wie man selber im Fachwissen zu graben vermag. Notfallmedizin ist nie zu Ende. Sie ist wie eine Galaxie. Je weiter man eintaucht, desto mehr neue klinische Welten eröffnen sich. Sie ist herausfordernd, da man es in kurzer Zeit mit unterschiedlichsten Menschen zu tun hat, welche man nicht kennt, welche sich aber oft in extremen Lebenssituationen befinden, psychisch oder physisch.
Prof. Dr. med. Aris Exadaktylos ist Direktor des Universitären Notfallzentrums am Inselspital Bern.
Wir sind dabei für alle Menschen da, schwer oder leicht verletzt, schwer krank oder nur verunsichert, ob reich oder arm, unabhängig von Nationalität oder Ethnizität. Wir kümmern uns auch um all diejenigen, welche in unserem Gesundheitssystem gerne vergessen gehen. Wir sind Seismographen der Gesellschaft und nehmen soziale Veränderungen sehr früh war. Notfallmedizin ist das Bindeglied zwischen Rettungsdiensten, Hausärztinnen und -ärzten sowie anderen Fachrichtungen. Notfallstationen sind Fundamente, auf denen ein gesundes Spital steht, weil sie unparteiisch sind und rund um die Uhr zur Verfügung stehen, getragen von vielen motivierten Menschen.
Notfallmedizin ist interdisziplinär und interprofessionell und offen für alle, die gerne an der Front der Patientenversorgung im Spital arbeiten. Notfallmedizin ist international etabliert und zum Beispiel in den USA eine der beliebtesten Fachrichtungen.
Dennoch kämpfen wir seit vielen Jahren in der Schweiz um eine Anerkennung. Obwohl die Notfallstationen zum Alltag in der Schweizer Spitallandschaft gehören, stellt man die Existenzberechtigung der Notfallmedizin regelmässig in Frage. Der Kampf für einen FMH-Titel ist steinig, aber lohnend, weil wir wissen, dass wir einen einzigartigen Service bieten. Es ist ein Wissen darum, dass uns Notfallmedizinerinnen und -medizinern dies gelingen wird, begleitet von einem Hoffen, auch 2023 die richtigen Entscheidungen auf diesem Weg zu treffen, oder um es mit Reinhold Niebuhrs zeitlosen Worten auszudrücken: «Gott, gib uns die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die wir (noch) nicht ändern können, den Mut, Dinge zu ändern, die wir ändern können, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.» Und dies jeden Tag von Neuem.

«Ein Gespräch braucht Mut»

«Drecksau», «Lügner», «Kindermörder», «fahr zur Hölle», um nur einige wenige Ausdrücke zu nennen, die exponierte Personen in diesen Jahren der Pandemie immer wieder zu lesen bekamen. Ein anonymes Schreiben braucht keinen Mut, ein anständiges Gespräch schon.
Dr. med. Rudolf Hauri ist Präsident der Vereinigung der Kantonsärztinnen und -ärzte der Schweiz.
Grossen Eindruck hinterlassen solche Umgangsformen nicht. Da gibt es aber jene Töne, die belehrend alles besserwissend, faktenverdrehend und pseudowissenschaftlich argumentierend «Wahrheiten» verkünden. Mit nicht einfach zu durchschauenden Machenschaften soll Verunsicherung gestiftet, mit herben Drohungen eingeschüchtert werden. Diese Formen stimmen nachdenklich, denn sie ziehen sich durch unsere Gesellschaft, auch durch das Gesundheitswesen und mit eingeschlossen die Ärzteschaft. Leider machen sie nicht einmal vor der Instrumentalisierung Kranker und Hilfesuchender Halt.
Es wäre zu einfach, die Pandemie für diesen egoistischen Umgang verantwortlich zu machen. Entsprechende gesellschaftliche Tendenzen erleben wir seit einigen Jahren. Wir hören wiederholt von zunehmender Respektlosigkeit und Gewalt gegen das Gesundheitspersonal in Spitälern, Heimen, Rettungsdiensten und Praxen. Diese Arroganz und Rücksichtslosigkeit treten wohl im Gefolge von Krisensituationen einfach noch sichtbarer in Erscheinung. Während Respektlosigkeit und Gewalt selbstredend inakzeptabel sind, gehören Umbrüche und Wertewandel zur gesellschaftlichen Bewegung. Die anregenden Begegnungen mit Personen jeden Alters – Jugendliche speziell erwähnt –, die durchaus kritisch, aber eben auch selbstkritisch und unvoreingenommenen hinstehen, machen Freude. Sie haben in den bisher drei Jahren der SARS-CoV-2-Pandemie wohltuend klare und eindrückliche Kontraste zu gemalten Schreckensszenarien und vor allem aber zu den stark gehäuften Drohungen gesetzt.
Neben den allgemeinen Herausforderungen trüben zwar weiterhin Wolken des Klimawandels, zwischenstaatlicher Konflikte und neu der Versorgungsmängel den unbeschwerten Blick in die kommenden Jahre. Hoffnung und Zuversicht geben indessen die deutlichen Anzeichen des Abflauens der Pandemie und der in dieser virusdominierten Zeit gekeimte jugendliche Ansatz zum Miteinander von Politik, Behörden, Wissenschaft und Bevölkerung.

«Die Hoffnung leuchtet»

Am Ende dieses Jahres färbt sich die Hoffnung, die manchmal im Laufe der Tage schwindet, in hübsche Farben und leuchtet. Dies gilt insbesondere für die Berufsgruppe der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner in der Schweiz, die das Jahr 2022 mit schönen Aussichten beendet.
Sophie Ley ist Präsidentin des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner.
Denn am 28. November, auf den Tag genau ein Jahr nach dem Sieg der Pflegeinitiative, hat der Nationalrat die Umsetzung der Ausbildungsoffensive und die Anerkennung des eigenen Kompetenzbereichs für die Pflegefachpersonen gutgeheissen. Dies ist ein starkes Zeichen, das grosse Veränderungen für den Pflegeberuf ankündigt.
Das kommende Jahr 2023 zeichnet sich somit als ein Jahr der Möglichkeiten ab, mit Verbesserungen der Bedingungen für die Berufsausübung, einer an den Pflegebedarf angepassten Personalausstattung und einer angemessenen Finanzierung der Leistungen. Konkret hängt all dies von einer Planung von Sofortmassnahmen ab, die für die Bevölkerung und das Pflegepersonal relevant sind.
Wir dürfen nicht vergessen, dass die humanistische Bedeutung des Pflegeberufs im Zentrum der täglichen Arbeit mit den Patientinnen und Patienten steht. Sie muss in jeder Handlung und in jedem Bereich des Pflegeberufs kultiviert werden, wenn die Fachkräfte ihre Arbeit nicht aufgeben sollen – die Qualität und die Sicherheit der Pflege werden davon profitieren. Die Zukunft wird von erfolgreichen Pflegemodellen geprägt sein, die die hohen Kompetenzen des Pflegepersonals nutzen, um diejenigen Leistungen zu erbringen, die den Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechen.
Eine starke Pflege, die ihre Attraktivität in allen Bereichen des Gesundheitswesens steigert, ist die Hoffnung eines ganzen Berufsstandes – ich wünsche mir, dass sie im Jahr 2023 Realität wird.