Auf den Punkt

Doch kein Herzschmerz?

News
Ausgabe
2022/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21355
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(5152):8-9

Publiziert am 21.12.2022

Patientenanstieg Sie sind eigentlich gesund, gehen aber zum Kardiologen: Immer mehr junge Personen lassen sich am Herzen untersuchen. Müssen Grundversorgende deshalb strenger triagieren, braucht es mehr kardiologische Praxen? Wir haben mit Christophe Wyss über die Unsicherheiten junger Menschen und ihre Auswirkungen auf das Gesundheitssystem gesprochen.
Christophe Wyss, ein Bekannter von mir, 40 Jahre alt, sportlich und gesund, ging in diesem Jahr zum Hausarzt, weil er ein Ziehen im Brustbereich spürte. Der Arzt konnte ihn nicht beruhigen und verwies ihn zum Kardiologen. Der stellte einen Normalbefund aus. Mein Bekannter ist jetzt erleichtert. Ist das ein typischer Fall, wie Sie ihn öfter in Ihrer Praxis erleben?
Ganz klar: ja. Das beschreibt einen Trend. Der Hausarzt kommt zunehmend unter Druck vonseiten des Patienten oder der Patientin und kann nur verlieren, wenn er die Person nicht zum Spezialisten schickt. Die Zuweisungspraxis hat sich definitiv verändert.
Die junge Generation macht sich mehr Gedanken über ihre Gesundheit.
© DESIGNECOLOGIST / Ubsplash
Es kommen vermehrt noch jüngere Personen in Ihre Praxis, nämlich solche unter 34 Jahren. Haben sie typische Beschwerden?
Es handelt sich häufig um Palpitationen und thorakale Beschwerden, die unspezifisch sind und hinter denen kardiologisch natürlich etwas stecken könnte. In solchen Fällen braucht es eine Anamnese und oft auch Zusatzuntersuchungen.
Ist es bei den Jüngeren eher die Regel, dass Sie ihnen bestätigen, alles ist ok?
Ja.
Im Beitrag «Normalität beweisen?» auf Seite 28 dieser Ausgabe schreiben Sie als Co-Autor über die Gründe für den Anstieg der Patientenzahl. Dort heisst es auch, ein verändertes Gesundheitsbewusstsein und die Erwartungshaltung der Patientinnen und Patienten führen zur steigenden Zahl der Konsultationen. Was genau meinen Sie damit?
Damit meine ich das Verhältnis, das viele Menschen heute zu ihrer Gesundheit haben. Sie empfinden sie nicht als Geschenk, sondern als ein Recht, auf das sie Anspruch haben. Es gilt als normal, gesund zu sein, selbst im hohen Alter.
Ist der Anstieg der jungen Patientengruppen erst seit der Pandemie zu bemerken oder war das schon davor so?
Der Trend hat sich in der Pandemie akzentuiert, zum Beispiel aufgrund der Furcht vor einer Myokarditis als seltene Impfnebenwirkung. Aber er bestand vorher schon.
Ist er bedenklich oder hat er auch positive Seiten?
Ich denke, dass diese Generation sich ernsthaft Gedanken über ihre Gesundheit macht. Das ist sicher zu begrüssen. Denn wenn sich ein 30-Jähriger Sorgen über einen Herzinfarkt macht, wir mit ihm über Cholesterin und Blutdruck reden und er das annimmt, dann wird sich das langfristig auszahlen.
Sollten die Hausärztinnen und Hausärzte dennoch strenger sein und nicht so viele Verdachtsfälle in kardiologische Praxen schicken?
Nein, das wäre nicht zeitgemäss und würde weder der Anspruchshaltung der Bevölkerung entsprechen noch der Anspruchshaltung der Ärztinnen und Ärzte in qualitativ sinnvolle Versorgung. Die grosse Stärke der Grundversorgenden ist es, ihre langjährigen Patientinnen und Patienten psychologisch so abzuholen, dass es ihnen entspricht. Wenn der Hausarzt aber eine Erstkonsultation hat, dann hat er oft keine Chance, die Person innerhalb einer limitierten Konsultation davon zu überzeugen, dass mit dem Herz alles in Ordnung ist. Denn er kennt diesen Menschen nicht und weiss nicht, was er kommunikativ braucht.
Die Anzahl der kardiologischen Patientinnen und Patienten wächst nicht erst seit der Pandemie. Braucht es künftig mehr Kardiologinnen und Kardiologen?
Grundsätzlich ja, das ist aber regional unterschiedlich. Aufgrund der demografischen und gesellschaftlichen Entwicklung sind die kardiovaskulären Erkrankungen im Wachstum. Während der Pandemie war die Zahl der Leistungserbringer trotz des Patientenwachstums gleichbleibend. Durch Mehrarbeit wurde das kompensiert. So etwas kann man einem Versorgungssystem kurzfristig auferlegen. Doch mittel- bis langfristig steigen die Leute wegen Überlastung aus und es kommt zum Fachkräftemangel.
Ich möchte zum Schluss bemerken, dass ich bei der Beantwortung der Fragen nur meinen persönlichen Blickwinkel zeigen konnte. Zwar sehe ich in meinem Berufsalltag die Bereiche Spital und Praxis, aber es zählen bei diesem Thema letztlich die Zahlen und Fakten, die weit darüber hinaus gehen.
Prof. Dr. med. Christophe Wyss
Facharzt für Kardiologie und Präsident Tarifkommission, Schweizerische Gesellschaft für Kardiologie
Und die sehen unsere Leserinnen und Leser im Beitrag «Normalität beweisen?» auf Seite 28.